Die Eteokreter (Kafti) und ihre Religion

[181] Gestalt und Tracht der Kreter haben wir schon kennen gelernt; dabei wurde bereits auf die Abweichungen in der Haartracht und vielleicht auch im ethnographischen Typus hingewiesen, die zwischen der älteren und der späteren Zeit bestehn. Während bei den Männerfiguren aus Petsofa und Sitia334 das Haupthaar ganz kurz geschoren oder abrasiert ist, ist später sowohl in den einheimischen wie in den ägyptischen Darstellungen das lang in Strähnen über die Schultern herabfallende Haupthaar, mit einem gekräuselten Haarbüschel über der Stirne, für die Kreter charakteristisch335. Allerdings finden sich daneben auch später noch rasierte Köpfe, so bei den Männern der sog. Schnittervase von Hagia Triada (unten S. 191) und auf manchen Siegeln; aber darin ist wohl eher ein Unterschied des Standes, nicht der Abstammung zu suchen. Der Bart wird zu allen Zeiten rasiert, Rasiermesser sind vielfach erhalten. In der Kleidung der Männer ist der kurze Lendenschurz mit Gürtel und Phallustasche beibehalten, danebenkommt gelegentlich ein größeres Lendentuch vor, das die Scham verdeckt (o. S. 108).

Die Nachkommen der Kreter der Blütezeit werden wir in den »echten Kretern« (Eteokretern) erkennen dürfen, die sich vor den eindringenden Griechen in den äußersten Osten der Insel zurückgezogen und hier noch lange erhalten haben336. Bei den Ägyptern heißen sie Kafti (mit unbekannter Vokalisation); und dieser Name scheint mit dem Volksnamen Japeṭ [182] identisch, der, längst obsolet geworden, im israelitischen Völkerstammbaum die Seevölker unter einem Ahnen zusammenfaßt337.

Die Sprache der Eteokreter scheint, soweit wir nach den geringen Resten urteilen können, von dem Typus der kleinasiatischen wesentlich verschieden zu sein338. Umso enger dagegen sind die Übereinstimmungen in der Religion. In ihre Gestaltung339 gewähren zahlreiche Denkmäler einigen Einblick; auch hier setzen sich die Anschauungen und Kulte der älteren Zeit ununterbrochen weiter fort, was natürlich die Möglichkeit nicht ausschließt, daß in derselben Weise wie später die Griechen so auch früher schon fremde Eindringlinge die alteinheimische Religion übernommen haben könnten. Altererbt ist vor allem der Kultus der Naturgötter in den Höhlen und auf den Gipfeln der Berge, so auf dem Gipfel von Petsofa an der Ostküste bei Palaekastro, auf dem Iuktas südlich von Knossos, in der Kamareshöhle am Südabhang des Ida, in der Grotte des »Ziegenbergs«, des Aigaionoros Hesiods, im Lasithigebirge (bei Psychro, Bd. I, 521), wo Bruchstücke eines Libationsaltars mit einer Weihinschrift in kretischer Schrift erhalten sind, und zwischen diesem und dem Iuktas in der Höhle von Arkalochori. Weitere Ausschmückungen fehlen völlig, ebenso Kultbilder; dagegen sind sowohl die Höhlen wie die von einer schlichten Steinmauer [183] umschlossenen heiligen Bezirke auf den Bergen angefüllt mit den Überresten von Opfern und zahllosen schlichten Weihgeschenken, Gefäßen von Kupfer und Ton, Waffen, kleinen Rindern von Kupfer – darunter in der Lasithihöhle auch ein kleiner mit Ochsen bespannter Wagen –, Votivfiguren von Männern und Frauen, Nachbildungen menschlicher Gliedmaßen, die entweder für eine von der Gottheit gewährte Heilung danken oder eine solche bewirken sollen. Sehr zahlreich sind darunter seit den ältesten Zeiten kleine Doppeläxte von Kupfer, ein durch ganz Kleinasien verbreitetes Kultsymbol (Bd. I, 481) des kriegerischen Gewittergottes, das auch auf Kreta überall wiederkehrt. An diesen Stätten wird der Kultus schon in frühester Zeit aus denselben religiösen Anschauungen erwachsen und gestaltet gewesen sein, die dann die Griechen unter formeller Anpassung an ihre Götterwelt übernommen und weiter gepflegt haben: ein mächtiger Gott des Naturlebens, der im Frühjahr, bei dem Wiedererwachen der Vegetation, geboren und in der Höhle gegen die feindlichen Mächte durch seine Verehrer und ihre Waffentänze geschützt wird, dann als Himmelsgott (Zeus) die Weltherrschaft ergreift, aber im Sommer, beim Verdorren der Pflanzenwelt, dahinstirbt – nach griechischer Überlieferung liegt sein Grab in dem schon erwähnten heiligen Bezirk des Iuktas –, um dann im nächsten Jahre aufs neue geboren zu werden.

