Die Sage von der Rückkehr der Herakliden

[232] Herakles, so berichtet die Sage, leistete auf einem seiner vielen Kriegszüge dem Ägimios, dem König der Dorier, eines kleinen griechischen Volksstammes, der damals im nordwestlichen Thessalien saß, Hilfe gegen die Lapithen, und erhielt zum Lohn dafür von Ägimios den dritten Teil seines Landes. Als der Held nach der Einnahme von Oichalia auf dem Gipfel des Öta aus den Flammen des Scheiterhaufens in den Himmel emporgestiegen war und seine Nachkommen vor der Verfolgung des mykenischen Königs Eurystheus nirgends Schutz fanden, nahm Ägimios sie auf, adoptierte des Herakles Sohn Hyllos und hinterließ ihm die Herrschaft. Nach Hyllos und den beiden echten Söhnen des Ägimios, Pamphylos und Dymas, haben die drei Phylen der Dorier ihre Namen erhalten. Aus Thessalien zogen die Dorier an den Südfuß des Öta, wo ehemals die Dryoper gesessen hatten, die, von Herakles verjagt, nach Euböa und Argolis ausgewandert waren (vgl. o. Bd. II 1, 270). Von hier machten sie den Versuch, den Peloponnes zu erobern, auf den die Herakliden sowohl als Nachkommen des Perseus wie auf Grund der Siege des Herakles Anspruch erhoben. Aber die ersten Züge scheiterten, erst nach einem Jahrhundert gelang den Urenkeln des Hyllos, den drei Söhnen des Aristomachos, die Eroberung. Bei Naupaktos in Lokris wurden die Schiffe gebaut – das ist eine sehr unpassend aus dem Namen »Schiffswerft« herausgesponnene Erzählung, denn Naupaktos liegt für den Weg von Doris nach dem Peloponnes weit abseits. Tisamenos, der König von Argos und Sparta, der Sohn des Orestes, wurde geschlagen, sein Volk, die Achäer, räumte seine Wohnsitze und suchte sich im Ionierlande an der Nordküste des Peloponnes eine neue Heimat (vgl. Bd. II 1, 281, 2). Nur Arkadien blieb von der Eroberung unberührt. Elis wurde dem Ätoler Oxylos gegeben, der den Doriern den Weg gezeigt hatte, alles andere Land von den Doriern besetzt. Von den Söhnen des Aristomachos erhielt Temenos durch das Los Argos, Kresphontes Messene, die Zwillingskinder Eurysthenes und Prokles, welche der frühgestorbene Aristodemos hinterlassen hatte, Lakonien; so entstand [233] das lakonische Doppelkönigtum. Temenos' Söhne und Enkel eroberten die kleineren argivischen Städte und führten die Dorier nach Kreta. Korinth wurde einem anderen Herakliden, dem Aletes (auch Pindar Ol. 13, 14) gegeben. Von diesen Fürsten stammen die dorischen Königsgeschlechter ab. Aber nur in Argos führt das Herrscherhaus den Namen Temeniden nach seinem Stammvater; die Könige von Messenien heißen Äpytiden, die von Sparta Agiaden und Eurypontiden, die von Korinth Bakchiaden nach den Söhnen oder späteren Nachkommen der Eroberer371.

