Der Bundesgenossenkrieg und das Ende der athenischen Macht

[478] In Athen hat man auf die Kunde von dem Abfall der Bundesgenossen alle Kräfte zusammengerafft888. Die Trierarchie, deren Anforderungen nicht mehr zu erschwingen waren – man hatte bereits seit dem Ausgang des Peloponnesischen Kriegs zur Bestellung von zwei Trierarchen für ein Schiff greifen und in den letzten Jahren zu freiwilligen Meldungen seine Zuflucht nehmen müssen –, wurde in rationellerer Weise geordnet, indem man nach dem Muster der 20 Jahre zuvor eingeführten Steuerordnung (o. S. 377) die 1200 reichsten Bürger in 20 Symmorien einteilte und diesen insgesamt, nicht mehr den einzelnen Bürgern, die Ausrüstung der Trieren und die Bestellung eines Trierarchen zuwies889. Die vorhandenen Schiffe wurden nach Kräften instand [478] gesetzt, die Gebiete der treu gebliebenen Bundesgenossen geschirmt. Chares ging, wahrscheinlich Anfang 356890, mit 60 Schiffen zur Bewältigung von Chios vor und griff die Stadt zu Land und zur See an. Aber bereits hatte Chios von seinen Verbündeten und von Maussollos Unterstützung erhalten. Chabrias, der sich als Trierarch auf der Flotte befand – seine Wahl zum Strategen war kassiert worden (o. S. 469f.) – forderte eine Seeschlacht und ging selbst zum Angriff vor; aber die anderen Schiffe folgten nicht, er wurde umzingelt und fand, die Rettung verschmähend, tapfer kämpfend den Tod891. Jetzt mußte Chares den Angriff auf Chios aufgeben; statt dessen versuchte er, den Hellespont zu sperren und Byzanz anzugreifen. Die Verbündeten dagegen vermehrten ihre Flotte auf 100 Schiffe, griffen die Inseln an, verheerten die attischen Besitzungen auf Imbros und Lemnos und wandten sich schließlich zum Angriff auf Samos. Inzwischen hatten die Athener weitere 60 Schiffe mobil gemacht und unter Führung des Timotheos, des Iphikrates und seines Sohnes Menestheus dem Chares nachgeschickt (August 356); die vereinigte Flotte wandte sich zum Entsatz von Samos. Da gaben die Verbündeten die Belagerung auf und fuhren den Athenern entgegen. Im Sunde zwischen Chios und dem Festlande, bei Embata, stießen die Flotten aufeinander. Chares wollte sofort kämpfen; doch die See ging hoch, und Iphikrates und Timotheos erklärten, daß man den Kampf nicht wagen dürfe. Chares mußte sich fügen; aber er sandte einen Bericht [479] voll schwerer Anklagen gegen seine Kollegen nach Athen und beschuldigte sie der Feigheit und des Verrats; durch ihre Schuld sei Athen der sichere Sieg entgangen892. In Athen war man entrüstet; die drei Feldherrn wurden abgesetzt, und Aristophon, ein schon betagter vielgeschäftiger Politiker, der sechs Jahre zuvor selbst nach seiner Strategie auf Keos (o. S. 449, 1) mit Mühe und Not einer Verurteilung entgangen war, erhob gegen sie die Anklage auf den Tod wegen Hochverrats: sie hätten sich von den Feinden bestechen lassen und seien überhaupt nur darauf ausgegangen, ihre Taschen zu füllen. Iphikrates machte aus seiner Verachtung des Anklägers und des wahnsinnigen Treibens in Athen kein Hehl, hatte aber zugleich seine Veteranen zur Einschüchterung des Gerichtshofs aufgeboten. So setzte er seine und seines Sohnes Freisprechung durch. Timotheos dagegen wurde zwar nicht zum Tode, aber in eine Geldbuße von 100 Talenten verurteilt, die selbst er nicht erschwingen konnte893. Er ging ins Exil nach Chalkis und ist hier kurz darauf gestorben.