Den Zwecken des Kultus dienende Räume finden sich mehrfach in den Palästen von Knossos, Phaestos und Hagia Triada, sowohl den älteren wie den jüngeren, und in manchen der großen Magnatenhäuser340. Es sind jedoch nicht Kapellen, sondern niedrige Kammern von ganz kleinen Dimensionen, in denen sich kein Mensch bewegen oder gar Kulthandlungen vollziehen könnte; wohl aber sind sie vollgestopft mit sakralen Objekten und Weihgaben aller Art und haben lediglich [184] zu ihrer Bewahrung gedient. Die große Zahl ganz unansehnlicher, billig hergestellter Gegenstände völlig gleicher Art – z.B. schlichte Schalen und Opfertafeln, mit Vertiefungen und Näpfen zur Aufnahme von Trankspenden, Früchten, Blumen, ferner kleine kupferne Doppeläxte u.ä. – zeigt, daß sie auf Vorrat hergestellt sind und die Hausherren, die offenbar zugleich eine Priesterstellung einnahmen, sie, wie im christlichen Kultus, an die Gläubigen abgaben oder verkauften341. War dann die Kammer überfüllt oder konnte man sonst die sich häufenden und beschädigt oder vielleicht altmodisch gewordenen Weihgaben nicht mehr unterbringen, so wurden die Kammern ausgeräumt und ihr Inhalt in Kellerräumen zusammengehäuft – ein Verfahren, das bekanntlich ebenso in Ägypten, in den Tempeln von Cypern und Griechenland und in zahlreichen anderen Kulten befolgt wurde342. Derart sind die in zwei großen Steinkisten geborgenen »Temple Repositories« im Palast von Knossos. Dem aus kleinen Kammern bestehenden Bezirk, in dem diese untergebracht sind, ist später eine nach dem Zentralhofe sich öffnende tempelartige Fassade vorgesetzt worden, die sich aus den Überresten mit Hilfe der Abbildungen auf Wandgemälden und Gemmen hat rekonstruieren lassen343. Auch zahlreiche hier gefundene Siegelabdrücke mit dem Bilde der Berggöttin bestätigen den sakralen Charakter dieses Bezirks, der im übrigen im Verhältnis zu dem riesigen Umfang des Palastes nur einen sehr bescheidenen Raum einnimmt – die Front ist nur 5 Meter lang. Ein wirklicher Tempel ist er nicht; wohl aber haben sich vor ihm und an dem großen davor liegenden Altar im Hofe [185] die Kulthandlungen abgespielt. Die Unterbauten solcher freistehenden Altäre sind auch sonst in den Höfen der Paläste mehrfach erhalten. Außerdem liegen in dem sog. kleinen Palast in einem kleinen Raum mit von Säulen getragener Bedachung einige plumpe, unbearbeitete Steinblöcke von menschenähnlicher Gestalt, in denen wir wohl primitive Idole zu sehn haben, die hier verwahrt und wohl auch kultisch verehrt wurden344.

