Das europaeische Festland. Eindringen der Griechen, Thraker und Illyrier

[804] 525. Während in Kreta und auch auf den Kykladen die Kultur ständig fortschritt, ist das europaeische Festland, wenn es auch an einer Fortentwicklung wie in der Technik der Keramik, so im Hausbau und der Anlage und Befestigung der Ortschaften nicht ganz fehlt, doch in allem wesentlichen auf einer primitiven, in der Hauptsache durchaus steinzeitlichen Stufe stehen geblieben (vgl. § 509). Aber an großen Bewegungen hat es auch hier nicht gefehlt; in diese Zeit, die zweite Hälfte des dritten und die erste des zweiten Jahrtausends, muß das Eindringen der indogermanischen Stämme in die Balkanhalbinsel gesetzt werden. Der Natur der Sache nach müssen sie von Norden her, aus dem Donaugebiet, eingewandert sein. Wenn sie in drei recht verschiedenartige Volksgruppen zerfallen, Griechen, Thraker und Illyrier-zwischen ihnen steht möglicherweise noch eine vierte Gruppe, die epirotischen Stämme –, so ist in deren Lagerung noch eine wiederholte Schiebung erkennbar (vgl. § 564). Zuerst sind die Griechen gekommen und haben die ältere kleinasiatische Bevölkerung [804] des Festlandes (§ 506) unterworfen oder verjagt. Auf sie sind die Thraker gefolgt, welche die Griechen in die südliche Halbinsel gedrängt haben, die wir nach ihnen benennen. Die Thraker haben den Rumpf der Balkanhalbinsel bis ans Adriatische Meer und an den Olymp besetzt, ja wenn auf die Sagen von Thrakern in Daulis und in Eleusis Verlaß ist, sind einzelne thrakische Stämme noch weiter in den Süden vorgedrungen. Dann ist, wahrscheinlich von Nordwesten her, von der ungarischen Tiefebene aus, ein ganz anderes indogermanisches Volk, die Illyrier, vorgedrungen und hat die Thrakerin dem Gebirgslande des Westens verdrängt oder unterjocht. Diese letzte Invasion fällt vermutlich ins dreizehnte Jahrhundert und hat den Anstoß gegeben einerseits zu dem Vordringen der thrakischen Stämme, der Phryger und Myser, nach Kleinasien und weiter zu dem Fall des Chetiterreichs und der Invasion Syriens durch die Philister und ihre Verwandten (§ 473), andrerseits zu der Verdrängung der Griechen aus Epirus und dem Einbruch der nordwestgriechischen (dorischen) Stämme in das Gebiet der älteren (achaeischen und ionischen) Völkerschaften.


Die Erkenntnis der hier behandelten Vorgänge ist ganz wesentlich gefördert durch den Aufsatz von PATSCH, Thrakische Spuren an der Adria, Jahreshefte des österr. arch. Inst. X 1907, 169ff., der aus zahlreichen Namen den Nachweis führt, daß in Illyrien eine thrakische Bevölkerung den Illyriern vorangegangen ist, und dabei auch auf die Βρῦγοι in Illyrien (neben den Taulantiern) hinweist (Strabo VII 7, 8. 9. Scynm. 434. Appian civ. II 39. Apoll. Rhod. IV 330. 470 mit den schol.). Vgl. auch § 564. – Auf die Ergebnisse, die sich aus der Überlieferung und den Denkmälern über die Verteilung der älteren griechischen Stämme gewinnen lassen, kann erst im nächsten Bande eingegangen werden.


526. Wir können nicht erwarten, über diese großen Völkerbewegungen durch die Funde aus der Urzeit irgend welche Aufschlüsse zu gewinnen. Ob die Bewohner der ältesten Ansiedlungen in Tiryns, Mykene und Argos oder die der kreisrunden und der ovalen und der dann folgenden rechteckigen Häuser von Orchomenos (§ 509) Griechen oder Nichtgriechen gewesen sind, ja selbst ob in diesem Wechsel der Schichten ein Wechsel der Bevölkerung oder nur ein[805] Fortschreiten der Kultur innerhalb desselben Stammes vorliegt, ob weiter z.B. eine bestimmte unscheinbare, aber technisch ziemlich entwickelte Tonware-monochrome, auf der Scheibe gedrehte Gefäße von grauem Ton und metallischer Form-die in Ochomenos besonders stark vertreten, aber weithin über Mittelgriechenland und den Peloponnes verbreitet ist und auch auf den Inseln vielfach vorkommt, wirklich mit Recht den Minyern von Orchomenos zugeschrieben wird, darüber sagen uns die Ausgrabungen nichts; und ebensowenig kann die Ausbreitung einer homogenen Kultur über weite Gebiete oder die Beziehungen, die in den Bestattungsgebräuchen und der Grabanlage, der Form und Ornamentik der Gefäße zwischen der Welt des Aegaeischen Meeres und den alten Ansiedlungen und Grabstätten in Thrakien und Illyrien, dem Donaugebiet und Südrußland erkennbar sind, über die ethnographischen Verhältnisse etwas lehren. Das einzige, was wir erkennen können, ist, daß ein selbständiges Leben, eine einheimische Fortentwicklung der Kultur über ganz primitive Anfänge hinaus auf dem griechischen Festlande in der ganzen älteren Zeit nicht stattgefunden hat, sondern diese Gebiete kulturell völlig von der Welt des Meeres, den Kykladen und Kreta, abhängig gewesen sind, und bis tief ins zweite Jahrtausend hinein lediglich von dem zehren, was ihnen von hier aus gebracht wird. In dieser Zeit aber haben sicher längst griechische Stämme der älteren (achaeischen) Schicht in diesen Gebieten gesessen. Denn spätestens etwa vom fünfzehnten Jahrhundert an können wir ein Vordringen der Griechen über das Meer nachweisen; auf dem Festlande, auch im Peloponnes, müssen sie schon viel früher die Herren gewesen sein.


