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Die »heilige Chronik« des Euhemeros

[293] An literarischer Berühmtheit überragt freilich diese ganze Literatur ein anderer Roman aus derselben Zeit: die »heilige Chronik« (ἱερὰ ἀναγραφή), in welcher Euhemeros von Messana seine umwälzenden Ideen über die bürgerliche Gesellschaft niedergelegt hat; ein Werk, das auch für uns eine besondere Bedeutung besitzt, weil es der erste Staatsroman ist, aus dem uns die Tradition eine Schilderung der wirtschaftlichen und sozialen Rechtsordnung erhalten hat.77

Euhemeros erzählt, daß er auf einer der großen Reisen, die er im[293] Auftrage seines Freundes, des Königs Kassander von Makedonien, unternommen, von dem »glücklichen« Arabien aus78 in das südliche Weltmeer verschlagen worden und nach vieltägiger Fahrt zu einer Gruppe von Inseln gelangt sei, deren östlichste, Panchäa, Indien so nahe lag, daß man von ihr aus das indische Festland erblicken konnte. Hier hauste inmitten einer üppigen Natur ein glückseliges Volk unter der Herrschaft einer priesterlichen Aristokratie, die in dem heiligen Bezirk des prachtvollen Zeustempels, sechzig Stadien von der Hauptstadt Patara entfernt, zusammenwohnte.79 Diese Priester hatten die oberste Entscheidung in allen wichtigeren Angelegenheiten des öffentlichen und privaten Lebens, wenn auch neben ihnen weltliche Beamte, ja sogar Könige genannt werden.80 Was die soziale Organisation des Volkes betrifft, so erscheint dasselbe nach den verschiedenen Berufszweigen in besondere (korporativ organisierte?) Abteilungen gegliedert. Neben dem Priestertum steht als zweite selbständige Klasse die der Ackerbauer, als dritte die der Krieger. Eine Gliederung, die – rein äußerlich betrachtet – eine gewisse Ähnlichkeit mit den ständischen Gesellschaftsordnungen des Orients zu haben scheint, in Wirklichkeit aber schon darin eine ganz abweichende Tendenz zeigt, daß sie dem Nährstand keineswegs einen niedrigeren Rang anweist als dem Wehrstand. Auch sonst kommt in Panchäa die Ehre der Arbeit in hohem Maße zur Geltung. Die Vertreter der Künste und Handwerke bilden eine Unterabteilung der ersten Klasse, stehen also in gewisser Beziehung unmittelbar neben den Priestern. Ebenso ist bezeichnenderweise derselben Abteilung, der die Krieger angehören, eine wirtschaftliche Klasse, nämlich die der Hirten zugewiesen, die also gleichfalls eine durchaus geachtete Stellung einnimmt.81

[294] Näheres über die Organisation und das gegenseitige Verhältnis dieser verschiedenen Volksabteilungen erfahren wir nicht. Wir sind eben nur auf den kurzen und nichts weniger als geschickten Auszug angewiesen, den Diodor in seinem Geschichtswerk aus dem Roman gemacht hat. Immerhin läßt schon dies wenige erkennen, welch ein Geist in dem Verfassungssystem des Idealstaats des Euhemeros waltet. Daß der Autor einem Staate, den er in den indischen Orient verlegt, Institutionen zuschreibt, die an Brahmanentum und Kastenwesen erinnern,82 lag im Interesse der dichterischen Illusion. Das gab dem ganzen Bilde erst die rechte Lokalfarbe. Daß aber Bedeutung und Tendenz dieser Institutionen wesentlich von der ihrer orientalischen Vorbilder abwich, zeigt schon die Berufsgliederung der Panchäer; am wenigsten aber wollte und konnte ein Atheist wie Euhemeros ein theokratisches oder hierokratisches Ideal aufstellen. Dazu war er schon viel zu sehr das Kind einer Zeit, der der aufgeklärte Despotismus ihr Gepräge gegeben hat, und die vor allem von dem Bestreben erfüllt war, die Fesseln zu beseitigen, die die freie Betätigung der Intelligenz und des Talentes erschweren konnten. Es ist die Zeit, die das Naturrecht des Talentes und des Wissens auf die Leitung der Völker proklamiert hat.83 Und was ist es anders als der Ausdruck dieser Zeitempfindung, wenn Euhemeros die Entstehung der Götter zum guten Teil auf eine Apotheose des Genies zurückführt, wenn nach seiner Ansicht viele Götter ursprünglich nichts anderes waren als menschliche Geistesgrößen, die durch die Mitteilung gemeinnütziger Erfindungen einen solchen Ehrenplatz im Glauben der Völker gewonnen hatten? Auch die Hochachtung vor der Weisheit ägyptischer Priester und indischer Brahmanen, die für die Zeit so charakteristisch ist, beruht wesentlich darauf, daß man in ihnen eben die Summe des Wissens und der Lebensweisheit einer uralten Kultur verkörpert sah. Sie repräsentieren recht eigentlich das Ideal der Zeit: die Herrschaft der Intelligenz.84 Und das ist es denn auch, was Euhemeros[295] im Auge hat, wenn er die Priester zu Regenten seines Idealstaates macht. Das Priestertum war eben die Form, in der auf orientalischem Boden in Wirklichkeit das Geschlecht der »Philosophen« einen entscheidenden Einfluß auf das staatliche Leben gewonnen hatte.