Wie Tempel sind auch Kultbilder der Gottheiten der kretischen Religion völlig fremd; der Kultus vollzieht sich durchweg in der freien Natur in unmittelbarer Verbindung mit der göttlichen Macht. Neben den schon erwähnten Höhlen und Bergen werden überall in der Landschaft zahlreiche Bezirke gelegen haben, die den Göttern und ihrer Verehrung geweiht waren. Von ihrer Gestalt läßt sich aus den Abbildungen auf Steinvasen und Gemmen einigermaßen ein Bild gewinnen. In der Regel ist der Bezirk von einer niederen Mauer von Feldsteinen umschlossen; darin steht ein aus Quadern aufgemauerter Altar mit einem Aufsatz, dessen Enden hörnerartig aufragen (die sog. »horns of consecration«) – ein seltsames, für uns nicht deutbares Symbol, das überall wiederkehrt und in den Kultfassaden an die Seiten der Säulen und aufs Dach gesetzt ist. Im Innern des Bezirks kann sich dann ein rechteckiger Bau mit Portal erheben. Entweder in diesem oder in dem äußeren Bezirk stehn die heiligen Bäume, vor allem Feigenbäume, einer oder mehrere, die wohl an keiner Kultstätte fehlten. Dazu kommen meist freistehende Säulen innerhalb des Portals und draußen hohe aufgerichtete Masten345. Ein vollständiger Kultbau, auf dem Tauben, die [186] heiligen Tiere der Göttin, sitzen, ist in getriebenem Goldblech in den mykenischen Schachtgräbern mehrfach nachgebildet346. Er entspricht durchaus der Fassade im Palast von Knossos: zwischen zwei schmalen Säulenhallen liegt, weit höher aufragend, über einem in Glasfuß bunt mit Rosetten u. ä ausgelegten Fries347 der enge Kultbau, dessen Architrav von einer oder zwei Säulen getragen wird; auf dem Dach ragen zahlreiche Kulthörner auf. Der Eintritt in die Räume ist durchweg durch Kulthörner gesperrt, die zwischen die Säulen gesetzt sind; dadurch wird bestätigt, daß diese Bauten keineswegs Tempel im eigentlichen Sinne gewesen sind, in denen sich die Kulthandlungen abgespielt hätten, sondern eher Adyta, in denen man sich die Gottheit hausend dachte und in denen vielleicht auch, dem Menschen unnahbar, die heiligen Steine oder ähnliche Gebilde verwahrt waren, in denen sie ihren Sitz genommen hatte.

Ein vollständiges Bild des ganzen heiligen Bezirks bietet ein Goldring aus Mykene348: auf einer in Stufen ansteigenden Terrasse liegt ein umfriedeter Hof, dessen Türen offen stehn; durch ihn führt ein gepflasterter Weg zu dem Portal des Kultbaus, über dem die Zweige von Bäumen aufragen. Zu beiden Seiten der Umzäunung steht ein Baum (Cypresse?) und eine Adorantin; am Rande ist Gebüsch angedeutet. Diese Gestaltung eines Heiligtums ist nach Cypern übertragen und hat sich hier in Paphos dauernd erhalten; sein Bild auf den kyprischen Münzen der Kaiserzeit zeigt den halbkreisförmigen Zaun, der den Vorhof einschließt, mit offenen Türen, und dahinter auf einer Terrasse dieselbe Fassade wie in Kreta: zwei niedrigere Seitenflügel mit freistehenden Säulen in der[187] Halle und Tauben auf den Dächern, dazwischen der schmale hochragende Mittelbau, eingerahmt von zwei hohen Pfeilern, auf dem Dach das Kulthorn, im Innern der Steinkegel, das uralte Symbol der Göttin349.

