Jahresanfang

[445] Jahresanfang. Es finden sich im Mittelalter sechs verschiedene Jahresanfänge:

1. Am 1. Januar, der Jahresanfang des römisch-julianischen Kalenders. Schon früh im Mittelalter eiferte man gegen diesen Anfang und die mit ihm verbundenen Ausschweifungen, die Überreste der römischen Saturnalien, als gegen eine heidnische Institution. Da aber der Gebrauch, das Jahr mit den Kalenden des Januar zu beginnen,[445] im bürgerlichen Leben andauerte, legte man, um einen Vorwand für die kirchliche Feier dieser Jahresepoche zu haben, die circumcisio Domini, die Beschneidung Christi, darauf. Es ist nicht ausgemacht, ob nun das bürgerliche Leben das ganze Mittelalter hindurch an diesem Gebrauche festgehalten hat; auf kirchlichem Gebiete und in den öffentlichen Urkunden aber wurde der 1. Januar schon früh durch den 25. März und Weihnachten verdrängt, und erst in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelang es ihm wieder zu allgemeiner Geltung zu kommen.

2. Der 1. März, der vor-cäsarische Jahresanfang, wurde von den Christen schon im 5. Jahrhundert angenommen, vermutlich weil der jüdische Monat Nisan, in welchen das Passahfest fiel, der erste im Jahre war. In Frankreich hielt er sich bis ins 8. Jahrhundert; die Republik Venedig rechnete so bis zu ihrem Untergange.

3. Am 25. März, dem Tage der annunciatio Mariae, Maria Verkündigung. Man liess mit der Verkündigung gleichsam das irdische Dasein Christi beginnen, eine Anschauung, welcher der schon früh erwachende Marienkultus grossen Vorschub leistete. In Italien besassen namentlich Florenz und Pisa, zum Teil auch die päpstliche Kanzlei, diesen Jahresanfang, womit das sogenannte Marienjahr begann; in Deutschland kommt er nur vereinzelt vor, in den Diöcesen Trier, Köln und Lausanne.

4. Ostern, und zwar entweder vom Karfreitag an gerechnet, oder vom Ostersonntage an, der jedoch nach der mittelalterlichen Tageseinteilung mit der Vesper des Karsonnabend, in welcher die Osterkerze geweiht wird, beginnt. Dieser Jahresanfang war in Frankreich seit dem 13. Jahrhundert beliebt und verbreitete sich von da nach Deutschland.

5. Am 1. September. Aus Byzanz, wo dieser Jahresanfang lange Zeit herrschend war, wanderte er nach Italien.

6. Am 25. Dezember, mit welchem Datum, der Wintersonnenwendnacht, auch die alten Germanen ihr Jahr begannen. In Frankreich war dieser Jahresanfang unter den Karolingern der herrschende; der eigentliche Sitz dieses Jahresanfangs ist Deutschland, wo er herrschend blieb, bis im 15. Jahrhundert der 1. Januar sich mehr und mehr Geltung verschaffte. Grotefend, Handb. d. Chronol. §. 12.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 445-446.
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