Religion und Priesterschaft der Arier

[914] 582. Wie bei allen Völkern, die zu geistiger Selbständigkeit gelangt sind, offenbart und entwickelt sich auch bei den Ariern die Eigenart ihres Geistes vor allem auf religiösem Gebiet; denn die Religion ist die allbeherrschende Macht des geistigen Lebens, in der jeder neue Gedanke, jeder Wandel der Vorstellungen und Empfindungen seinen Ausdruck sucht und sich zu neuen religiösen Gestalten verdichtet. So ist denn auch die Religion dasjenige Gebiet der arischen Entwicklung, das wir am besten erkennen und in weitem Umfang rekonstruieren können. Daß nicht nur die Überlieferung weit mehr Götter kennen lehrt, als bei den Indogermanen, sondern auch das Pantheon selbst sich wesentlich vermehrt hat, ist natürlich. Primitiven Stämmen, die weite Gebiete durchschweifen, genügen wenige Gottheiten: so verehren die Massageten von allen Göttern nur den Sonnengott, dem sie Pferdeopfern. Bei den skolotischen Skythen, die schon weiter fortgeschritten sind, ist die Hauptgottheit Tabiti, die Göttin des Herdfeuers und Königin des gesamten Volks. Neben ihr steht der Himmelsgott Papaios, der Ahn der Könige (Herod. IV 127), die Erdgöttin Api, eine Himmelsgöttin (Urania Aphrodite) Argimpasa, zwei mit Apollo und Herakles identifizierte Götter, und ein Kriegsgott, der in Gestalt eines eisernen Säbels auf einem gewaltigen Unterbau von Reisigbündeln thront und alljährlich reiche Opfer von Schafen und Pferden erhält; auch von den Gefangenen wird ihm je der hundertste Mann geopfert und sein Blut, mit Wein gemischt, auf das Reisig gegossen. Außerdem verehren die Skythen einen Meergott Thagimasadas. Daneben kennen natürlich auch diese Völker die Wesen der Geisterwelt und [914] mannigfachen Zauber. Mit der Entstehung seßhafter Kultur mehren sich die Beziehungen zu der übersinnlichen Welt und nehmen festere Gestalt an; die Bedürfnisse nach Schutz und göttlichem Segen wie nach Abwehr feindlich gesinnter Mächte werden weit mannigfaltiger und zugleich die Mittel reicher; für jede Situation des Lebens gibt es besondere Gottheiten, die man anruft und gnädig stimmt. Die gleiche Entwicklung haben wir auch bei den Aegyptern und bei den seßhaften Semiten kennen gelernt, und sie tritt ebenso z.B. bei den Griechen ein. Auch darin stimmen diese Entwicklungen mit der arischen überein, daß auch in dieser Gottheiten und Dämonen vielfach in Tiergestalt, namentlich als Rinder und Rosse (§ 580), aber auch als Schlangen gedacht werden. Dagegen bildet einen ganz wesentlichen Unterschied, daß, während in der aegyptischen und den semitischen Religionen (und ebenso in Kleinasien und auch in Griechenland) das lokale Element dominierend hervortritt, die Gottheit, die an einer bestimmten Stätte sitzt und von hier aus wirkt, davon in der arischen Religion gar nichts zu finden ist: hier hat sich vielmehr die indogermanische Vorstellung der Universalität der göttlichen Wirkung, die daher nicht an eine begrenzte Örtlichkeit gebunden sein kann, in voller Stärke erhalten. Die Götter bewegen sich durch die ganze Welt, Himmel, Luft und Erde, kommen herbei, wo man sie ruft, und wirken, wo es sie gelüstet. Damit hängt es wohl auch zusammen, daß bei ihnen Kräuter und Baumzweige zwar als zauberkräftige Mittel vielfach verwendet werden und daß man auch in der Vegetation das Wirken einer göttlichen Macht erkennt, daß aber von Baumkultus bei ihnen kaum eine Spur zu finden ist. Dem Baum fehlt eben mit der Bewegung auch die Möglichkeit universeller Wirkung; das Tier ist darin weit freier, und überdies erscheint Indra nicht in einem bestimmten Stier, die Asvins nicht in bestimmten Pferden nach Art der aegyptischen und semitischen Götter, sondern sie haben im Himmel ihren Wohnsitz, und nur ihre äußere Erscheinung ist der der irdischen Tiere analog. Von einem eigentlichen Tierkultus, wie bei den Aegyptern [915] und den syrischen Semiten, kann man daher bei den arischen Völkern nicht reden.