Die Gestaltung der heiligen Stätten zeigt, daß auch die Kreter sich die Götter als in Bäumen und Holzpfählen350 hausend und in diesen dem Verehrer sinnlich nahbar glaubten. Daneben steht als ein Hauptsymbol des Kultus, wie schon erwähnt, die Doppelaxt. Unter den Weihgaben der Höhlen ist sie sehr zahlreich vertreten, mehrfach findet sie sich auf Siegeln und Kultgefäßen, meist verbunden mit einem Stierkopf351. In dem Kultraum in Niros standen vier große Äxte von Kupfer, eine in dem des Palastes von Knossos, [188] eine in der Höhle des Lasithiberges und in der von Arkalochori. Daß sie hier kultisch verehrt wurden, kann nicht zweifelhaft sein352; ob aber der Steinpfeiler im Palast von Knossos, bei dem auf jedem Block Steinbeile eingehauen sind, sakrale Bedeutung hatte und sie nicht vielmehr einfach Steinmetzzeichen sind, ist mindestens fraglich353. Unmittelbar mit Gottheiten verbunden oder in deren Händen erscheinen sie nirgends354; dagegen werden sie auch im Totendienst aufgerichtet355.

Daß auch Steine in Form von Kegeln oder in menschenähnlicher Gestalt verehrt wurden, ist schon erwähnt (S. 186). Aus derartigen primitiven Kultobjekten und ihrer Nachbildung in Ton mögen dann die ganz rohen Idole hervorgegangen sein, die sich in der Epoche des Niedergangs der Kultur mehrfach in den Kulträumen gefunden haben356: niedrige [189] Tonzylinder, aus denen der bemalte Oberkörper einer Göttin hervorwächst; die plumpen Arme sind an die Brüste gepreßt oder nach oben ausgestreckt, gelegentlich mit einer Schlange daran; bei einer sitzt auf dem Kopf eine Taube, sie ist also die kretische Taubengöttin. Vielleicht sind diese Figuren erst unter dem Einfluß der vom Festland hereindringenden griechischen Eroberer entstanden; wir dürfen in ihnen den ersten Versuch sehn, die Gestalten, in denen die Phantasie sich die Götter denkt und in Kunstschöpfungen dargestellt hat, nun auch in den Kultus selbst einzuführen; denn sonst sind Kultbilder der Gottheiten der kretischen Religion, soweit unsere Kenntnis reicht, noch völlig fremd.

Charakteristisch für die kretische Kultur ist die sehr stark hervortretende Beteiligung der Frauen am Kultus; dem entspricht, daß, so weit wir sehn können, die weiblichen Gottheiten durchaus überwiegen. Auch den Göttern gegenüber bewahrt der Kreter, und ebenso die Kreterin, dieselbe stolze Haltung, mit der er im Leben überall auftritt; er begrüßt sie mit erhobener Rechten – Votivstatuen in dieser Stellung sind mehrfach erhalten – oder preßt, wie es dem Diener geziemt, die Hände an die Brust, so mehrfach bei Frauen357; aber Kniefall kommt in den Kultszenen nur ganz vereinzelt vor358. Tieropfer, an denen es natürlich nicht gefehlt hat, sind [190] in unserem Material nur im Totenkult dargestellt359; dazu kamen Trankspenden, Früchte und Blumen, sowie offenbar aus Ägypten importierter Weihrauch, und die zahlreichen Votivgaben, Figuren der Verehrer in Bronze, Stein und Ton, Schalen und Krüge, kleine Tierfiguren, Opfertafeln, Doppeläxte und kleine Nachbildungen von Waffen, auch Nachbildungen von Kultbauten, Altären und Kultgeräten, und zum Dank für eine Heilung Modelle von Gliedmaßen. Auf einer Gemme aus der idaeischen Höhle steht eine Frau vor dem mit Zweigen bedeckten Opfertisch und bläst durch eine große Tritonmuschel, wie sie sich als Blasinstrumente mehrfach gefunden haben360. Prozessionen, Reigen und Kulttänze mit Musik und Gesang haben, wie überall, einen Hauptbestandteil der Götterfeste gebildet; auch die so eifrig gepflegten Stierkämpfe mögen dazu gehört haben.