Die Sage von der »Rückkehr der Herakliden« ist Gegenstand zahlreicher Epen geworden (Herod. VI 52). Diesen, nicht der volkstümlichen Überlieferung, verdankt sie ihre Gestalt. Wirklich volkstümliche Züge fehlen gänzlich, die Erfindung ist matt und äußerst dürftig, von dem Kampf mit der einheimischen Bevölkerung ist kaum die Rede, vergeblich sucht man von der Art, wie der Peloponnes erobert wird, ein Bild zu gewinnen372. Durchaus strebt die Erzählung dahin, möglichst rasch von den Zuständen der Heroenzeit zu denen der Gegenwart zu gelangen; sie macht den sehr naiven Versuch, den Ursprung der neuen Ordnung auf die einfachste Weise, durch Verlosung der Gebiete unter gleichberechtigte Brüder, zu erklären. Lebhaft erinnert die ganze Erzählung an die Art, wie im Buche Josua die Eroberung Palästinas durch die Hebräer geschichtlich gestaltet wird. Aus Rücksicht auf die Sagenchronologie kann der Eroberungszug erst von der vierten Generation nach Herakles, nach dem troischen Krieg und dem Ende der eigentlichen Heroenzeit, unternommen werden. Genauer orientiert ist der Verfasser nur über Argos, das durchaus als die Vormacht der peloponnesischen Dorier erscheint; hier kennt er den Temenos, den Eponymos des Herrschergeschlechts. Für die anderen Staaten muß er zu willkürlichen Namen greifen373; und so läßt die Anknüpfung der Eponymen der realen Fürstengeschlechter [234] an fiktive Heroengestalten auch hier ähnlich wie bei den äolischen, ionischen, attischen Stammbäumen die Fuge erkennen, welche Sage und Geschichte verbindet. Daß diese Erzählung allgemein rezipiert ist, beweist nicht, daß sie auf einheimischen Traditionen beruht, sondern daß die Erinnerung an die Zeit der Einwanderung längst geschwunden war. Die peloponnesischen Dorier haben sich ihre Urgeschichte von der Dichtung, die mit der gewaltigen Autorität eines Literaturwerkes auftrat, ebensogut oktroyieren lassen wie die Römer und die übrigen italischen Stämme. Und doch haben die Spartaner wenigstens dagegen protestiert, daß sie unter Führung zweier Säuglinge ihr Land erobert hätten: Aristodemos sei erst nach der Eroberung gestorben. Auch ständen sich die Zwillinge in Wirklichkeit nicht gleich: Eurysthenes, der Stammvater des angeseheneren Königshauses der Agiaden, sei der ältere und geehrtere (Herod. VI 52, vgl. zu Aristodemos Xen. Ages. 8, 7)374. Ebenso widersinnig ist es, daß der Eponymos der ersten der drei dorischen Phylen nicht ein Sohn des Ägimios ist wie die der beiden anderen, sondern von ihm adoptiert wird und dann doch seinen Adoptivbrüdern vorangeht. Deutlich liegt hier der Versuch vor, zwei verschiedene Versionen miteinander auszugleichen. Ägimios ist der eigentliche Stammvater der Dorier, der Ordner ihres Staats, nach dessen Satzungen der dorische Mann lebt; die Ahnherren der dorischen Phylen müssen daher seine Söhne sein375. Andrerseits gelten die Könige, die zur Phyle der [235] Hylleer gehören, für Herakliden; da aber Herakles nach gemeingriechischer Tradition kein Dorier, sondern ein Argiver (Achäer, Herod. V 72) oder Thebaner ist, so ließ sich ein Ausweg nur auf dem Wege finden, daß Hyllos eigentlich sein Sohn ist, aber von Ägimios adoptiert wird.

Um die Mitte des 7. Jahrhunderts singt Tyrtäos in Sparta: »Zeus selbst hat den Herakliden diese Stadt gegeben, mit denen zusammen wir (d.i. die Dorier) Erineos verlassen haben376.« Damals also stand die Heraklidensage bereits in den Grundzügen fest und war in Sparta rezipiert. In der Folgezeit sind mancherlei Erweiterungen und Umgestaltungen hinzugekommen. Die Athener erfanden für den Tod des Kodros (vgl. Herod. V 76) einen Angriffskrieg der Dorier, bei dem Megara von ihnen besetzt sein soll; die Tragiker suchten Athen und den Theseus überall in die Heraklidengeschichte einzudrängen. Demgegenüber versuchten die Historiker die Erzählung in wirkliche Geschichte umzusetzen. Vor allem hat das Ephoros getan, der z.B. die Gestalt des Verräters Philonomos einführte, welcher die Achäer zum Abzug aus Amyklae bewegt und den Versuch machte, von der Organisation der Landschaften ein Bild zu gewinnen. Daß in Sparta und Messenien die Königshäuser nicht nach den Begründern der Dynastien, sondern nach deren Nachfolgern benannt sind, erklärte er daraus, daß jene die unterworfene Bevölkerung begünstigt, diese die Alleinherrschaft der Dorier wiederhergestellt hätten (Strabo VIII 4, 7. 5, 4)377. Im übrigen richten die späteren Darstellungen ihr [236] Augenmerk in erster Linie nicht mehr auf Argos, sondern auf Sparta378. Die jüngste Überlieferungsschicht379 hat eine allmählich fortschreitende, Jahrhunderte andauernde Eroberung Lakoniens durch die Dorier ausgemalt und dazwischen Kämpfe mit den Arkadern eingelegt. Doch lohnt es sich nicht, bei diesen Erzählungen, in denen man neuerdings vielfach authentische Geschichtsüberlieferung zu besitzen geglaubt hat, länger zu verweilen.