Tiergötter der vedischen Zeit: OLDENBERG, Rel. des Veda 68ff.; Pflanzen und Bäume S. 255ff. Spuren finden sich auch bei den Iraniern. Das im Text hervorgehobene, für die Beurteilung der arischen Religion im Unterschied von anderen ganz wesentliche Moment ist meines Erachtens dabei mit Unrecht außer acht gelassen. – Religion der Massageten: Herod. I 216; der Skythen IV 59ff., vgl. 127.


583. Von tiefgreifender Bedeutung ist nun weiter, daß sich bei den Ariern ein vollentwickelter berufsmäßiger Priesterstand gebildet hat. Erwachsen ist er, wie bei den Semiten aus den Kâhins (§ 351 u. A.), so auch hier aus den Zauberern (brahman = flamen, § 558) der indogermanischen Zeit, die die Sprüche und Riten kennen, mit denen man Geister und Götter zwingen kann; und dieser Charakter ist ihnen immer geblieben. Der Zauberspruch (mantra) und die zugehörigen, immer umfangreicher entwickelten Zeremonien, die nur sie zu vollziehen verstehen, sind die Mittel, über die sie verfügen, und durch die sie reichen Lohn und eine gesicherte Lebensstellung gewinnen. Unermüdlich verfolgen sie alle Konkurrenz; ein Opfer, das ohne ihre Assistenz vollzogen wird, kann keine Wirkung haben und dem geizigen Hausvater nur schaden; und jedes Unternehmen verlangt, damit es zum Ziele führe, ihre Mitwirkung und den Segen, den sie zu spenden vermögen. Sie haben es erreicht, daß ihre Ansprüche allgemein anerkannt worden sind, daß sie als selbständiger Stand, mit dem Anspruch, der erste zu sein, den adligen Kriegern zur Seite treten und kein Häuptling ohne ihre Hilfe existieren kann. Gleichzeitig wächst der Umfang ihres »Wissens« ständig an; und damit entsteht zugleich eine Gliederung des Standes. Von den zahlreichen Brahmanenklassen, in die die indischen Priester schon zur Zeit der vedischen Hymnen zerfielen, gehören mindestens zwei schon der arischen Zeit an. Die eine ist die der »Feuerzünder« (ind. atharvan, iran. athravan, griech. πύραιϑος), der bei den Indern gewöhnlich als Zauberpriester (Brahman) bezeichnet wird, während in Westiran der Stammname Magier an ihre Stelle [916] getreten ist, wie bei den Israeliten der Lewitenname zeitweilig den der Kohens verdrängt hat. Er entzündet am Platz der heiligen Handlung das lodernde Feuer, das die Unholde vertreibt, die Götter herbeiruft, die Gaben und die Opfernden reinigt, und in dem später auch die Opfer verbrannt werden-die zoroastrische Religion kennt keine Brandopfer, da sie das heilige Feuer verunreinigen würden, und auch bei den Indern scheint es erst allmählich aufgekommen zu sein. Neben ihm steht der »Rufer« (ind. hôtar, iran. zaotar), der die Opferspende ausgießt und dabei die Götter anruft, nicht nur mit festgesetzten rituellen Formeln, sondern auch mit frei komponierten Gesängen (gâthâ), aus denen die erhaltenen religiösen Hymnen hervorgegangen sind. – Mit dieser Ausgestaltung der äußeren Stellung ist aber zugleich ein tiefgreifender innerer Wandel verbunden: die arischen Priester sind in der Tat viel mehr als die alten Zauberer, soviel allezeit von deren Wesen an ihnen haften geblieben ist. Sie sind auch für das geistige Leben der führende Stand geworden. Mochte es zunächst auch nicht selten eine sehr materielle Seite haben und wesentlich zur Festigung der Stellung des Priesterstandes beitragen, wenn die Gewalten, deren Wirkung man empfand und sichern wollte, zu festen Gestalten mit Eigennamen und Attributen ausgestaltet wurden, so liegt darin zugleich doch eine Steigerung nicht nur des religiösen Empfindens, sondern der geistigen Tätigkeit des Menschen überhaupt: nur auf diesem Wege kann er versuchen, die ihn umgebende Welt und die in ihr wirksamen Mächte zu erfassen und sich geistig zu eigen zu machen. Eben darin besteht die große geschichtliche Bedeutung der arischen Priester, daß sie nicht bei dem Überkommenen stehen geblieben sind, sondern es ständig weitergebildet und