Eine Steatitvase aus Hagia Triada stellt einen bäuerlichen Festzug dar. Geführt wird er von einer, wie es scheint, weiblichen Gestalt, vermutlich einer Priesterin, mit langem Haupthaar in einem seltsamen aus Maschen gearbeiteten und in Fransen auslaufenden Gewande361, mit einem langen Hirtenstab auf der Schulter als Abzeichen ihrer Kommandogewalt. Hinter ihr schreiten paarweise im Stampfschritt in langer Reihe die Teilnehmer des Zuges, alles Männer mit Lendenschurz und Phallustasche, deren breites Ende an den hochgehobenen linken Oberschenkel gebunden [191] ist, um dessen Bewegungen mitzumachen362; im Unterschied von den sonst üblichen kretischen Gestalten ist bei ihnen, wie schon erwähnt, auch das Haupthaar abrasiert und der Kopf mit einer Kappe bedeckt. In der Linken tragen sie, auf die Schulter gelegt, eine Axt mit langem Stil und eingesetzter sichelförmiger Schneide, also wohl eine Feldhacke; an jede gebunden sind drei lange Binsen- oder Schilfhalme363, die über den Köpfen sich mannigfach kreuzend den Eindruck einer lebend bewegten Masse erzeugen und das Ganze zur Einheit zusammenfassen. So wird der Zug wohl ein bäuerliches, aus dem Feldbau erwachsenes Fest darstellen, ob gerade ein Erntefest, ist recht fraglich, ebenso wie die übliche Bezeichnung des Gefäßes als Schnittervase. In der Mitte des Zuges gehn drei Sänger, im Unterschied von den anderen mit kurz geschnittenem Haupthaar und ohne Kappen, und ihnen voran, wie schon erwähnt (S. 178), ein Ägypter als Vorsänger mit dem Sistrum.

Von den kretischen Gottheiten kennen wir eine größere Zahl vor allem durch die Darstellungen auf Siegeln und Goldringen; allerdings erhebt sich hier die Schwierigkeit, daß ein beträchtlicher Teil derselben aus dem griechischen Festlande stammt, und daß sie daher, auch wenn sie von kretischen Künstlern gearbeitet sind, doch Kulte darstellen können, die der Insel selbst fremd waren. Andere sind dagegen offenbar von dieser aus importiert; und im übrigen ist die Übereinstimmung so groß, daß wir sie, da eine reinliche Scheidung [192] nicht erreichbar ist, doch an dieser Stelle werden verwenden dürfen364.

Alle diese Darstellungen geben niemals ein wirklich vorhandenes Bild der Gottheit, sondern immer nur ihre von der Phantasie geschaffene und dem Gläubigen im Bewußtsein schwebende Erscheinungsform. In den besten Werken steigert sich das zu einer Darstellung der Epiphanie der Gottheit; wir schauen die geistige Welt, in der der Kreter und seine Kultur lebt. So steht innerhalb des heiligen mit Gebüsch bewachsenen Bezirks vor dem Kultbau und dem davorstehenden Mastbaum eine Frau mit erhobener Rechten: da erschaut sie über sich in der Luft den Gott schwebend, mit einem Stabe in der ausgestreckten Hand365. Oder der Verehrer steht vor dem Heiligtum: da erscheint vor ihm die Göttin, in der gleichen Haltung, auf einem hohen Berge, an dem zu jeder Seite ein Löwe aufsteigt366. Am bedeutendsten ist ein Goldring aus Mykene367: zwei Frauen368 in kretischer Tracht stehn vor einem heiligen Baum; die zweite bringt Blumen, die erste streckt die Linke aus, und ihr bietet die Göttin, die unter dem Baum sitzt, einen Zweig mit Mohnkolben. In der Luft schwebt eine Göttin in Schildform, wieder mit einem Stab in der Rechten; darüber ist der Himmel dargestellt, mit Sonne und [193] Mond369. In die Mitte des Bildes ist, wieder frei schwebend, die Doppelaxt gesetzt, an den Rand eine Reihe von Löwenköpfen. Man sieht, die Absicht, die wirklichen Vorgänge zu schildern, liegt dem Künstler ganz fern; er benutzt vielmehr die Kultszene, um ein Gesamtbild der idealen Welt zu entwerfen.