Gerade weil die Priesterherrschaft hier nichts bedeutete als eine Kulturaristokratie, eine Hierarchie der Kapazitäten, sind ihr auch die Künstler, Techniker, Gewerbetreibenden zugeteilt, diejenigen Klassen der hellenischen Intelligenz, die durch Alexander und seine Nachfolger, durch die zahllosen Städtegründungen, durch den gewaltigen Aufschwung von Industrie, Handel und internationalem Verkehr eines der wichtigsten Fermente der neuen Weltkultur geworden waren. Sie konnten von einer Klasse, welche vor allem die Intelligenz vertrat, nicht ausgeschlossen werden.

Wird doch von den priesterlichen Regenten Panchäas selbst ein nicht geringes Maß wirtschaftlichen Fachwissens und wirtschaftlicher Erfahrung verlangt! Zwar sind die Panchäer nicht der Ansicht unserer modernen marxistischen Sozialdemokratie, daß, wenn der Staat als »Repräsentant der ganzen Gesellschaft« von den Produktionsmitteln im Namen der Gesellschaft Besitz ergriffen hat, der »politische Apparat« überflüssig geworden ist und »an Stelle der Regierung von Personen ausschließlich die Verwaltung von Sachen, die Leitung von Produktionsprozessen tritt«.85 Die Panchäer wissen vielmehr recht gut, daß selbst bei ihnen, wo außer Haus und Garten alles Gemeingut ist,86 die Personen so wenig einer Regierung entbehren können wie die Sachen. Allein insoferne entsprechen doch ihre Regierungsbehörden dem Ideale des modernsten Sozialismus, als dieselben zugleich spezifisch ökonomische »Verwaltungskollegien« sind, die sich »mit der besten Einrichtung der Produktion, der Distribution, der Festsetzung der notwendigen Vorräte usw. zu befassen haben«.87 Was der platonische Staat seinen theoretisch[296] und praktisch gleich geschulten Staatsmännern als eine Hauptpflicht ans Herz legt, die Regulierung des Wirtschaftslebens, dieselbe Aufgabe ist den priesterlichen Staatsmännern Panchäas gestellt. Was nun diese kommunistisch-sozialistische Wirtschaftsordnung selbst betrifft, so lehnt sich der Roman auch hier möglicherweise an wirkliche oder überlieferte Tatsachen des orientalischen Volkslebens an.88 Man wußte damals bereits aus dem bekannten Reiseberichte Nearchs, daß in gewissen Gegenden Indiens ein agrarischer Kommunismus herrschte, daß das Land gemeinschaftlich von Familiengruppen bebaut wurde, die sich in die geernteten Früchte teilten;89 und von einer ähnlichen Gütergemeinschaft patriarchalischer Familienverbände erzählten Berichte aus dem »glücklichen« Arabien.90 Also ganz das Milieu, in welches das im Angesichte Indiens wohnende Kommunistenvölkchen der Panchäer vortrefflich hineinpaßte.