Über die »minysche« Tonware s. jetzt die eingehende Sammlung und Bearbeitung der Funde bei WACE u. THOMPSON, Prehistoric Thessaly, speziell p. 21. 226. 235ff. 251ff.


527. Ein Mittel, das erste Auftreten der Griechen in dem Lande, das wir nach ihnen benennen, chronologisch positiv festzulegen, besitzen wir nicht. Wohl aber gibt uns [806] einigen Anhalt, daß sie zwar sehr viel von Wanderungen und Schiebungen innerhalb dieses Gebiets zu berichten wissen, dagegen nichts von einer Einwanderung in dasselbe. Vielmehr betrachten sie sich hier durchaus als von der Urzeit her heimisch, wenn sie auch von nichtgriechischen Stämmen, Lelegern und Karern, die sich in einzelnen Gebieten noch länger behauptet hatten, eine dunkle Kunde bewahrt haben (§ 506). Aber diejenigen griechischen Stämme, welche von den späteren Wanderungen nicht betroffen sind, sind allgemein als Autochthonen anerkannt und rühmen sich ihres unauflöslichen Verwachsenseins mit dem Heimatboden, das seit der Entstehung der ältesten Menschen nie gestört worden sei, so vor allem die Athener und die Arkader, obwohl ihre Vorfahren doch zweifellos einmal aus weiter Ferne gekommen sein müssen. Alle Ahnen des Volks, seine Götter und seine Heroen haben in dem Lande selbst gelebt und gewirkt. An der Tatsache, daß das griechische Volk von einer Einwanderung seiner Vorfahren, die doch durch seine Sprache unumstößlich erwiesen wird, nichts mehr weiß, dürfen uns die späteren Kombinationen über die Pelasger (§ 507) so wenig irre machen, wie die Verknüpfung einzelner Heroen mit der Fremde, des Pelops mit Kleinasien, des Danaos mit Aegypten. Ganz abgesehen davon, daß die Herkunft der Griechen am allerwenigsten in dieser Richtung zu suchen ist, sind das sekundäre Weiterbildungen der Sagen, deren Entstehung wir noch genau er kennen können. Ebenso geht die dominierende Stellung, welche Thessalien in den griechischen Traditionen einnimmt, auf spätere geschichtliche Ereignisse zurück, vor allem darauf, daß das für die Gestaltung der Überlieferung maßgebend gewordene Epos bei den aus Thessalien stammenden Ansiedlern im nordwestlichen Kleinasien, in Aeolis, ausgebildet worden ist. Wenn also bei den Griechen, anders als z.B. bei den Israeliten in Palaestina, jede Kunde von der Einwanderung ihrer Vorfahren in ihre späteren Wohnsitze und von den damit verbundenen Kämpfen verloren ist, während sie sehr wohl wissen, daß sie nach den Kykladen, nach Kreta, [807] nach Kleinasien als Eroberer gekommen sind, und daß vollends die Dorier im Peloponnes spätere Eindringlinge sind, ja diese stolz sind, hier nicht Autochthonen zu sein, sondern unter dem Schutz der Götter das Land erobert zu haben, so folgt daraus, daß wir die erste Einwanderung in recht frühe Zeit zu setzen haben; unter das Jahr 2000 v. Chr. wird man mit ihr nicht hinabgehen dürfen, vielleicht aber noch um einige Jahrhunderte weiter hinauf. Auch die Indizien, die wir sonst für die Ausbreitung der Indogermanen besitzen, führen darauf hin, daß diese etwa seit 2500 v. Chr. begonnen hat (§ 551). Nun mag von da an noch geraume Zeit vergangen sein, bis die Griechen nach ihren späteren Wohnsitzen, zunächst in Mittelgriechenland und dann im Peloponnes, gelangt sind. Immerhin werden wir es als das wahrscheinlichste betrachten dürfen, daß schon in der Zeit, als noch die steinzeitliche Kultur auf der Halbinsel herrschte, Griechen in dieselbe gekommen sind; und sowohl die Bewohner von Orchomenos in der Zeit, als hier eine Ortschaft mit rechteckigen Häusern angelegt wurde, wie die von Mykene, welche Kamaresvasen von Kreta bezogen, werden bereits Griechen gewesen sein.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 804-809.
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