Wenn wir so aus der Sagengeschichte über den Verlauf der Eroberung des Peloponnes keinerlei Aufschluß erhalten, so bleiben doch eine Reihe von Voraussetzungen als Grundlagen der Erzählung übrig, deren Wert genauer geprüft werden muß. Hierher gehören außer den tatsächlichen Verhältnissen, in die die Sage ausläuft, die schon besprochene Gestalt des Ägimios und die drei dorischen Phylen380. Die Phylen der Hylleer, Pamphyler und Dymanen sind in den meisten dorischen Staaten nachweisbar, in Argos, Sparta381, Megara, Korinth (und Korkyra), Sikyon, Nemea, Trözen (und Halikarnaß), auf Kreta, Thera, Rhodos (und Agrigent), Kos, Kalymna.

Weit schwieriger ist es, über die Bedeutung des Herakles im Stammbaum zur Klarheit zu gelangen. Betrachteten die Könige [237] von Argos und Sparta sich als seine Nachkommen, weil die Dichter ihren Stammbaum auf ihn zurückführten? Oder hat umgekehrt die Dichtung einen bereits vorhandenen Glauben aufgenommen und gestaltet? Diese Frage läßt sich nur durch eine Untersuchung der verwickelten Geschichte des Heraklesdienstes beantworten.

Herakles ist ein Gott, dessen Kultus fast ausschließlich auf das östliche Mittelgriechenland beschränkt ist. In Böotien und Attika hat er fast in jeder Ortschaft sein Heiligtum, ebenso am Öta und bei den Thermopylen; auch in Megara und Achaia (z.B. in Bura) wird er eifrig verehrt. Von hier aus ist er nach Sizilien und Unteritalien gekommen, wo wir seinen Kultus nahezu in allen Kolonien finden. Vor allem durch die chalkidischen Ansiedlungen in Kampanien (vgl. Herculaneum) ist er in sehr früher Zeit zu den italischen Stämmen gedrungen. Daraus und ebenso aus seinem Dienst im Gebiet von Leontini (Diod. IV 24) dürfen wir schließen, daß er auch in Chalkis auf Euböa verehrt wurde; darauf weist auch der Kampf mit den Söhnen des Proteus auf der Chalkidike (Apdr. II 5, 9 u.a.) hin. Sonst findet er sich noch in Erythrä in Ionien (Pausan. VII 5, 5. Strabo XIII 1, 64; vgl. auch die Herakleen in Teos IGA. 497). Dem übrigen Griechenland dagegen ist – von ganz vereinzelten und offenbar sekundären Ausnahmen abgesehen – sein Kult vollständig fremd, weder in Thessalien und im westlichen Mittelgriechenland (Phokis, Lokris, Ätolien) noch im Peloponnes, noch in Äolis und im übrigen Ionien, noch auf Cypern und in Pamphylien findet sich von einem Gotte Herakles eine Spur. Für das Epos ist Herakles nur ein Held der Vorzeit, der mit Hilfe der Götter große Taten verübt hat, so gut wie Achill oder Agamemnon. Und auch in Argos und Sparta hat er keine Heiligtümer, die Inschriften nennen ihn nicht, nur heroische Ehren werden ihm zuteil. Das kontrastiert aufs stärkste zu der Art, wie z.B. die Tyndariden in Sparta verehrt werden, die doch auch nach gemeingriechischer Anschauung nur Heroen sind. Da der Gott notwendig älter ist als der Heros, Herakles aber kein dorischer Gott ist, so folgt, daß die herrschende Auffassung, welche den Ursprung des Herakles bei den Doriern sucht, falsch ist. [238] Mit Recht gilt der gesamten Griechenwelt Theben als seine Geburtsstätte382.

