Athens Eroberungen und der Satrapenaufstand

[439] Die hochfliegenden Erwartungen, mit denen sich Athen seit der Schlacht bei Leuktra getragen hatte, waren in nichts zerronnen; der hellenische Gesamtbund, an dessen Spitze es hatte treten wollen, war über ein schemenhaftes Dasein niemals hinausgelangt. All die Kämpfe, an denen es teilgenommen hatte, hatten ihm nichts eingebracht als den Verlust von Euböa, Akarnanien, der Chalkidike und schließlich den von Oropos. So ist es natürlich, daß der Zweifel, ob Kallistratos die Politik Athens in die richtigen Bahnen gelenkt habe, immer weitere Kreise ergriff. Der im J. 373 gestürzte Timotheos, der nach seiner Rückkehr aus Persien, wo er nichts ausgerichtet hatte, jahrelang in Untätigkeit den Dingen hatte zusehen müssen, kam wieder zu Ansehen und mit ihm die Erben des Kephalos und seiner Genossen, die den neuen Staatenbund gegründet und an Thebens Seite gegen Sparta gekämpft hatten. Wie gewöhnlich entlud sich der Gegensatz in einem Prozeßkrieg. Nach dem Scheitern der auf Persien gesetzten Hoffnungen wurde der Gesandte Timagoras verurteilt (o. S. 432); nach dem Verlust von Oropos klagte Leodamas von Acharnä, der Führer der zu Theben neigenden Partei, einer der gefeiertsten Redner seiner Zeit, den Kallistratos und den Chabrias auf den Tod an775: sie hätten [439] Oropos verraten. Der Vorwurf war freilich absurd, und die zündende Beredsamkeit des Kallistratos erreichte die Freisprechung der Angeklagten. Kallistratos blieb ein einflußreicher Politiker; aber die Leitung des Staats, die er 6 Jahre lang fast wie Perikles behauptet hatte, hielt er nicht mehr in Händen. Iphikrates, der seit Jahren an der makedonischen Küste operierte und daher an diesen Händeln unbeteiligt war, behielt einstweilen sein Kommando; der leitende Stratege dagegen wurde im Hochsommer 366 Timotheos. Unter ihm lenkte die attische Politik in neue Bahnen ein. Von einer Versöhnung mit Theben allerdings wollte die Masse jetzt erst recht nichts wissen – jahrzehntelang haben Leodamas und seine Genossen, Archedemos, Aristophon, Pyrrhandros vergeblich darauf hingearbeitet776, bis in der Not des letzten Kampfes gegen Philipp Demosthenes sie im J. 339 erreichte –, und am Bunde mit Sparta hielt man um so mehr fest, da auch dieses sich jetzt gegen das treulose Persien wandte; Isokrates hat im Archidamos den Sympathien Athens für Sparta Ausdruck gegeben. Aber daneben schloß Kallistratos selbst, den Defensivbund mit Arkadien (o. S. 436); und auch im übrigen war Athen entschlossen, jetzt lediglich für sich selbst zu sorgen. Was hatte die bisherige idealistische Politik, die sich für das Wohl der Hellenen aufopferte, für einen Sinn, wenn die Hellenen Athen in allen vitalen Fragen – in Thessalien, vor Oropos – im Stich ließen? Die Kassen waren leer, die Reichen durch die fortwährenden Steuern und Trierarchien erschöpft, die Menge darbte; man hatte zwar den Bestand der Flotte fortwährend vermehrt von etwas über 100 Trieren im J. 377 bis auf mehr als 250777 – die größeren Schiffe, die Dionys aufgebracht hatte, baute man zur Zeit im Osten noch nicht –; aber sie erfolgreich [440] zu verwenden, fehlte es an Geld und an Matrosen. Der Hauptteil des athenischen Kriegsbudgets wurde von den Soldtruppen verschlungen, die man seit 368 abermals Jahr für Jahr am Isthmos stehen hatte. Es war Zeit, daß Athen wieder materiellen Gewinn aus seinen Kriegen heimbrachte, wenn es als Macht weiter bestehen und nicht im Bankrott zugrunde gehen sollte. Schon der Versuch, Korinth zu annektieren (o. S. 436), gehört in diesen Zusammenhang. Durch den Friedensschluß im Sommer 366 bekam dann Athen die Hände frei; wenn man auch Sparta und den Arkadern nach wie vor bei einem Angriff auf ihr Gebiet zur Hilfsleistung verpflichtet war und wenigstens die letzteren sie alsbald im Kriege mit Elis in Anspruch nahmen, konnte Athen doch jetzt zu Lande abrüsten und sich wieder ganz auf die See werfen. Es lenkte zum drittenmal ein in die Reichspolitik, die Konon und Thrasybul wieder aufgenommen, der neue Bund von 377 dagegen feierlich verworfen hatte. Trotz aller damals gegebenen Verheißungen beschloß Athen aufs neue, überseeische Gebiete zu erwerben und mit attischen Kleruchen zu besiedeln, unbekümmert um die Warnung des Kydias, die Augen von ganz Hellas seien auf Athen gerichtet778.