Seine Rivalen hatte Chares beseitigt; aber selbst einen Erfolg zu erringen, war er nicht mehr imstande. Der Krieg hatte bereits mehr als 1000 Talente gekostet; jetzt waren Athens Finanzen und Steuerkraft erschöpft, und auch von den kleinen noch treu gebliebenen Gemeinden der Bündner ließ sich nichts mehr erpressen. So kam der Seekrieg zum Stillstand. Söldner dagegen hatte man genug, da die entlassenen Truppen der Satrapen (o. S. 477) unter Athens Fahnen geströmt waren. Aber als sie keinen Sold mehr bekamen, forderten sie einen Kriegszug auf [480] eigene Hand, und der Feldherr mußte ihnen nachgeben. Zunächst plünderte er Lampsakos und Sigeon; dann traf ein Hilfsgesuch des Rebellen Artabazos ein, der von den treugebliebenen Satrapen bedrängt wurde: Chares sah sich gezwungen, ihm zu folgen. Die feindliche Übermacht schlug er aufs Haupt, und stolz schrieb er nach Athen, er habe einen zweiten Sieg von Marathon erfochten. Die Athener nahmen die Botschaft, die den ruhmreichen Anfang ihrer Größe mit dem schmachvollen Ende verband, mit Freuden auf, zumal Artabazos jetzt reichlich Geld schickte; zweimal feierten sie ein Siegesfest. Aber nur zu bald wurde ihnen deutlich gemacht, wie es in Wahrheit um sie stehe: König Artaxerxes schickte ihnen ein Schreiben, in dem er seine Mißbilligung in scharfen Worten aussprach und mit Krieg drohte. Einen Augenblick mochten die Athener wähnen, auch dieser Gefahr trotzen zu können; aber lange konnten sie sich der Einsicht nicht verschließen, daß jetzt alles verloren sei. Sie hatten sich an Maussollos nicht heranwagen können; wie sollten sie es mit dem Perserkönig aufnehmen, ohne Geld, ohne Truppen, ohne brauchbare Flotte, wo überdies inzwischen König Philipp in Thrakien im Sommer 356 die Kleruchie Potidäa erobert hatte und den Athenern weiter einen Platz nach dem anderen entriß894. So bequemten sie sich, mit den Rebellen Frieden zu schließen und ihre Unabhängigkeit anzuerkennen (Ende 355)895.

[481] Mit dem Frieden von 355 hörte Athen auf, eine Macht zu sein, die in der Welt etwas bedeutete. Die abgefallenen Inseln hat Maussollos sich alsbald völlig untertan gemacht. Von den verbliebenen lösten die lesbischen Städte wenige Jahre später (um 350) ihre Verbindung mit Athen und fielen der Herrschaft von Tyrannen anheim; Euböa trat um dieselbe Zeit zu Theben zurück; dauernd blieben den Athenern als »Bundesgenossen« nur noch die Kykladen und eine Anzahl kleiner Inseln, dazu einige Punkte in Thrakien und als Eigenbesitz Samos, die alten Klerucheninseln Lemnos, Imbros, Skyros und ein paar Orte auf der Chersones. Die Erschöpfung im Inneren führte dazu, daß jetzt die gemäßigte Partei das Regiment in die Hände bekam, geführt von Eubulos von Probalinthos. Das neue Programm verkündete Isokrates in zwei Broschüren. Die eine, der Areopagitikos, noch vor dem Friedensschluß geschrieben, forderte eine Verfassungsänderung und Rückkehr zu der Verfassung des Kleisthenes; die andere, die die Form einer Rede bei der Beratung des Friedens trägt, tatsächlich aber nach demselben geschrieben ist, fordert Frieden um jeden Preis und Verzicht auf die Herrschaft und die Seemacht. Auch Xenophon hat gleichzeitig durch eine Broschüre, welche Ratschläge zu einer Hebung der Einkünfte bringt, dasselbe Programm vertreten. Ganz ließ es sich freilich nicht durchführen; die leitenden Staatsmänner mußten auf die Stimmung der Menge Rücksicht