Anderseits ist nun freilich Euhemeros weit davon entfernt, in seinen Idealstaat diese primitiven Formen des Gemeinbesitzes und der genossenschaftlichen Produktion herüberzunehmen, die für eine intensivere Entfaltung der produktiven Kräfte ein unüberwindliches Hindernis bilden würden. Sein panchäischer Sozialismus berührt sich zwar in einigen Grundzügen mit jenen älteren Formen kollektivistischer Wirtschaft, im übrigen aber gestaltet er denselben ganz nach der Ansicht des modernen Sozialismus, daß eine Form der wirtschaftlichen Organisation, die einer entwickelten Volkswirtschaft gegenüber als das Höhere und Vollkommenere erscheinen soll, nicht an einen urwüchsigen Kommunismus, sondern unmittelbar an die Produktion der Gegenwart anknüpfen muß. So ist zwar in Panchäa alles Acker- und Weideland Gemeingut, aber die agrarische Produktionsweise ist nicht kommunistisch. Es wird an der Einzelwirtschaft selbständiger Kleinbetriebe festgehalten, die ja selbst der moderne Sozialismus, wenn auch nur als Übergangsstufe bis zur schließlichen Zusammenfassung aller Betriebe, in seinem Zukunftsstaat zulassen muß. Anderseits bebaut zwar der einzelne das ihm überlassene Stück Land als Funktionär der Gesamtheit, aber diese[297] höhere Einheit bilden nicht private, sich selbst genügende und isolierte Sondergruppen, sondern die gesamte Volksgemeinschaft, eine einheitliche nationale Wirtschaft, wie sie unter der Herrschaft jener älteren Gemeinschaftsformen überhaupt noch nicht existierte.91

Auf dieser breiteren Basis ist dann freilich das kollektivistische System in weitem Umfang durchgeführt.92 Das Organ der Volksgemeinschaft, der Staat, erscheint hier als eine öffentliche wirtschaftliche Umsatz- und Zuteilungsanstalt, welche im Interesse möglichst ergiebiger Gesamthervorbringung, vollkommenster Güterversorgung und -verteilung auf der Basis des staatlichen Kollektiveigentums am Boden die verschiedenen Wirtschaftszweige zu einem einheitlichen Ganzen verknüpft. Genau so wie der moderne Kollektivismus in seinen Gedanken über den Zukunftsstaat immer wieder die Neigung zur zentralistischen, rein politischen Ausgestaltung gezeigt hat, so sehen wir schon hier den Staat die Volkswirtschaft unmittelbar in sich aufnehmen. Die Volkswirtschaft ist hier eine staatliche Funktion, wie Justiz usw. es sind. Ja man hat schon den Eindruck, als ob der Staat vor allem als Volkswirtschaft gedacht wäre. Es ist ein zentralistischer staatlicher Kollektivismus mit streng autoritären Ämtern und Ordnungen für die Produktion, Zirkulation, Ablieferung und Taxierung der wirtschaftlichen Güter und Arbeitsleistungen.

Da der Staat Eigentümer an den Produktionsmitteln der Landwirtschaft ist und die in ihr Beschäftigten im unmittelbaren Volksdienst stehen, also nicht für sich, sondern für die Gemeinschaft produzieren, so sind auch die Konsumtionsmittel Gesamteigentum. Alle Feldfrüchte müssen von den Ackerwirten in die öffentlichen Magazine abgeführt werden.93 Ebenso haben die Viehwirte alles nötige Schlachtvieh auf Grund einer sorgfältigen Taxierung nach Zahl oder Gewicht an den Staat abzuliefern.94 Und der Staat ist es dann, der durch seine Organe, die Priester, die Verteilung des Produktionsertrages an[298] die einzelnen Bürger vornimmt. So regelt sich hier diese Verteilung nicht nach den Gesetzen des freien, sich selbst überlassenen Marktverkehrs, sondern nach streng autoritativ durchgeführten Gesichtspunkten: denselben, welche noch heute den Sozialismus beschäftigen, soweit er überhaupt das Verteilungsproblem ernstlich ins Auge faßt.