In Asien lagen die Verhältnisse günstig für Athens Pläne. Artaxerxes II. war uralt; und wenn er immer ein schwacher Herrscher gewesen war, so hatte er jetzt vollends kaum für anderes mehr Sinn als für das Leben im Harem779. Zu einem neuen Feldzug gegen Ägypten kam es nicht mehr. In Kappadokien machte sich Datames (o. S. 309ff.) unabhängig, bemächtigte sich Paphlagoniens, dessen einheimischen Herrscher er früher gefangen an den Hof geführt hatte, besetzte Amisos und eroberte nach längeren Kämpfen Sinope, das er offenbar zu seiner Hauptstadt ausersah. Mit Erfolg behauptete er sich gegen Autophradates von Lydien, der mit einem gewaltigen Heere in Kappadokien einbrach, um ihn wieder zu unterwerfen. Datames war ein Meister in Kriegslisten aller Art – als sein Schwiegervater Mithrobarzanes mit der Reiterei zu den [441] Feinden übergehen wollte, wußte er durch raschen Angriff auf diese zu erreichen, daß auch sie auf die Überläufer einhieben –, und verstand zugleich wie alle griechischen und barbarischen Feldhauptleute dieser Zeit die Kunst, Geld zu machen und die Soldtruppen, ohne zu zahlen, durch Versprechungen und Betrug unter den Fahnen zu halten780. Im Grunde sympathisierten alle Machthaber in Kleinasien mit ihm, vor allem Ariobarzanes von Daskylion und Maussollos von Karien; nur Autophradates von Sardes wahrte wie früher (o. S. 309) dem König die Treue. Ariobarzanes und sein Gesandter Philiskos waren bei der ersten Friedensvermittlung im J. 368 (o. S. 429) in Athen und Sparta mit Ehren überhäuft worden und hatten wie Dionys das attische Bürgerrecht erhalten781. Jetzt, wo der Übertritt des Königs zu Theben die Beziehungen des Reichs zu Sparta und Athen getrübt hatte, hielt Ariobarzanes den Zeitpunkt zur Erhebung782 für gekommen. Er trat in Verbindung mit Datames und mit Ägypten, wo inzwischen anstelle des Nektanebis (der sich aber noch in einem Teile des Landes behauptet zu haben scheint) Tachos zur Regierung gekommen war, vielleicht durch Usurpation. Maussollos hielt sich auch diesmal vorsichtig zurück, [442] obwohl er der Bewegung Erfolg wünschte. Die Verbündeten warben griechische Söldner und rüsteten Heer und Flotte. Außerdem aber wandte sich Ariobarzanes um Hilfe an Sparta und Athen. Beide Staaten waren bereit; sie erhielten dadurch Aussicht, Geld zu bekommen, das sie für ihre Soldtruppen dringend brauchten, und Athen wollte zugleich Land erobern. Von Sparta ging der greise Agesilaos, jetzt von seiner Krankheit genesen, selbst nach Asien – die Verteidigung der Heimat konnte er getrost seinem Sohne Archidamos anvertrauen –, freilich ohne Truppen, als Gesandter783; aber seine Kriegserfahrung und seine Verbindungen waren den Rebellen von hohem Werte. Die Athener entsandten den Timotheos mit dem Auftrag, »Ariobarzanes zu unterstützen, ohne den Frieden mit dem König zu verletzen«. Das war eine Instruktion recht im Stile der Zeit784. Es sollte wohl bedeuten, daß man in Anerkennung des Königsfriedens die Perserherrschaft über das Festland respektieren wolle – freilich ist Timotheos sofort wenigstens mit Erythrä in Verbindung getreten –; in einem Kampf auf seiten der Rebellen gegen die Truppen des Königs sah man dagegen noch keine Friedensverletzung785.