In derselben Weise ist es zu verstehn, wenn der Baum sich dem auf ihn zueilenden Verehrer zuneigt370. Die Gottheit ist nicht dargestellt, aber sie lebt in dem Baum. Demgemäß ist vielleicht auch die Szene zu deuten, wo ein Kreter den im Kultbau stehenden Baum gepackt hat und zu sich herabzieht371. Auf anderen Goldringen tritt eine Frau zum Altar, vor dem die Göttin sitzt, einen Spiegel in der Hand; oder sie sitzt auf dem Altar vor einem Strauch und streckt dem Verehrer, der ihre Hand faßt, den Zeigefinger entgegen372. Auch hier ist ebensowenig ein realer Vorgang dargestellt,. wie wenn Dämonen in einer der ägyptischen Nilpferdgöttin nachgebildeten Mischgestalt Kannen mit Trankopfern tragen und die Göttin vor dem Altar auf einem Stuhl sitzt, den [194] Becher in der Hand, hinter ihr ein Adler, ihr heiliges Tier373.

In zahlreichen anderen Fällen ist lediglich die Gottheit dargestellt, meist verbunden mit den Tieren, die ihr dienen und in denen sich ihre Eigenart manifestiert. So lernen wir nicht nur einen Teil des kretischen Pantheons kennen, sondern gewinnen zugleich einen Einblick in seine Beziehungen sowohl zu der kleinasiatischen wie zu der sich unter ihrer Einwirkung weiter ausgestaltenden griechischen Religion374. Die auf dem Berge stehende Göttin mit den Löwen kehrt wieder auf Siegelabdrücken aus Knossos und Zakro, in stolzer Haltung, die ausgestreckte Rechte hält den gebieterisch vorgestreckten Stab, der Löwe zu ihrer Seite schaut gehorsam zu ihr auf375. Sie ist die große Naturgöttin Kleinasiens, die Rhea der Kreter, die auf den Bergen haust und der die Tiere des Waldes, vor allem die Löwen, dienen (Bd. I, 485). Wir dürfen sie in einer Gemme aus Mykene wiedererkennen, wo sie mit kretischem Rock und nacktem Oberkörper gebildet ist und zwei Löwen, ihr dienend, in üblicher Weise antithetisch gestellt zur Seite stehn376. Weiter gehören die auf Kreta wie in Griechenland weitverbreiteten Gemmen hierher, [195] auf denen eine Göttin einen Widder oder Bock packt oder auch, auf den Meereswellen stehend, mit jeder Hand einen Schwan am Flügel ergriffen hat377. Wir dürfen darin die große Jagdgöttin (Artemis) erkennen, die im Kultus und Mythus der altgriechischen Welt durchweg als eine der am mächtigsten ins Leben eingreifenden Gottheiten erscheint. Auch ein Karneol aus Kreta wird sie darstellen, auf dem eine Frau in kretischer Tracht, mit stark hervortretender Brust, knieend den Bogen spannt378. Daneben findet sich ein männlicher Gott, der zwei antithetisch aufgerichtete Löwen packt; auf einem Siegelabdruck aus Knossos ist er schreitend dargestellt, einen Panther zur Seite, mit zylindrischem Türschild, Lanze und Kriegermütze, also zugleich ein Kriegsgott379.