Der Bericht Diodors bezeichnet das in Panchäa geltende System der Güterverteilung dahin, daß die Priester jedem das ihm Zukommende in gerechter Weise zuteilen (τὸ ἐπιβάλλον ἑκάστῳ δικαίως ἀπονέμουσιν). Diese Worte sind vieldeutig. Wollen sie sagen: »Jedem kommt derselbe Anteil zu« und besteht demnach die Gerechtigkeit, die hier gemeint ist, darin, daß von der Verteilungsbehörde einfach diese »Gleichheit nach Köpfen« (ἰσότης κατ᾽ ἀριϑμόν) gewahrt wird; oder handelt es sich hier um die sozialistische Formel, zu der sich die Sozialdemokratie vor der Annahme des Marxischen Standpunktes bekannte: »Jedem nach Verdienst« (ἰσότης κατ᾽ ἀξίαν), Güterzuteilung an die einzelnen nach Verhältnis von Menge und Wert ihrer Arbeitsbeiträge? Glücklicherweise findet sich bei Diodor noch eine Angabe, welche uns etwas klarer sehen läßt. Danach erhalten in Panchäa bei der Verteilung der Früchte diejenigen, welche sich als die besten Landwirte erwiesen haben, Ehrenpreise im voraus, deren im ganzen in bestimmter Reihenfolge zehn vergeben werden, »zur Aufmunterung der übrigen«.95 Demnach weiß man in Panchäa sehr wohl, daß eine ganz gleichmäßige, die Verschiedenheit in den Leistungen der am Produktionsprozeß Beteiligten völlig ignorierende Verteilung des Produktionsertrages die mächtigste Triebfeder vernichten würde, die den einzelnen bestimmt, auch wirklich nach dem Maße seiner Leistungsfähigkeit sich zu betätigen. Neben ideellen Motiven wird auch das materielle Selbstinteresse in Bewegung gesetzt durch ein Prämiensystem, welches die Forderung des »Einkommens nach dem Verdienst« wenigstens bis zu einem gewissen Grade verwirklicht. Anderseits zeigt aber gerade dieses Prämiensystem, daß für die Masse der Produzenten Gleichheit des Einkommens und damit der Lebensbedingungen überhaupt angenommen wird; und dasselbe ergibt sich aus der weiteren Angabe, daß die Priester bei der Verteilung der Produkte doppelt so viel erhalten wie die übrigen Volksgenossen, was eben für diese ein einheitliches Normalmaß notwendig[299] voraussetzt.96 Im großen und ganzen bekennt sich hier also der Staat – jene besonders qualifizierten Elemente ausgenommen – zu der Idee der Gleichwertigkeit der Individuen, und er will daher auch für sie alle der Urheber gleich großen Glückes sein.

Weitere Schlußfolgerungen gestattet die Bemerkung Diodors, daß es in Panchäa außer Haus und Garten kein Privateigentum gibt, und alle »Erzeugnisse und Einkünfte« an die Priester abzuliefern sind.97 Daraus geht unzweifelhaft hervor, daß hier das gewerbliche Kapital, die Produktionsmittel wie die Erzeugnisse der Industrie, ebenso verstaatlicht sind wie die der Landwirtschaft.98 Auch der Handwerker muß die Produkte seines Fleißes an die Behörde abliefern, von der sie dann – etwa wie in der Utopia des Morus – an die einzelnen Bürger zu ihrem und ihrer Familie Gebrauch verteilt werden. Wenn aber die Übermittlung der Waren von dem Produzenten an den Konsumenten verstaatlicht war, so bedurfte es in Panchäa auch keines Zirkulationsmittels und keines Zwischenhandels. Es hat hier gewiß sowenig wie in Utopien Kaufleute und ein Geld gegeben.