dadurch schließlich von Grund aus umgeschaffen haben. Die Entwicklung vollzieht sich allmählich, nicht in schroffem Bruch mit der Überlieferung-den wagt erst Zoroaster –, sondern in Anknüpfung an das Überkommene; aber ständig wird dies erweitert und vertieft. Mochten auch die Wurzeln in den volkstümlichen Anschauungen [917] liegen, so ist doch kein Zweifel, daß die Ausgestaltung des arischen Pantheons, die Weiterbildung und Vertiefung der dominierenden Ideen wesentlich das Werk der arischen Priesterschaft ist, wie uns das in der Fortsetzung dieser Entwicklung in den vedischen Hymnen deutlich entgegentritt. Daneben gehen freilich fortwährend die seltsamsten Spielereien einher, die oft genug, wenn sie sich zu dauernden Bestandteilen der Überlieferung verdichten, auf die wunderlichsten Abwege geführt haben. Das ist eben die Eigenart wie aller geistigen Entwicklung, so ganz besonders der von einem geistlichen Stande geleiteten; aber über diesen Schattenseiten ist nicht zu vergessen, daß sowohl die Lehre Zoroasters wie die großen indischen Religionen aus diesem Boden erwachsen sind.


Über Zauberfeuer und Opferfeuer OLDENBERG, Rel. des Veda 336ff. Über die indische Priesterschaft LUDWIG, Rigveda III (§ 580 A.). OLDENBERG, Rel. des Veda 372ff.


584. Auch alles sonstige geistige Wissen ist Besitz der Priester; sie sind die Ärzte und die Kalendermacher, die den Lauf des »Messers«, des Mondes, beobachten und mit Opfern begleiten und aus den Sternen die rechte Zeit erspähen. Das Wesentliche aber ist immer die zwingende Kraft des Opfers, der Formel und des Gebetshymnus über alle in der Welt wirkenden Mächte, seien sie nun Götter oder Dämonen und böse Geister. So kommt es, daß im Kultus der Priesterschaft zwei Gottheiten in den Vordergrund treten, die unmittelbar aus den Kulthandlungen erwachsen sind: der Gott des Feuers Agni und der Gott des Opfertrunks Soma (§ 576). Das Feuer, vor allem das Herdfeuer, mögen schon die Indogermanen verehrt haben (§ 558); bei den Ariern ist es dagegen speziell und ausschließlich das Feuer, das durch Reiben der Hölzer am Opferplatz entzündet wird. Es wird immer neu geboren und stirbt immer von neuem; und doch ist es immer derselbe lebendige Gott, der in ihm sichtbar wird, zu den Menschen kommt, die Götter herbeiführt, alle Dinge erfaßt und läutert. Gleichartig der Macht des Feuers ist die des Soma, die göttliche Kraft, die im Rausch in den Menschen fährt, seine Glieder [918] durchdringt, seinen Geist erleuchtet, ihm hohen Mut und überirdische Einsicht verleiht. Auch die Götter haben ihre wunderbaren Taten nur mit seiner Hilfe, im Taumel des Rausches, vollbringen können, vor allem Indra der Drachentöter; er ist ihnen das wertvollste Opfer, da er sie zum Kampf mit ihren Gegnern stärkt. So sind das Feuer und der Somatrank die höchsten Gaben, welche die Götter den Menschen gespendet haben, und zugleich für sie selbst ein unschätzbares Gut; die feindlichen Dämonen hatten sie verborgen, aber durch List oder im Kampf oder etwa durch die Kraft und Schnelligkeit eines Adlers, der das kostbare Gut raubte, haben sie beides gewonnen. In der Praxis kehrt sich dann das Verhältnis um: die Götter bedürfen der Opferspeise, zu der Agni sie herbeilockt, und sie können den Somatrank nicht entbehren, den doch nur die Menschen ihnen darbringen. Dadurch ist Soma einer der mächtigsten Götter der Arier geworden, wohltätig den Freunden, furchtbar den Feinden, der Spender von Gesundheit, von Lebensfreude und Unsterblichkeit, sowie von Einsicht und Nachkommenschaft. Zugleich aber ist damit der Grund gelegt für die Idee, daß die Göttertrotz ihrer übermenschlichen Macht im Grunde von den Menschen, ihrem Tun und ihren Gaben abhängig sind, eine Idee, die sich zunächst höchstens ganz gelegentlich hervorwagt, für die weitere Entwicklung beider Einzelvölker aber von grundlegender Bedeutung geworden ist.