Die eigentliche Verkörperung der kriegerischen Wehr aber ist die Schildgöttin des Goldrings von Mykene. Sie kehrt wieder in dem Gemälde einer Votivtafel aus Mykene, zwischen zwei Adorantinnen380, aber auch auf Siegelabdrücken aus Knossos381. Deutlich sieht man, daß der Kultus an die große Schutzwaffe dieser Zeit, den riesigen Schild aus Rindshaut, anknüpft, und daß diesem dann in der Phantasie – gewiß nicht schon in Kultbildern, wie später bei den Steinhermen und den [196] Brettidolen – ein Kopf mit hoher Zipfelmütze, Füße und eine Hand, die die Lanze hält, angesetzt werden. Es ist das Palladion der Griechen, das Kultbild der die Stadtburgen schirmenden lanzenschwingenden Göttin, der Pallas oder Athenaia Polias, dessen Urform uns hier entgegentritt.

Andere Göttinnen verkörpern die freundliche Seite des Naturlebens. So die Göttin des Goldrings von Mykene, die unter dem Baum sitzt und von den Frauen mit Blumen verehrt wird; man wird sie in der Göttin Helena (δενρῖτις) von Therapne wiedererkennen dürfen, die in Sparta in einer Platane des Platanistas von Jungfrauchören verehrt wird; der Baum wird mit einer Ölspende begossen, ein Kranz von Lotosblüten daran aufgehängt382. Nach einer bei Herodot erzählten Legende verleiht sie den Kindern Schönheit. So berührt sie sich mit der oben erwähnten Göttin der Zeugung und Fruchtbarkeit, die wie in Babylonien und auf Cypern, aber auch in rohen Idolen der Balkanhalbinsel (Bd. I, 509) die Brüste mit den Händen faßt (vgl. S. 163, 1). Diese selbst scheint identisch mit der Taubengöttin, deren Kultbau in Weihgeschenken in Knossos und Mykene nachgebildet ist. Sie selbst ist in Goldblechornamenten aus Mykene mehrfach dargestellt und zwar nackt, also nicht in kretischer, sondern in der aus Babylonien stammenden und durch Cypern übermittelten Auffassung; eine Taube sitzt auf ihrem Kopf, andere flattern um sie herum. Unter dem wohl gleichfalls aus der Fremde entlehnten Namen Aphrodite hat diese Göttin von Cypern sich weithin über das ägaeische Meer und nach Griechenland verbreitet.

Im »Temple Repository« des Palastes von Knossos haben sich neben zahlreichen Weihgeschenken auch drei Fayencefiguren [197] von Frauen in der raffinierten kretischen Tracht gefunden, die in den Händen Schlangen tragen; eine vierte aus Elfenbein und Gold ist nach Boston gekommen383. Bei der Hauptfigur winden sich die Schlangen auch um Gürtel, Arme und Kopf, bis hinters Ohr; eine weitere schlingt sich um ihre hohe Haube und ragt mit dem Kopf an dieser hervor384. Man wird in dieser Gestalt wohl eine Göttin im Kostüm der Schlangenbeschwörerinnen erkennen müssen, während die übrigen eher diese letzteren darstellen, ebenso wie bei einer kleinen, ganz rohen Frauenfigur aus einem Kultraum in Palaekastro, die eine aufgerichtete Schlange am Arm hält und von drei anderen Frauen umtanzt wird385. Dann hätten wir also auch hier zwar nicht ein Kultbild – dazu ist die Figur (34 Zentimeter hoch) viel zu klein –, aber wohl eine Vorstufe dazu386. Jedenfalls aber haben wir es hier mit einem Kult zu tun, in dem der Schlangenzauber eine Hauptrolle spielte. Kultische Verehrung von Schlangen ist daraus jedoch nicht zu folgern; vielmehr kommen Schlangen in den Kultdenkmälern niemals vor, so wenig wie etwa Skorpione und ähnliches Getier. So wird es sich eher um die, in den Wohnstätten und auf den Feldern im warmen Klima ja ganz unentbehrliche Aufsuchung und Vertilgung der Schlangen handeln, für die, wie im Orient überall bis auf den heutigen Tag, die daran anknüpfenden Kulthandlungen magische Kraft gewährten.