Über anderes können wir wenigstens Vermutungen wagen! Diodor schweigt sich völlig aus über die grundlegenden sozialen Ordnungen der Familie, Ehe usw. und stellt uns damit vor die Frage: hat Euhemeros auch hier den kommunistischen Gedanken durchgeführt und in den Rahmen seines Gesellschaftsideales auch die Idee der Frauen- und Kindergemeinschaft aufgenommen, die längst vor ihm in die kommunistische Theorie und bald nach ihm auch in den Staatsroman Eingang fand? Die Frage wird wahrscheinlich zu verneinen sein. Euhemeros, der bei all seinem ökonomischen Radikalismus eine gewisse Mäßigung und Nüchternheit nicht verleugnet, der jedem Bürger einen eigenen Bereich, eine abgeschlossene Heimstätte und eigenen Hausstand vorbehält, in welchem sein individuelles Dasein Wurzel fassen und sich ausgestalten kann,99 – der konnte doch schwerlich die Grundbedingung einer derartigen privaten Existenz, die Einzelfamilie, völlig zerstören! Auch wäre[300] in diesem Falle das Schweigen Diodors immerhin auffallend. Zwar ist seiner elenden und oberflächlichen Berichterstattung alles zuzutrauen; wer aber dem Unterhaltungs- und Sensationsbedürfnis des großen Publikums so sehr Rechnung trägt wie er, der würde doch schwerlich gerade einen derartigen Zug übergangen haben, den Diodor doch sonst, z.B. bei Jambulos, hervorzuheben nicht vergißt.

Schwieriger ist bei der Dürftigkeit des erhaltenen Romanfragmentes ein Urteil über den Gesamtcharakter und die allgemeine Tendenz des Romans. Zwar soviel sieht man deutlich: in dem Kommunismus Panchäas prägt sich derselbe Geist des Rationalismus aus, in dem die religionsgeschichtlichen Anschauungen des Euhemeros wurzeln. Die Gliederung der Bürgerschaft ist eine durchaus künstliche und schablonenhafte und erinnert auffallend an das Gesellschaftsideal des Städtebaumeisters Hippodamos von Milet, der dieselbe gleichmäßige rein rationale Dreiteilung der Bevölkerung vorschlägt.100 Es gilt daher auch von Euhemeros, was man über diesen »auf der Schwelle des griechischen Aufklärungszeitalters« stehenden Staatstheoretiker gesagt hat: »Der ganze Plan ist scheinbar einfach und mag dem gesunden Menschenverstand ohne weiteres einleuchten, aber in Wahrheit ist er unnatürlich und tut den verschiedenen lokalen Verhältnissen und Bedürfnissen entschieden Zwang an.«101 Auch die Art und Weise, wie Euhemeros mit seiner Lösung des wirtschaftlichen Produktions- und Verteilungsproblems die Forderungen der Gleichheit und Gerechtigkeit und zugleich das Produktionsinteresse befriedigen zu können glaubt, mag den Vorzug der Einfachheit und Verständlichkeit für sich haben. Daß aber eine derartige mechanische Lösung Menschen und Dingen wirklich gerecht werden könne, kann nur ein ungeschichtlicher und rein doktrinärer Rationalismus für möglich halten. Ein Doktrinarismus, den übrigens noch der modernste »von der Utopie zur Wissenschaft« fortgeschrittene Sozialismus mit seinem antiken Vorgänger teilt.

Ist es aber, wird man fragen, Euhemeros mit seiner gesellschaftlichen Utopie überhaupt ernst gewesen? Ist es ihm wirklich um eine Kritik der bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu tun, um die Aufstellung eines Ideales? Oder ist dieser Kommunistenstaat nur »das phantastische Spiel einer verrauschenden Stunde«, ein Produkt des Witzes eines geistreichen Kopfes, der damit nur der Zeitmode einen Tribut entrichtet?