[443] Timotheos ging gegen Ende des Sommers 366 mit 30 Trieren und 8000 Peltasten in See786. Geld nahm er nicht mit, so wenig wie 375 bei dem Zuge nach Korkyra; alle Unternehmungen Athens tragen eben jetzt, wie schon zur Zeit Thrasybuls, im wesentlichen den Charakter eines Raubzuges, der sich in den folgenden Kriegen immer brutaler ausgeprägt hat; es war schon ganz gewöhnlich geworden, daß die attischen Kapitäne und ebenso die Söldner nebenbei etwas Piraterie gegen Freund und Feind trieben787. Timotheos selbst ließ es auch diesmal an Aufopferung nicht fehlen; er nahm Anleihen auf und stellte Wechsel auf seine Rückkehr aus, und im übrigen trieb er »freiwillige Beiträge« von den Bündnern ein und half sich unter anderem dadurch, daß er schlechtes Geld ausgab und alle Fremden zwang, nur bei seinem Heer ihre Lebensmittel zu kaufen, oder daß er auf Samos die Ernte den Besitzern ließ und dafür Geld nahm788. Er warf sich zunächst auf Samos, das die Perser unter Tigranes besetzt hatten; nach zehnmonatiger Belagerung wurde die Stadt genommen (Sommer 365)789. Die Athener schickten 2000 Kleruchen hin, welche alsbald die alten Einwohner (es waren vorwiegend die Nachkommen der Oligarchen Lysanders) wieder einmal verjagten und die ganze Insel in Besitz nahmen; in den Jahren 361 und 352 wurden sie durch neue Kolonisten verstärkt790. – Von Samos aus fuhr Timotheos nach dem Hellespont, um mit Agesilaos zusammen dem Ariobarzanes zu [444] helfen. Dieser war inzwischen durch Autophradates in arge Bedrängnis geraten und wurde in Assos belagert; und auch Maussollos war mit 100 Schiffen eingetroffen. Aber es war beiden Satrapen nicht Ernst mit dem Kriege; als Timotheos und Agesilaos eintrafen, begannen sie Verhandlungen und ließen sich zum Abzug bewegen, ja Maussollos gab dem Agesilaos Geld, so gut wie sein Gegner Ariobarzanes791. Dann befreiten die beiden Griechen das von dem Satrapen besetzte Sestos von einem Angriff des Thrakerkönigs Kotys, und Timotheos erhielt diese Stadt und das benachbarte Krithote zum Geschenk792. Damit hatte Athen endlich auf der Chersones wieder festen Fuß gefaßt. Von Kotys erlangte Timotheos eine große Kontribution. Auch Perinthos, von dem Kotys Gelder erpreßte, scheint er geschirmt zu haben; Philiskos, Ariobarzanes' Vertrauter und Herrscher über Lampsakos, zahlte der Garnison, die in jene Stadt gelegt wurde, den Sold793. Byzanz brachte Timotheos zur Anerkennung der attischen Suprematie zurück794. – Nach diesen Erfolgen, die den Athenern in den heimgesandten Geldern greifbar vor Augen traten, wurde dem siegreichen Feldherrn das Kommando Jahr für Jahr verlängert und im J. 364 zugleich der Krieg gegen Amphipolis und die Chalkidier anstelle des Iphikrates übertragen795. Timotheos hat sich vermutlich zunächst gegen Makedonien gewandt; er entriß diesem die Hafenstädte Pydna und Methone796 und brachte den König – seit 365 war es Perdikkas III., der den ihm aufgedrängten Vormund Ptolemäos (o. S. 426) ermordet hatte797 – zum Anschluß an Athen798. Mit seiner [445] Hilfe bekriegte er die Olynthier. Im J. 363 eroberte er Torone und Potidäa799 und zwang schließlich einen großen Teil der chalkidischen Städte, aus der Union mit Olynth zu Athen zurückzutreten, vorwiegend wohl die Orte der drei Landzungen, die sich nach dem Fall von Torone und Potidäa nicht mehr behaupten konnten; denn den Rumpf der Halbinsel und Olynth selbst hat Timotheos unzweifelhaft nicht unterworfen800. Auch Amphipolis hat er nicht nehmen können; die Stadt fand bei den Thrakern des Kotys Hilfe, der jetzt, nach der Abberufung seines Schwiegersohnes Iphikrates, keinen Anlaß mehr hatte, auf Athen Rücksicht zu nehmen. Im J. 363 wurde Alkimachos, den Timotheos gegen Amphipolis sandte, gezwungen, sich den Thrakern zu ergeben801. – In Potidäa wurde im J. 361 die athenische Kolonie wiederhergestellt, auf Betreiben des athenisch gesinnten Teils der Einwohner selbst; die Gegner waren natürlich verjagt worden802.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 439-446.
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