585. Von den alten indogermanischen Göttern, den »himmlischen« (daiva, § 558), ist Vater Djaus im Veda ganz in den Hintergrund getreten und bei den Iraniern nicht mehr nachweisbar. Dagegen hat sich bei diesen der Kult des Sonnengottes Sûrja oder in kürzerer Form svar erhalten, der bei den Massageten die Alleinherrschaft gewonnen hat (§ 582); bei den Indern spielt er keine größere Rolle mehr, während bei ihnen, im Zusammenhang mit der Ausbildung des Rituals, der Mond zu um so größerer Bedeutung gelangt ist. An die erste Stelle dagegen rückt die, ursprünglich vielleicht mit Djaus identische und dann aus ihm differenzierte, Gestalt des [919] kämpfenden Himmelsgotts, des Gewittergotts, der mit dem Geschoß des Blitzes seine Feinde zerschmettert. Bei den Ariern führt er den Namen Indra (Indara); daneben steht ein zweiter, wie es scheint ihm wesensgleicher Gott Trita, der vielleicht im Kultus niemals hervorgetreten ist, sondern nur dem Mythus angehört hat. Die Erzählungen von den Kämpfen dieser Götter mit den feindlichen Dämonen, wie Indra die furchtbare Schlange, den Drachen Vrtra erschlug, der die Wasser geraubt und in den Felsen verborgen hat, die dann der Gott mit dem Blitzstrahl zersprengt, so daß die Wasser sprudelnd hervorbrechen, oder wie Vrtra eine herrliche Jungfrau oder auch die segenspendenden Kühe geraubt hat und Indra oder Trita sie befreien, bilden in mannigfachen Wandlungen einen Hauptbestandteil der vedischen wie der iranischen Sagen. Daß diese Erzählungen so stark in den Vordergrund treten und geradezu den Charakter der arischen Religion bestimmen, beruht darauf, daß die herrschenden Elemente des Volks, in deren Dienst die priesterlichen Sänger standen, sie am liebsten hörten; sie freuten sich an dem Gott, der ihnen glich, der wie sie am Somatrunk sich berauschte und dann noch gewaltigere Taten ausführte, als sie selbst zu vollbringen vermochten. Der Charakter eines kriegerischen Adels spiegelt sich in diesen Mythen nicht minder wider als in den homerischen Epen. Eben darum wird der indifferente Djaus und die ihm verwandten alten Götter, von denen man wenig Interessantes zu erzählen wußte, in den Hintergrund gedrängt sein. Um so mehr tritt neben Indra das helfende Zwillingspaar, die Asvins mit ihrem Streitwagen, in den Vordergrund (§ 580); auch sie sind Gottheiten, denen der Adlige sich verwandt fühlte und deren Hilfe er bei seinen Unternehmungen hoffte und empfand. In alter Zeit führen die beiden Brüder den noch unerklärten Namen Nâsatjâ, der später nur noch vereinzelt vorkommt; gelegentlich werden sie auch direkt mit Indra zu einer einheitlichen Gruppe verbunden.