[301] Eine durchaus befriedigende Antwort auf diese Frage wäre nur möglich, wenn wir entweder den Roman selbst oder eine genügende Charakteristik der Sozialphilosophie besäßen, die in demselben zum Ausdruck kommt. Zu einer solchen Charakteristik war aber unser einziger Berichterstatter über den Roman nicht imstande. Für Diodor ist ja Panchäa ein historisches Land, gibt also Euhemeros Tatsachen, nicht Ergebnisse seines sozialtheoretischen Denkens. Ist daher schon das Programm, welches hier der Wirklichkeit als Ideal gegenübergestellt wird, nur unvollkommen gezeichnet, weil eben als solches gar nicht erkannt, so ist noch weniger die Rede von den ethischen Normen, denen das Programm Geltung verschaffen soll. Wir hören einiges von dem, was der Gründer Panchäas wollte, nicht aber, warum und zu welchem Zwecke er es wollte. Was läßt sich unter diesen Umständen über die eigentliche Tendenz des Romans sagen? Daß er nicht ein bloßes Spiel der Phantasie sein kann, das ist ja allerdings kaum zweifelhaft. Man hat längst bemerkt, daß bei Euhemeros die Fabulistik nicht Selbstzweck, sondern nur dazu da ist, um »ernsthafter Belehrung die Stätte zu bereiten«.102 Er hält seine Erzählung durchaus frei von allem rein Märchenhaften, Übernatürlichen, Teratologischen, womit sonst die griechische Phantasie gerade den Orient auszuschmücken liebte. Die Menschen, die er schildert, unterscheiden sich durch keinerlei überirdische und geheimnisvolle Kräfte und Eigenschaften von der übrigen Menschheit. Sein Sozialismus mutet ihnen z.B. nicht entfernt eine so weitgehende Entsagung zu wie etwa derjenige Platos. Während eine der Grundbedingungen des platonischen Sozialstaates die möglichste Verminderung aller Bedürfnisse ist, und zu dem Zweck ganze Produktionszweige, wie z.B. der Weinbau, die Kunstgewerbe usw., in ihrer Entwicklung künstlich beschränkt werden, preist Euhemeros an Panchäa gerade seine Ergiebigkeit an Produkten des Weinbaues und anderen Luxuskulturen, den Reichtum seiner Bergwerke an Gold, Silber, Zinn und Erz, dessen Ansammlung und technische Verarbeitung noch dazu durch ein absolutes Ausfuhrverbot gefördert wird, die Größe und Pracht der technischen und baulichen Schöpfungen Panchäas, die ganz an die Leistungen der hellenistischen Fürsten und Städte erinnert. Auch von den Institutionen Panchäas kann man nicht sagen, daß sie dem gemeinen Menschenverstand von vorneherein unausführbar erscheinen mußten. Man wird also die Möglichkeit nicht bestreiten dürfen, daß[302] Euhemeros wenigstens gewisse Grundprinzipien seines Sozialstaates Panchäa ebenso für realisierbar halten konnte, wie später der »Vater des modernen Sozialismus« die grundlegenden Gedanken seiner Utopia.

Wir dürfen nicht vergessen, daß der Freund Kassanders in einer Zeit lebte, nach deren Anschauungen es für die herrschende politische Macht, für die ganz von cäsaristischem Geist erfüllte Monarchie kaum etwas gab, was ihr nicht möglich gewesen wäre. Wie oft hatte man es erlebt, daß der seit dem 4. Jahrhundert überall in der hellenischen Welt emporkommende Absolutismus den Anstoß zu sozialen Umwälzungen gab, die alles Bestehende einfach über den Haufen warfen und aus dem Ruin der alten eine ganz neue bürgerliche Gesellschaft erstehen ließen.103 Was hatte vollends die Monarchie Alexanders und seiner Nachfolger zerstört oder neu geschaffen! Wer in solcher Zeit einen Fürsten für sich gewann, der durfte sich in der Tat berufen glauben, auch scheinbar Utopisches möglich zu machen. Daß sich aber das neue Fürstentum großen Reformgedanken zugänglich erweisen würde, war insofern sehr wohl denkbar, als es ja selbst seinem Ursprung und Wesen nach revolutionär, nicht durch die Fesseln der Tradition gebunden war und in der Tat den Staat möglichst als »Kunstwerk« und nach rein rationellen Gesichtspunkten gestaltete. Auch hat ja dieser aufgeklärte Absolutismus die Sorge für die materielle Wohlfahrt aller Untertanen, selbst der geringsten, das »Wohltun«, wenigstens zur offiziellen Regierungsmaxime gemacht;104 und er legte anderseits Wert darauf, seine Gewalt, die der stärksten Stütze, der Legitimität, entbehrte, vor der höchsten moralischen Autorität, vor der Geistesbildung der Zeit, zu legitimieren. Kein Wunder, daß der »Fürstenspiegel« in dieser Epoche eine stehende literarische Erscheinung wird, daß; wie die zahlreichen Titel philosophischer Werke »über das Königtum« noch jetzt erkennen lassen, die verschiedensten Schulen: Akademiker, Peripatetiker, Megariker, Kyniker, Stoiker, sich wetteifernd bemühten, die neuen staatlichen Gewalten für ihre Ideen zu gewinnen.105

