Haar

[352] Haar. Seit den ältesten Zeiten war langes, lockiges Haar bei den Germanen Zeichen der Freiheit und Mündigkeit, das Abschneiden des Haares Symbol der Unfreiheit; es wird deshalb dem Knaben und dem Knechte verschnitten, eine Ausnahme macht die freie Jungfrau; ebenso ist Abscheren des Haupthaares entehrende Strafe, auch bei gefallenen Weibern. Soldaten im Kriege schnitten mitgelaufenen Dirnen, deren sie müde waren, das Haar ab und jagten sie fort; auch der Narr ist geschoren. Mönche und Nonnen geben sich mit dem Verluste ihres langen Haares Gott zu eigen. Die meisten germanischen Völker trugen das Haar frei auf Schultern und Rücken, nur die Sueven kämmten es seitwärts zurück und banden es in einen Knoten. Noch durch längeres und mehr gepflegtes Haar zeichneten sich die Edlen und Könige, namentlich die Merowinger aus. Seitdem einzelne Karolinger von der Sitte ihres Volkes abwichen und sich das Haupthaar kurz schnitten, legten die Franken überhaupt die langen Locken ab. Die Langobarden und Bayern trugen das Haar im Nacken kurz, vorn hing es gescheitelt und lang herab. Die Sachsen bewahrten ihr langes Haar wie ihre langen Röcke.

Schon die alten Germanen bestrichen ihr Haar mit beizenden Salben aus Ziegentalg und Buchenasche, eine Sitte, welche die Römer von ihnen annahmen, wie diese auch auf falsche Flechten von deutschen Haaren begierig waren.

Die höfische Sitte brachte das lange und lockige Haar wieder zu Ehren, der Edeling trug es bis zu den Schultern, doch so, dass es diese kaum berührte; über der Stirn und unterhalb ringsherum war es glatt abgeschnitten; es wurde ausserdem gelockt, gekräuselt, gescheitelt und sogar gebrannt; auch die Geistlichen wollten sich trotz häufiger kirchlicher Verbote ihr zierliches Haar nicht nehmen lassen. Die Frauen der höfischen Gesellschaft trugen ihr Haar in der Mitte gescheitelt und hielten es durch ein Band oder einen Reifen in Ordnung; die längs der Wangen herabhängenden Haare wurden kürzer gehalten und zu Locken gedreht, die sich zierlich[352] um das Ohr herum ringelten. Die übrigen Haare fielen entweder frei über den Rücken herab oder wurden in Zöpfe geflochten, welch letztere meist über die Schulter nach vorn gelegt und mit Goldfäden, Perlenschnüren und Borten durchflochten wurden. Später baute man aus den Zöpfen allerlei Verzierungen auf. In der letzten Zeit des Mittelalters war die Haartracht beider Geschlechter grossem Wechsel unterworfen, bald lang herabfallend, zu Locken gelegt, bald kurz geschnitten. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts war totale Kürzung des Haares Mode geworden, auch die Landsknechte schoren das Haar kurz.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 352-353.
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