Indra (var. Indara) und Našatia(-anna) erscheinen neben einander als Götter der Mitani (§ 455 A.), wie Rigveda VIII 26, 8 Indra-nâsatjâ, [920] (Dual) zu einem Kompositum zusammengefaßt sind; dadurch ist zugleich das Alter Indras erwiesen, den man früher mit Unrecht oft für einen jüngeren, rein indischen Gott gehalten hat. Im Awesta sind Indra und Nâsatja (Naonhaithja) zu Teufeln (daeva) degradiert worden: Vend. 10, 17. 19, 43; daneben ist aus Indra dem Vrtratöter der von der Religion legitimierte Gott Verethraghna (griech. Ἀρτάγνης) geworden, Trita erscheint als Heros Thraetaona (neupers. Ferîdûn), der den Drachen aži (ind. ahi »Schlange« = Vrtra)-dahâka fesselt (vgl. § 581 A.). – Natürlich haben die Arier noch weit mehr Götter und Mythen gekannt, so die Morgenröte; nachweisbar ist der Blitzgott apâm napât »der Sproß der Wasser«, d.i. der aus dem Wasser der Wolken gezeugte Blitz (einen Kult hat dieser Gott schwerlich gehabt); ferner der Heros Suśrava = iran. Husrava, Chosrau, der Ruhmreiche.


586. Neben diesen alten Göttern stehen Götter ganz anderen Charakters, Gottheiten, die in den Ordnungen der menschlichen Gesellschaft walten und die diesen zu Grunde liegenden rechtlichen und sittlichen Ideen verkörpern, Mitra und Varuna. Mitra (iranisch Mithra) bedeutet im Iranischen als Appellativum den »Vertrag« und als Gott daher den Schirmherrn der Verträge, der zwischen den einzelnen Individuen abgeschlossenen geschäftlichen Kontrakte so gut wie der Verträge, welche Geschlechter und Staaten binden; Varuna ist der Gott, der beim Eidschwur angerufen wird. Daher sind beide eng mit einander verbunden; im Veda werden sie sehr oft zu einem einheitlichen Paar Mitra-Varuna zusammengefaßt. Die Religion Zoroasters kennt den Namen Varunas nicht mehr; trotzdem kann es nicht zweifelhaft sein, daß auch dieser Gott in die arische Zeit hinaufragt. Denn statt seiner erscheint im Awesta mit Mithra in derselben Weise eng verknüpft, wenn auch ihm vorgeordnet, der Gott Mazdâ, »der Weise«, der den Eigennamen Ahura trägt. Ahura ist indisch asura; und dies Wort, das später eine Gruppe feindlicher Dämonen bezeichnet, ist im Veda das Beiwort zahlreicher großer Götter, vor allem aber das des Varuna und des Mitra sowie der an sie sich anschließenden Göttergruppe, die als die »sieben Âditjas« zusammengefaßt werden. Daraus ergibt sich, daß der iranische Ahura-Mazdâ seinem Wesen nach mit dem [921] arisch-indischen Varuna identisch ist. Beide Götter sind nun aber nicht nur geistige Wesen, sondern gehören, wie es für das naturwüchsige Denken selbstverständlich ist, zugleich der Erscheinungswelt an als große kosmische Mächte. Mitra offenbart sich nach der in Iran zu voller Herrschaft gelangten, gelegentlich auch in Indien hervortretenden Anschauung vor allem in der Sonne. Varuna hat seinen eigentlichen Sitz im Wasser, und es ist wohl möglich, daß er ursprünglich der Gott des die Welt umkreisenden Ozeans ist-die Etymologie seines Namens ist dunkel –, bei dem geschworen wurde, wie nach griechischem Glauben die Götter beim Styx schwören; als Gott dieses Urgewässers waltet er auch in den himmlischen Wassern und auch in denen der Erde, er hüllt sich in die Fluten der Ströme als sein Kleid; daher ist er für die späteren Inder immer ausschließlicher zum Meergott geworden. Aber als der Gott, der über der Heiligkeit des Eides wacht und den Eidbrüchigen oder Meineidigen packt und straft, ist er zugleich der allsehende Gott der Lichtwelt. Er thront im Himmel als der Besitzer aller Weisheit, der Listenreiche, der nie zu Täuschende. Mit Mitra zusammen fährt er im Wagen