Schon als, Kind hat Herakles, der Sohn des Zeus, seine Kraft gezeigt. Herangewachsen bezwingt er mit Bogen und Keule die Ungeheuer, Löwen und Stiere, Riesen (Giganten), Kentauren und Amazonen, den Geryones, Kyknos, Antäos, den gewaltigen Bogenschützen Eurytos, der mit ihm um die Meisterschaft wetteifert. Mit dem Meergreis oder dem Flußgott Acheloos hat er gerungen und ihn gebändigt. In all diesen Kämpfen steht Athena, die große Göttin von Böotien und Attika, ihm helfend zur Seite, sie schirmt ihn gegen die Tücke seiner Feinde, namentlich seiner unversöhnlichen Gegnerin Hera. Aber seine glänzende Laufbahn nimmt ein jähes Ende, schließlich fällt er der Macht seiner Gegner anheim (vgl. Il. Σ 117). In den verschiedensten Varianten tritt uns dieser Zug entgegen, teils als Wahnsinn, der ihn erfaßt und in dem er sein Weib und die eigenen Kinder tötet, teils als Hinabsteigen in die Unterwelt (Kerberos, Admetos), teils als Selbstverbrennung auf dem Gipfel des Öta, teils in abgeschwächter Gestalt als Dienstbarkeit bei dem Feigling Eurystheus oder dem Weibe Omphale, [239] ähnlich wie Apolls Dienstbarkeit bei Admetos ursprünglich eine zeitweilige Knechtschaft beim Totengotte ist. Aber wie Apollo ist auch Herakles dem Tode nicht dauernd untertan; er bändigt den Höllenhund und führt ihn ans Tageslicht, er verwundet den Hades (Il. E 395), er entreißt dem Tode sein Opfer Alkestis, aus den Flammen des Scheiterhaufens steigt er zum Olymp empor, er gewinnt die Äpfel der Hesperiden und fährt im Becher des Sonnengottes über den Ozean, oder er jagt, wie bildliche Darstellungen zeigen, den Dämon des Alters in die Flucht, er erringt die Hand der Hebe und lebt, nachdem seine Mühen beendet sind, in ewiger Jugend und ewigem Glück. Das alles sind verschiedene Einkleidungen und Ausmalungen derselben Grundidee. Danach gehört Herakles zu den großen Göttern, in deren Leben der Kreislauf der Natur Ausdruck gewonnen hat. Die Sagen von seinen Taten und Schicksalen sind denen von Zeus und Dionysos, von Apollo und Demeter völlig gleichartig, er ist ein Gott wie der ägyptische Osiris, der babylonische Tammuz, der kleinasiatische Sabazios, der kretische Zeus. Besonders stark tritt seine Verwandtschaft mit Apoll hervor383. Auch Apoll ist ein Bogenschütze, auch er bezwingt die Unholde und tötet den Eurytos (Od. ϑ 224), auch er gerät in fremde Dienstbarkeit, und ähnlich wie Apoll ist auch Herakles am Öta und in Erythrä ein Abwehrer der Heuschrecken und Holzwürmer (Strabo XIII 1, 64). Auch sonst hat Herakles im griechischen Mythus viele Verwandte, vor allem gerade in seiner Heimat. Theseus ist von Haus aus sein Doppelgänger, nicht nur durch spätere Übertragung, alle seine Taten sind Varianten der Heraklestaten, auch Peirithoos und Ödipus sind gleichartige Gestalten.

Eine Gottheit wie Herakles setzt sich mit Naturnotwendigkeit immer mehr in eine vergötterte Heldengestalt um; die Mythen, welche ursprünglich einen unmittelbar aus dem Gottesbegriff verständlichen Sinn hatten, werden zu Erzählungen von den Taten, die er auf Erden vollbrachte, ehe er den Eintritt in die Götterwelt gewann. Dadurch verlieren sie ihre ursprüngliche Bedeutung und [240] erleiden immer neue Umgestaltungen. Auch rein geschichtliche Sagen setzen sich an, so die Erzählungen von der Eroberung Oichalias durch Herakles, die mit dem Eurytosmythus verbunden wird, oder von seinen Kämpfen gegen Orchomenos. Diese Erzählungen können von Ort zu Ort wandern, selbst wenn sich der Kultus des Gottes nicht weiter verbreitet. So ist es durchaus begreiflich, daß uns Herakles nicht im Kultus, aber als Heros, dessen ruhmreiche Taten man sich soviel wie möglich aneignen möchte, zunächst bei den Doriern in Argos und dann auch bei den übrigen peloponnesischen Stämmen begegnet384. Zum Argiver freilich konnte man ihn nicht machen (vgl. Bd. II 1, 250, 2); aber man leitete sein Geschlecht von dem argivischen Quellheros Perseus385 ab, man ließ ihn dem König Eurystheus von Mykene dienen, alle seine Taten wurden in den Peloponnes versetzt, der Löwenkampf vom Kithäron nach Nemea, der Kentaurenkampf aus Thessalien [oder vom Acheloos] auf das Pholoegebirge in Elis, Oichalia vom Spercheiostal nach Messenien, der Abstieg in die Unterwelt vom Laphystion bei Koronea (Pausan. IX 34, 4) nach Trözen oder Hermione oder dem Tänaron, der Kampf mit Hades nach Pylos. Neue Sagen wurden hinzugebildet, die Bezwingung der Hydra, d.h. des Quellsumpfs von Lerna, die Verjagung der Vögel von Stymphalos, die Bändigung des erymanthischen Ebers, des kretischen Stieres. Auch in fremde Sagen wird er eingeführt: Pylos hat er erobert und den Neleus erschlagen, Troja zerstört, am Argonautenzug teilgenommen. Alle diese Erzählungen sind der späteren Übertragung der Heraklessagen nach Italien (Kampanien, [241] Rom) oder Heraklea am Pontos oder auf die Chalkidike vollständig gleichartig, nur um eine Schicht älter. Daß Herakles in ihnen – abgesehen vielleicht von einigen untergeordneten Erzählungen, wie dem Kampf gegen Pylos – der Repräsentant der Dorier wäre und seine Taten von diesen geschaffen seien, um »ihre eigenen Eroberungen vorzubilden und zu rechtfertigen« (O. MÜLLER), ist ganz unerweisbar, den meisten fehlen namentlich in ihrer älteren Gestalt derartige Beziehungen durchaus386.

Vom Peloponnes aus haben sich die Heraklessagen weiterverbreitet, vor allem auf die dorischen Inseln, wie Rhodos und Kos (Il. Ξ 255. O 25). Von hier aus sind sie den ionischen Sängern bekannt geworden; die Blütezeit des Heldengesanges kennt einen ganzen Zyklus zusammenhängender Heraklestaten. Daß in ihnen die argivischen Traditionen durchaus vorherrschen, erklärt sich nicht nur aus der geschichtlichen Entwicklung; auch an sich ist es ganz natürlich, daß die Dichtung, der es lediglich auf den Stoff ankommt, nicht an den Gott anschließt, sondern an den religiös indifferenten Helden der Sage. Durch das Epos ist der argivische Herakles der gesamten Griechenwelt als der ruhmreichste aller Helden bekannt geworden, der die ganze Welt siegreich durchzogen und den Tod bezwungen hat, der nach unendlichen Mühen in den Himmel aufgestiegen ist. Diesem Herakles ersteht allmählich überall ein heroischer Kult; an ihn und seine Züge denken die Krotoniaten, wenn sie ihn als Gründer ihrer Stadt betrachten, die Kymäer, wenn sie am Vesuv, die Megarer und Böoter, wenn sie am Pontos ein Heraklea gründen, an ihn, der zugleich der Ahnherr ihres Stammes ist, die Tarentiner, wenn sie am Siris, die Spartaner, wenn sie am Eryx ein Heraklea anlegen. Auch das Heimatland des Herakles muß sich, obgleich widerstrebend, diesen [242] fremden Anschauungen anbequemen, wahrt sich dabei aber immer den Kultus des Gottes387.Die Anknüpfung der dorischen Fürstengeschlechter an Herakles ist somit der der äolischen an Agamemnon vollständig gleichartig: weil Herakles ein bei den Doriern vielbesungener Held ist, betrachten Dichtung und Volksglaube ihn als Ahnen der Herrscher. Ebenso wird das thessalische Herrschergeschlecht der Aleuaden von Herakles abgeleitet (Pindar Pyth. 10). Zum Teil ist die Anknüpfung direkt geschehen. Von Herakles' Söhnen zieht Phästos von Sikyon nach Kreta und erbaut die Stadt seines Namens (Pausan. II 6, 7), Tlepolemos gründet die rhodischen Städte (Il. B 653ff.), Thessalos und seine Söhne herrschen auf Kos und den benachbarten Inseln (Il. B 676). Für den Peloponnes war dieser einfachste Weg durch die Sagengeschichte unmöglich gemacht – wenn er auch in Korinth, wo das Herrschergeschlecht an den Heraklessohn Antiochos anknüpft, und in Sikyon (Pausan. II 6,7) versucht zu sein scheint. Man half sich damit, daß man den Hyllos, den Eponymen der eisten dorischen Phyle, der die Könige angehörten, zum Sohn und Erben des Herakles machte; so ist Hyllos in die Sagen von Herakles' Tod verflochten worden, so werden die Herakliden zu Repräsentanten und Führern der Dorier. Wenn man sich ursprünglich – wie in der Tlepolemossage – Herakles' Nachkommen ruhig im Lande wohnend dachte, so erging es ihnen jetzt ähnlich wie den Ahnherren der Hebräer: sie mußten den Peloponnes verlassen, um ihn später wieder erobern zu können. Schließlich hat man dann aus Herakles' Taten Rechtsansprüche für die dorische Wanderung abgeleitet: er habe die Länder ererbt oder erworben, welche seine Nachkommen später ihren widerrechtlichen Besitzern entrissen. Das ist aber nicht der Ausgangspunkt, sondern die letzte Entwicklungsstufe der peloponnesischen Heraklessagen.

[243] Daß dies der Hergang gewesen ist, können wir in manchen Fällen noch mit Sicherheit erweisen. Als der Heraklide, welcher Kreta besetzt, wird Temenos' Enkel Althaimenes genannt; Althaimenes erscheint aber in einer viel älteren Sage als Enkel des Minos und ältester Besiedler von Rhodos388. Aipytos, der Eponymos des messenischen Königshauses, ist nicht zu trennen von dem in zahlreichen Sagen Arkadiens erscheinenden Aipytos, dessen Grab am Kyllene bereits der Schiffskatalog erwähnt (Il. B 604, vgl. auch Hesiod fr. 113 Rz.). Temenos von Argos wird in Arkadien in Stymphalos als Sohn des Pelasgos und Begründer des Herakults (Pausan. VIII 22, 2), in Psophis als Sohn des Phegeus (Pausan. VIII 24, 10) genannt; hier ist die Gestalt vermutlich aus Argos nach Arkadien gedrungen, umgekehrt wie in Messene. Besäßen wir reicheres Material, namentlich auch über Sparta, so würden uns wohl noch mehr derartige Homonymien entgegentreten. Sie sind ein deutlicher Beweis dafür, daß die Ableitung der dorischen Herrscherhäuser von Herakles keineswegs zu allen Zeiten bestanden hat und man ihre Eponymen daher auch an ganz andere Sagengestalten anknüpfen konnte, ja daß sie mehrfach erst recht jungen Ursprungs ist389.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 232-244.
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