Charakter und weitere Entwicklung der Arier

[927] 589. »Die Perser sind dem Wein sehr ergeben,« erzählt Herodot (I, 133); »die wichtigsten Angelegenheiten beraten sie im Rausch, und dann prüfen sie am nächsten Morgen, wenn sie nüchtern geworden sind, die Entscheidung noch einmal.« Ähnliches wird z.B. von den Germanen erzählt und kann überhaupt als charakteristisch für die Indogermanen gelten. Aber bei den Ariern hat sich dieser Zug eigenartig gesteigert; aus ihm ist der Somakult erwachsen, der ihrer Religion und Kultur ein so eigenartiges Gepräge gibt. Er berührt sich mit der Dionysosreligion, die in Griechenland im sechsten Jahrhundert aufkommt; aber – ganz abgesehen davon, daß diese, dem damaligen Stadium der religiösen Entwicklung entsprechend, den Charakter des Mysteriums trägt – auch von ihr ist er spezifisch verschieden. Dionysos ist nicht der Wein, sondern die große göttliche Macht, die sich vor [927] allem in diesem offenbart und in den Menschen eingeht; für die Arier ist der Soma selbst die Gottheit, der Trank, der von den Menschen gepreßt und erzeugt wird und in dem der Gott lebt wie Agni das Feuer in der Flamme. So ist er zwar ein gewaltiger Gott, der immer von neuem in die Erscheinung tritt und wirkt; aber diese Erscheinung ist zugleich abhängig vom Tun der Men schen. Das ist für die arische Religion von grundlegender Bedeutung. Wenn schon die indogermanische Religion die Kluft nicht kennt, welche nach aegyptischer wie nach semitischer und sumerischer Vorstellung die Götter von den Menschen trennt, sondern beide in enger Verbindung mit einander stehen (§ 557), so ist diese Verbindung in der arischen Religion noch ganz besonders gesteigert. Potenzierte Menschen sind die Götter überall-das folgt aus dem Analogieschluß, auf dem die Konzeption des Gottesbegriffs überhaupt beruht (§§ 46. 50) – und die griechische (und auch z.B. die germanische) Religion hat sie eben so stark, wenn auch in anderer Weise, vermenschlicht, wie die arische; aber die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Göttern und Menschen, die dadurch bedingte Abhängigkeit der Gottheit vom menschlichen Tun, kennt sie nicht, während dies Moment in der arischen Entwicklung zu fundamentaler Bedeutung gelangt. Darin tritt zugleich das Bestreben hervor, die religiösen Gedanken und damit das Weltproblem in seiner ganzen Tiefe zu ergründen, es auszudenken und in feste Formeln zu fassen; dieses Streben, das zu immer neuen Problemen und Lösungen führt und die großen Religionen der beiden arischen Völker geschaffen hat, hat, wie wir gesehen haben, schon in der arischen Zeit begonnen. Ihre Gestaltung erhalten diese Gedanken durch die schöpferische Kraft der Phantasie, das Erbteil, welches die Arier aus der indogermanischen Zeit mitgebracht haben. In der Literatur und den Religionen der Inder tritt uns diese Kraft der Phantasie lebendig entgegen, freilich auch ihre Einseitigkeit, die Unfähigkeit, ihr Schranken zu setzen und Maß zu halten, wie die Griechen. Aber auch die Iranier beurteilen wir einseitig, wenn wir sie nach den schablonenhaften, [928] kraft- und leblosen Formeln des Awesta bemessen; das sind Erzeugnisse einer grübelnden Systematik, welche, um den Irrwegen der Phantasie zu entgehen, in ihr Gegenteil flüchtet, und dadurch die großen Gedanken, welche sie geordnet darlegen will, verknöchern läßt und schließlich in ödem Formelwerk völlig erstickt; die brahmanische und die buddhistische Literatur haben vielfach ganz gleichartige Erzeugnisse hervorgebracht. Welches innere Leben und welche Schöpfungskraft auch in den Iraniern saß, zeigt das gewaltige Epos und in noch höherem Grade die großartige Umgestaltung und Vertiefung der Lehren des Islâms, aus denen die Perser die am tiefsten empfundene und am schönsten gestaltete Form des Pantheismus geschaffen haben, welche die religiöse Literatur aller Völker und Zeiten aufzuweisen hat.