einher; die Sonne ist sein oder des Götterpaares Auge; oder wenn Mitra der Gott der Sonne und der Tageshelle ist, so ist Varuna der Herrscher der Nacht. Nicht nur die Menschenwelt hält er zusammen, indem er die Wahrheit und die Heiligkeit des Eides und, in Gemeinschaft mit Mitra, die Unverbrüchlichkeit der übernommenen Verpflichtung schirmt, sondern ebenso auch die gesamte physische Welt. Er ist »der Halter der Wesen«, der »in den Wäldern die Luft ausgebreitet hat, in den Rossen die Raschheit, in den Kühen die Milch; in die Herzen hat er den Willen, in die Wasser das Feuer [den in ihnen lebenden Blitzstrahl, vgl. § 585 A.] gesetzt, an den Himmel die Sonne, auf den Berg den Soma«. So ist er der »König«, der Herr der Götter und der Welt; er tritt als Konkurrent neben Indra, mit dem er um den Vorrang streitet. In der Tat tritt mit den Asuren eine neue Gruppe göttlicher Mächte neben die »Himmlischen«, die Daevas. Das Wort Asura bedeutet [922] wahrscheinlich den »Herrn«; und auch Âditja scheint, so unsicher die Etymologie ist, die schrankenlose Macht und Bewegungsfreiheit dieser Götter zu bezeichnen. Es sind zwei ihrem Ursprung nach völlig verschiedene Konzeptionen der göttlichen Macht, die sich hier gegenüber stehen: in Indra der aus dem ganz konkreten Vorgang des Gewitters erwachsene himmlische Held, der im Kampfe die Herrschaft erringt, in Varuna die Idee der in allen Erscheinungen der Natur und des Lebens waltenden göttlichen Kraft und Ordnung. Der Gott, in dem sie sich verkörpert, tritt dann sekundär, weil das mythische Denken sich noch nicht zu einer reinen Abstraktion zu erheben vermag, mit den konkreten Einzelerscheinungen in Verbindung; dadurch werden zahlreiche Widersprüche in sein Wesen eingeführt. Zoroaster hat dann in der Gestalt des Ahura Mazda den Grundbegriff rein herausgearbeitet. – Wie weit bei diesen Bildungen die Sonderentwicklungen der einzelnen arischen Stämme und vielleicht spezielle Stammeskulte eine Rolle gespielt haben, vermögen wir nicht zu erkennen; daß solche Gegensätze und Kreuzungen verschiedener Einflüsse vorhanden gewesen sind, ist zweifellos. In den vedischen Liedern beginnen Asuren und Daevas zu verschmelzen, und wenigstens bei einem Teil des Volks hat Varuna zeitweilig den Vorrang vor Indra gehabt. Aber dauernd ist die Verbindung nicht gewesen; in der Religion Zoroasters wie in der späteren indischen Religion stehen beide Göttergruppen in scharfem Gegensatz und bekämpfen sich ununterbrochen in erbitterter Fehde. Für Zoroaster sind die Daevas zu Teufeln geworden, für die späteren Inder die Asuren; den Varuna haben sie, da er als ein mächtiger Gott überliefert war, auf das Reich des Meeres beschränkt. – Wesen und Geschichte dieser Götter zeigen deutlich, daß die Asuren, Mitra und Varuna durchaus nicht, wie man oft angenommen hat, eine ältere Göttergruppe bilden, die von Indra und seinem Kreis in den Hintergrund gedrängt sind, sondern umgekehrt einer weit jüngeren und fortgeschritteneren religiösen Auffassung angehören. Dem entsprechen die äußeren Zeugnisse: Indra[923] reicht, wenn auch nicht dem Namen, so doch seinem Wesen nach wie die Daevas in die indogermanische Zeit hinauf, die Asuren, Varuna und Mitra sind Schöpfungen der Arier. Mit ihnen tritt ein spekulatives Element in die Götterwelt ein, das sich in der Folgezeit bei beiden Völkern in der Schöpfung zahlreicher abstrakter Gestalten weiter entfaltet, deren Wurzeln aber zum Teil schon in die arische Zeit hinaufragen mögen; so z.B. vedisch Puramdhi die Göttin der »Fülle« = awestisch Parendi die Hüterin der Schätze (OLDENBERG, Rel. des Veda 63, 3).