Dieser Göttin scheinen als Votivgaben die hohen, ihrem Kopfputz gleichartigen kegelförmigen Hauben von Ton anzugehören, die sich bereits in einem Kultraum von Gurnia [198] aus der Blütezeit, und dann später mehrfach in Kumasa und Prinia gefunden haben, mit schlangenförmig sich windenden Griffen zu beiden Seiten und einem an die Vorderseite gesetzten Kulthorn. Bei zwei ähnlichen hohen Hauben aus Hagia Triada ist darunter noch ein ganz roher Kopf erhalten387. Sie entsprechen der hohen Mütze der kleinasiatischen Göttermutter, aus der sich die Mauerkrone entwickelt hat. Gleichartige Aufsätze, an denen sich Schlangen ringeln und auf deren Henkeln und fensterartigen Öffnungen Vögel sitzen, haben sich jetzt in dem Tempel von Betše'an in Palaestina aus der Zeit Sethos' I. gefunden388. Auch hier tritt die Verbindung mit dem Osten deutlich hervor.

Im allgemeinen ist es für den Charakter der kretischen Religion bedeutsam, daß von Naturobjekten zwar Bäume (und wohl auch andere Pflanzen) sowie hölzerne und steinerne Pfähle als Sitze der Gottheit eifrig verehrt werden, ferner Schilde und Doppeläxte, daß sich aber von dem in anderen Religionen und auch bei den Griechen eine so große Rolle spielenden Tierkultus nichts findet389 – denn die Löwen sind nur Begleiter der Göttin, ebenso die Tauben und andere Vögel. Die großen Naturmächte werden durchweg weiblich gedacht, als gebärend und daher schöpferisch. Die männlichen Gottheiten treten dem gegenüber ganz zurück; auch der kretische Zeus, wie wir ihn aus der griechischen Überlieferung kennen lernen, ist ja in erster Linie der Sohn der großen Naturgöttin und wirkt nicht ewig, sondern wird in jedem Jahre neu geboren und stirbt wieder, wie die entsprechenden Götter Kleinasiens.

[199] Neben der Götterwelt steht die der Dämonen, die als unheimliche, gespenstische Wesen von der Phantasie reich ausgestaltet und auf den Siegeln vielfach abgebildet werden390; hier tritt der kleinasiatische und der durch ihn vermittelte babylonische Einfluß besonders stark hervor. Daneben steht als einziges auf diesem Gebiet aus Ägypten übernommenes Element das Bild der Nilpferdgöttin Tuëris391. In den Darstellungen erscheinen auch diese Dämonen nicht selten im Dienst der Götter und bringen ihnen Trankopfer dar392. In Sagen und Mythen haben sie ohne Zweifel eine große Rolle gespielt, und manches davon wird weiter gewandert und in die Erzählungen der Griechen eingedrungen sein. So zeigt der Rest eines Siegelabdruckes aus Knossos einen Kahn mit einem kretischen Schiffer darauf, der von einem Seeungeheuer angefallen wird, und ruft die Erinnerung an die Skylla wach393; und wenn auf dem Abdruck eines anderen knossischen Siegels vor einem mit zahlreichen Ruderern bemannten Kriegsschiff ein riesiges Pferd steht394, kann man kaum umhin, darin die älteste Gestalt der Sage vom trojanischen Pferd zu suchen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 181-200.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Gespenstersonate

Gespenstersonate

Kammerspiel in drei Akten. Der Student Arkenholz und der Greis Hummel nehmen an den Gespenstersoirees eines Oberst teil und werden Zeuge und Protagonist brisanter Enthüllungen. Strindberg setzt die verzerrten Traumdimensionen seiner Figuren in steten Konflikt mit szenisch realen Bildern. Fließende Übergänge vom alltäglich Trivialem in absurde Traumebenen entlarven Fiktionen des bürgerlich-aristokratischen Milieus.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon