Religion und Kultur

[259] Nirgends in der griechischen Welt haben sich so primitive Zustände erhalten wie in Sparta und auf Kreta. Die Volksgemeinde versammelt sich täglich zu gemeinsamen Mahlzeiten, ein Privatbesitz an Grund und Boden existiert ursprünglich nicht, die Heiligkeit der Ehe ist dem spartanischen Recht unbekannt, der Rat der Alten besteht in Sparta allezeit aus wirklichen Greisen über 60 Jahre. Daraus folgt, daß die Dorier, als sie in den Peloponnes einbrachen, noch auf einer ganz niedrigen Kulturstufe gestanden haben. Da sie in großen Massen eindrangen, haben sie wie die Germanen im römischen Reich ihre staatlichen und rechtlichen Institutionen und – anders als diese – auch ihre Sprache bewahrt. In der Religion dagegen zeigen die einzelnen dorischen Gebiete die größte Verschiedenheit. Es gibt keine einzige religiöse [259] Gestalt, die wir als spezifisch dorisch bezeichnen, und abgesehen von den in der ganzen griechischen Welt gleichmäßig verehrten Göttern Zeus, Athena, Apollo keine, die wir mit irgendwelcher Sicherheit den Doriern vor der Eroberung des Peloponnes zuschreiben könnten422. Überall haben sie, auch hierin den Germanen gleich, die Gottesdienste und Heiligtümer der Besiegten übernommen. In Lakonien verehrt man den Apollo von Amyklä, den Poseidon vom Tänaron, in Argos die Hera, in Epidauros den Asklepios, in Trözen den Poseidon, in Hermione die Demeter Chthonia. Die kretische Religion ist durchaus kleinasiatisch geblieben und hat die Fülle lokaler, ihrem Ursprunge nach ungriechischer Gestalten, den kretischen Zeus (vgl. Bd. I, 724. II 1, S. 134), Rhea, Britomartis, Diktynna, die Kureten, vermutlich auch die Hellotis (Bd. II 2, 115) u.a. beibehalten. In beschränkterem Maße gilt das gleiche von Rhodos, wo der Zeus Atabyrios und wohl auch die Telchinen und Helios kleinasiatischen Ursprungs sind. Auf Kos verehrt man den Asklepios, in Knidos die Aphrodite und die Demeter. Die weiteste Verbreitung haben der Apollo Karneios (o. S. 254) und der Apollo Pythios oder Pythaeus, der uns in Argolis und auf Kreta überall begegnet ist und auch in Sparta vorkommt (Pausan. III 10, 10. 11, 9). Mit ihm könnte man den triopischen Apollo verbinden. Doch ist gerade der pythische Apollo schwerlich spezifisch dorisch, da wir seinen Dienst auch in Arkadien und vor allem in Delphi finden423. Vielmehr wird man sagen müssen, daß den Doriern wie den übrigen griechischen Stämmen (vgl. Bd. II 1, 284.) Apollo einer der mächtigsten Götter war, daß sie daher seine Kultusstätten mit besonderem Eifer übernahmen und pflegten und an sie gern den Schutz größerer landschaftlicher Verbände anknüpften.

[260] Was sich für das Verhältnis zwischen den Doriern und der älteren Bevölkerung aus diesen Tatsachen ergibt, wird man noch weiter ausdehnen dürfen. Auch die verheerendste Invasion vermag eine Kultur nicht mit einem Schlage zu vernichten, und selten ist ein eroberndes Volk, das auf niedriger Kulturstufe steht, geneigt, auf die materiellen Errungenschaften der unterworfenen Kulturgebiete freiwillig zu verzichten. Daher ist die landläufige Vorstellung falsch, die Dorier hätten der mykenischen Kultur einen jähen Untergang bereitet. Die mykenische Kultur stirbt ab, aber nicht nur in den dorischen Gebieten, sondern überall, weil sie in sich ausgelebt ist so gut wie die römische zur Zeit der Völkerwanderung; und eben dadurch wird, wie schon bemerkt, der Einbruch der Dorier überhaupt ermöglicht sein. Von archäologischer Seite hat man den Ursprung des geometrischen Stils, der in der Vasenmalerei die mykenische Dekorationsweise ablöst, vielfach auf die Dorier zurückgeführt. Aber nicht nur im Peloponnes, sondern überall in Griechenland und weit über dessen Grenzen hinaus löst der geometrische Stil den mykenischen ab; gerade Attika ist einer seiner Hauptsitze. Er ist also eine neue Kunstform, die überall an Stelle des erstarrten und absterbenden älteren Stiles tritt, mithin keine von den Doriern importierte Erfindung424.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 259-261.
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