Es ist gewiß kein Zufall, daß diese Epoche der Fürstenspiegel zugleich die der Staatsromane ist. Wiederholt sich doch genau dieselbe Erscheinung in der Zeit, die den modernen Staatsroman erzeugt hat.[303] Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß gleichzeitig mit der Utopia des Thomas Morus Macchiavellis »Fürst« und des Erasmus »Lehrbuch für den christlichen Fürsten« verfaßt ist, daß das Zeitalter überhaupt eine ganze Literatur der Art aufweist. Und man hat an dieses Zusammentreffen die Vermutung geknüpft, daß wohl beide Literaturgattungen, der Staatsroman wie der Fürstenspiegel, denselben Zweck verfolgt haben werden: daß auch jenem mit die Absicht zugrunde lag, den Fürsten zu zeigen, wie eigentlich regiert werden sollte.106

Es ist sehr wohl möglich, daß die soziale Utopie des Euhemeros eine ähnliche Tendenz gehabt hat, nicht bloß zu den hergebrachten Prunkstücken der Reiseromane gehört.107 Wie das Ideal des Morus im Kopfe eines Fürsten, des Heros Eponymos seiner glücklichen Insel entsprungen ist, so gehen auch die Einrichtungen Panchäas auf einen König zurück, der dann als Zeus Triphylios göttliche Verehrung genießt, ganz ähnlich wie die Fürsten des Hellenismus. Ihm verdanken die Panchäer die priesterliche Geistesaristokratie, die die Seele des ganzen kunstvollen Organismus ihres Gemeinwesens ist. Er hat sie aus Kreta nach Panchäa gebracht und ist eben damit der Schöpfer ihres Sozialstaates geworden. Dieser monarchische Ursprung des panchäischen Sozialismus ist gewiß nicht bedeutungslos. Es kommt in ihm die Überzeugung zum Ausdruck, daß, wenn nur ein Fürst wollte, die Verwirklichung des Sozialstaates auch möglich wäre. Dabei braucht man keineswegs anzunehmen, Euhemeros hätte geglaubt, daß gerade einer der lebenden Machthaber geneigt sein könnte, auf derartige Ideen einzugehen, etwa wie Campanella das Projekt seines Sonnenstaates dem König von Spanien unterbreitete. Er war ein zu nüchterner Kopf, als daß er dem faszinierenden Reiz, den das Emporstreben der neuen Weltmächte auf einen phantasievollen Geist wohl ausüben konnte, in dem Grade erlegen wäre wie der Dichterphilosoph der Renaissance. Auch hatte der Freund Kassanders wohl allzu reichliche Gelegenheit zu sehen, wie sehr sich oft die praktische Betätigung der Gewalt von der theoretischen Auffassung unterschied, zu der sich die hellenistische Monarchie offiziell bekannte. Allein trotzdem kann es ihm mit der Aufstellung seines Gesellschaftsideales bis zu einem gewissen Grade wenigstens Ernst gewesen sein. Auch Morus gesteht, daß sich im Gemeinwesen der Utopia gar manches fände, dessen Verwirklichung »in unseren Staaten« nicht zu erwarten sei. Dennoch[304] spricht er gleichzeitig den Wunsch aus, daß es einmal verwirklicht werden möchte. Jedenfalls sei vieles so gut geordnet, daß es zur Berichtigung der unsere Gesellschaft beherrschenden falschen Lebensanschauungen dienen könne.108 Und dabei ist Morus, der in seiner Utopie überhaupt kein Privateigentum anerkennt, noch ungleich radikaler als der Verfasser der Panchäa, wo der einzelne wenigstens Haus und Garten sein eigen nennen darf!

Wie gemäßigt erscheint vollends das Gesellschaftsideal des Euhemeros im Vergleich mit dem kühnen Radikalismus, wie er uns in einem anderen, kaum viel später entstandenen Staatsroman entgegentritt: in dem Sonnenstaat des Jambulos, der in der rücksichtslosen Durchführung des kommunistischen Gedankens nicht nur Euhemeros, sondern auch einen Morus weit überbietet!


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 293-305.
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