Im allgemeinen s. HILLEBRANDT, Varuna, und Mitra, 1877, DARMESTETER, Ormazd et Ahriman, 1877, und zahlreiche neuere Einzeluntersuchungen. Über OLDENBERGS Auffassung s. § 581 A. PISCHEL, Ved. Stud. II 124. 214, hält den vedischen Varuna meines Erachtens mit Unrecht schon für einen speziellen Wasser- und Meergott. Daß Mitra und Varuna nicht Naturgottheiten sein können, sondern, wie schon das ständige Schwanken ihrer Auffassung in den vedischen Hymnen beweist, einen ganz anderen Ursprung haben, hatte ich schon in der vorigen Auflage ausgeführt. Gleichzeitig hat MEILLET, Le dieu indo-iranien Mitra im J. As. sér. X, vol. X 1907, 143ff. gezeigt, daß Mitra die Personifikation des Kontrakts und der in ihm enthaltenen, als ein mystisches Wesen aufgefaßten Zwangsgewalt ist; im Mihr Jašt v. 2 ist das eigentlich ganz direkt gesagt. Daß Varuna der Gott des Eides ist, hat dann LÜDERS in einem Vortrag in der Berl. Akademie ausgeführt, über den bisher nur eine kurze Inhaltsangabe (Ber. 1910, 931) gedruckt ist. Aus der Bedeutung »Vertrag« erklärt sich dann weiter, daß mitra im Indischen den dadurch gewonnenen Genossen, »Freund« bedeutet; zu ihm und Varuna tritt dann als ein weiterer Aditja Arjaman, d.i. »der Genosse«. Diese rein abstrakten Namen widerlegen die Theorie von dem physischen Ursprung dieser Götter vollkommen. – Die frühere Annahme, Varuna sei mit griech. Οὐρανός und mit der im Awesta genannten, bisher nicht lokalisierten Landschaft Var(e)na identisch, ist jetzt allgemein als unhaltbar erkannt.


587. In diesen Gestalten ist die arische Religion zu der Idee der Weltordnung vorgedrungen, die sich über dem wilden Treiben der Naturgötter und Dämonen als das gleichmäßige ewige Gesetz erhebt. Diese »Ordnung«, westiranisch arta, indisch rta, im Awesta aša, ist nach vedischer Auffassung von Varuna (und Mitra) geschaffen und erhalten, [924] nach der Zoroasters von Ahura Mazda. Wenn auch nicht entstanden, so doch in ihrer Ausbildung wesentlich bestimmt ist diese Idee durch den Glauben an die gleichmäßig und unverbrüchlich wirkende Kraft des Opfers und der richtig vollzogenen Zauberriten, und in den priesterlichen Dichtungen tritt diese Seite auf das stärkste hervor. Aber sie greift weit darüber hinaus und hebt zugleich die ursprüngliche Auffassung des Zaubers, indem sie sie bis in ihre Konsequenzen verfolgt, innerlich auf und wandelt sie in ihr Gegenteil um: an Stelle der Willkür des momentanen Gelüstens tritt die unverbrüchliche Weltordnung, und nur indem der Mensch diese erkennt und sich ihr unterordnet, kann er seine Ziele erreichen und die in der Welt wirkenden Kräfte beeinflussen. Für die Einzelgestaltung bleibt freilich das gesamte alte Zauberritual, ja es wird jetzt erst recht weiter ausgestaltet; dennoch ist es ein gewaltiger Fortschritt sowohl des Erkennens wie des sittlichen Empfindens, daß man in ihm die Gesetzmäßigkeit sucht und sich dieser bewußt wird. Die Ordnung des Arta ist rituell, kosmisch und ethisch zugleich; die Götter erkennen sie an, trotz aller Launen und aller Eigenwilligkeit, die der Mythus von ihnen berichtet und das Leben immer von neuem erfahren läßt, und eben darum und dadurch sind sie Götter; die Dämonen versuchen sich ihr zu entziehen, aber dadurch erliegen sie, sie sind nur Truggestalten (druh, iran. drudž), deren Ohnmacht offenbar wird, sobald man ihnen in der richtigen Weise entgegentritt. Die Frommen, welche den Segen der Götter gewinnen wollen, müssen daher die Forderung »guter Gedanken, Worte und Werke« erfüllen-diese Forderung, welche Veda und Awesta gleichmäßig stellen, reicht in arische Zeit hinauf. Das ist zunächst rein rituell gedacht, Beobachtung des richtigen Zeremoniells und der Reinheitsvorschriften; aber auch darin schon liegt ein ethisches Moment, und sittliche Gebote stehen von Anfang an in aller Religion neben den kultischen. So entspricht das Arta den Rechtsgöttinnen der Aegypter und der Griechen, der Ma'at und der Themis. Eine selbständige Gottheit ist es bei den [925] Ariern noch nicht; dazu hat es in Iran erst Zoroaster erhoben, während in der indischen Religion die ewige Ordnung, die »Verkettung von Ursache und Wirkung«, weit über die Götter hinauswächst und zu der alle Vorstellungen beherrschenden Macht wird, welche die Götter beiseite schiebt.