nehmen, und Athen lag nicht auf einer einsamen Insel ohne Berührung mit der übrigen Welt. An eine Verfassungsänderung war nicht zu denken; und noch stand man nicht nur mit Philipp im Kriege, sondern man hatte sich auch durch den Haß gegen Theben verleiten lassen, eben während des Kriegs gegen die Bundesgenossen ein Bündnis mit den Phokern zu schließen, welche jetzt gegen Theben in Waffen standen. In beiden Fällen konnte Athen sich zu einem Verzicht und zur Anerkennung der bestehenden Tatsachen nicht entschließen; aber es führte den Krieg möglichst lässig und ließ die Dinge gehen, wie sie mochten. Dagegen wenigstens die Chersones wollte man wiederhaben [482] und den 357 mit Kersobleptes geschlossenen Vertrag (o. S. 471f.) zur Wahrheit machen896. Hier hat man denn auch noch einen Erfolg erzielt; im J. 353 (o. S. 471, 3) hat Chares Sestos erobert und durch Abschlachtung seiner Bewohner und Verkauf der Weiber und Kinder in die Sklaverei Athens Namen noch einmal geschändet. – Isokrates' und Xenophons Erwartung, daß, wenn Athen Frieden halte und nur die gerechte Sache vertrete statt des eigenen Gewinns, alle Hellenen es freiwillig als ihren Führer anerkennen und ihm geben würden, was ihm zukomme, Philipp Amphipolis und der Thrakerkönig die Chersones, konnte sich nicht erfüllen. Im übrigen aber haben die beiden 80jährigen Männer, die jetzt alle Hoffnungen zu Grabe getragen sahen, die ihr Leben erfüllt hatten, die Lage richtig beurteilt. Im J. 356 hat Isokrates sich noch mit dem Gedanken getragen, daß König Archidamos sein altes Programm der Einigung von Hellas und des Nationalkriegs gegen Persien verwirklichen könne, und eine an ihn gerichtete Broschüre begonnen (ep. 9); aber er überzeugte sich bald, daß Spartas Macht nicht mehr stark genug sei, um für die Nation noch etwas zu leisten. Jetzt hat er alle Hoffnungen fahren lassen. Seine Friedensrede ist der Widerruf all der hohen Erwartungen, mit denen er 25 Jahre zuvor das Programm entwickelt hatte, das Athen und Hellas erfüllen sollten. Das einzig Mögliche ist die Unterwerfung unter die bestehenden Zustände, die Anerkennung des Königsfriedens, der Verzicht auf die Macht und den Kampf um die Macht, die doch, wie er wohl wußte, den Lebensnerv des wahren Staats bildet. Er lenkt ein in die Gedanken, welche seit Jahrzehnten die Sokratiker verkünden: die Seeherrschaft ist der Fluch von Hellas gewesen, an ihr ist erst Athen zugrunde gegangen, dann Sparta, und jetzt Athen zum zweitenmal. Niemals hat Isokrates in seinen politischen Anschauungen Plato so nahe gestanden wie hier. Er sollte es noch erleben, daß wenige Jahre später seinen Idealen die Erfüllung kam von einer Seite her, von der es jetzt noch niemand ahnte, daß Philipp von Makedonien sich eine Macht schuf, welche [483] willens und zugleich stark genug war, die zerrissene Nation zum Frieden zu zwingen und sie größeren Aufgaben entgegenzuführen. Während seine Landsleute, die nur noch Athen sahen und nicht mehr Hellas, in Philipp den Todfeind Griechenlands erblickten, haben die Götter Isokrates die Kraft verliehen, auch die neue Wendung noch mit jugendlichem Enthusiasmus zu begrüßen; sie haben sein Leben erhalten, bis er die Erfüllung der Ideale, deren Verkündung sein Leben gewidmet war, der nächsten Zukunft gesichert sah.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 478-485.
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