590. Etwa zu Anfang des zweiten Jahrtausends mögen die Arier begonnen haben, sich über Nordindien und Iran auszubreiten. Daß die Scharen, welche nach Mesopotamien und Syrien vordrangen, nicht von den kulturlosen Nomaden ausgegangen sind, sondern die Entwicklung der seßhaften Kulturgebiete durchgemacht hatten, beweisen die Götter Mitra und Varuna, Indra und die Nâsatjas in Mitani, und die mit Arta-gebildeten Eigennamen. Die Ausbreitung hat dann zur Spaltung in Inder und Iranier geführt. Aber dies äußerliche Moment ist nicht das wesentliche. Deutlich treten vielmehr tiefgreifende Unterschiede hervor, in denen sich, trotz aller ursprünglichen Gemeinschaft und aus dieser heraus erwachsen, die geistige Richtung der beiden Völkergruppen offenbart, die sie geschichtlich und kulturell in entgegengesetzte Bahnen geführt hat. Die Neigung zu religiösem Denken und zu einer die Welt als Ganzes umfassenden Spekulation ist beiden gemeinsam; und bei beiden treten abstrakte Begriffe an die Stelle der altererbten Götter. Aber bei den Indern führt diese Spekulation zu einem mystischen Pantheismus, zum Versenken in das eigene Ich, dem gegenüber die Welt zum leeren Schein wird und in Nichts versinkt. [929] Bei den Iraniern dagegen steht das praktische Leben und die reale Welt im Vordergrund, und darum zugleich das Sittengebot. Die neuen Götter Zoroasters sind ethische Mächte, die der Inder Abstraktionen des Kultus (Brahman) und der Philosophie (Âtman). Darum gibt der Iranier sich dem Leben mit vollem Eifer hin und sieht seine höchste Aufgabe in praktischer, heilbringender Tätigkeit, während der Inder wenigstens in der Theorie-und die Brahmanen wie die Buddhisten haben damit auch im Leben vollen Ernst zu machen versucht-das Leben flieht und die schaffende Tätigkeit verachtet. Nicht nur die Lehre Zoroasters und das Bekenntnis des Darius zeigen diesen Gegensatz, sondern ebensosehr der Pantheismus der persischen Sufis: er ist immer positiv, die Welt und das Leben bejahend und sich an ihnen erfreuend, die Vereinigung mit dem schöpferischen Gotte ist sein höchstes Ideal; der Pantheismus der Inder dagegen ist negativ, er verneint Leben und Welt, sein Ideal ist das Aufhören der eigenen, zur Qual gewordenen Existenz. Daher haben die Iranier ein reiches historisches Leben voll großer welthistorischer Wirkung, während die Inder nicht nur äußerlich, sondern auch und vor allem ihrem inneren Wesen nach zu einem selbständigen Staatsleben und damit zu einer politischen Betätigung nicht gelangt sind. Der beiden Völkern gemeinsame spekulative Grundzug, der über den großen Problemen des Daseins die Einzelvorgänge gering achtet, kommt darin zum Ausdruck, daß beide trotz aller Begabung eine historische Literatur nicht entwickelt haben (§ 131).

591. Wie diese Gegensätze sich entfaltet und die äußerliche Trennung beeinflußt haben mögen, läßt sich nicht erkennen; daß sie mitgewirkt und die Trennung erst definitiv gemacht haben, ist nicht zweifelhaft. Denn bei den Indern behaupten die devas und mit ihnen Indra in der vedischen Zeit ihre dominierende Stellung, der Anspruch des Mitra und Varuna auf den Vorrang setzt sich nicht durch, die Asuras erscheinen schon im Veda gelegentlich als von Indra besiegte [930] Gegner und sind in der Folgezeit ganz zu bösen Dämonen geworden. Bei den Iraniern dagegen ist Ahura der Name des höchsten Gottes, Mithra steht ihm zur Seite; die daevas (neupers. dîw) sind ihre Gegner, die Teufel, und unter diesen erscheinen auch Indra und Nâsatja. Hier hat Zoroaster diese Entwicklung zum Abschluß gebracht; aber begonnen hat sie ohne Zweifel schon vor ihm, wenn wir auch die einzelnen Stadien dieses doppelseitigen Prozesses nicht zu erkennen vermögen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 927-932.
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