588. Die Vorstellung, daß der im lebenden Menschen hausende Geist, der beim Tode aus ihm herausfährt, als Gespenst umgeht und Spuk treibt, aber auch seinen Nachkommen Segen bringen kann, mag schon in indogermanischer Zeit vorhanden gewesen sein; größere Bedeutung und festere Gestalt gewinnt sie erst mit dem Fortschreiten der Kultur und der Ausbildung geregelter Bestattungsbräuche. Daß bei den Ariern die primitivste Behandlung der Leichen, die Aussetzung, sich noch in weitem Umfang erhalten hat, haben wir schon gesehen (§ 579). Daneben kommt dann sowohl die Bestattung wie die Verbrennung auf. Letztere ist in der vedischen Zeit Indiens bereits durchaus vorherrschend geworden und wird von den Ritualtexten allein berücksichtigt; daß sie auch in Iran weit verbreitet gewesen ist, beweist die Tatsache, daß die Zoroastrier die turmartigen Bauten, in denen sie die Leichen aussetzen, dakhma, d.i. »Verbrennungsstätte« nennen. In Arachosien und Persis dagegen herrscht die Bestattung. – Die Totengeister, die »Väter«, beim Begräbnis und späteren Totenfeiern mit Lebensmitteln ausgestattet, leben in einem fernen unbekannten Reich unter dem Totenherrscher Jama, Sohns des Vivasvant, dessen Hunde (§ 579) unter den Menschen umgehen und den, dem zu sterben bestimmt ist, packen und auf seinem Wege geleiten. Im Totenreich herrschen ewig die gleichen Verhältnisse, friedlich und ungestört-denn der Tod kennt keine Veränderung mehr –; aber die Väter können von hier aus ihren Nachkommen Segen spenden, wenn diese sie anrufen; doch ist es begreiflich, daß der Lebende sie immer zugleich als unheimliche Wesen betrachtet und die Berührung mit ihnen meidet. Der Totenherrscher Jama ist der erste, der den Tod erlitten hat, und darum der erste Mensch (und nach priesterlicher Anschauung [926] der erste Opferer), der von seiner Schwester Jamî die Menschen gezeugt hat; ehemals herrschte er auf Erden als mächtiger König; und damals bestanden auch hier die friedlichen, unveränderlichen Zustände des Totenreichs, ohne Kampf und Not, so daß an ihn die Sage von einem goldenen Zeitalter der Urzeit anknüpft. Es ist ein seltsamer Widerspruch, aber doch völlig begreiflich, daß dieser »erste Mensch« trotzdem einen menschlichen Vater hat, Vivasvant; denn einen Menschen ohne Vater kann man sich nicht denken, und zu jedem Eigennamen gehört der Vatersname.


Jama Sohn des Vivasvant erscheint im Awesta als Jima Sohn des Vîvanhant, seine Schwester Jimî in der iranischen Sage als Jimek (Jime); in dieser ist Jima zu dem Urkönig Džemšîd geworden. Es war eine seltsame Verirrung, daß man in diesen Gestalten Götter und gar die Sonne oder den Mond gesucht hat; das Richtige gibt OLDENBERG. – Bestattung in Arachosien Vend. I, 48; bei den Persern wird die Leiche mit Wachs überzogen (Herod. I 140. Cic. Tusc. I 45 u.a.; ebenso bei den skythischen Königen Her. IV 71) und dann z.B. bei den Königen in Felsgräbern beigesetzt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 914-927.
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