Bedürfnis

[85] Bedürfnis. Von Natur ist der menschliche Organismus so eingerichtet, daß seine Erhaltung an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Das aus dem Bewußtsein der Bedingungen, an welche die Erhaltung des Lebens geknüpft ist, entstehende Streben des Menschen nach Erfüllung derselben heißt Bedürfnis. Wo das Bedürfnis keine Befriedigung findet, entsteht das Gefühl des Mangels. Kant definiert Bedürfnis allgemeiner als das Verhältnis eines lebenden Menschen zu dem nötigen Gebrauche gewisser Mittel in Ansehung eines Zweckes. Das Bedürfnis ist also für ihn eine praktische, in dem Begehrungsvermögen begründete, subjektive Notwendigkeit (Kr. d. pr. V. 56. 255-259). Die Bedürfnisse sind zahlreich; man kann sie nach ihrer Art qualitativ in körperliche und seelische einteilen. Gegenstände der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse sind: Nahrung, Kleidung, Wohnung, Schutz usw.; Gegenstände der Befriedigung seelischer Bedürfnisse: Betätigung, Erkenntnis, Ausdruck usw. Die Bedürfnisse unterscheiden sich auch quantitativ nach der Stärke, mit welcher sie sich geltend machen, und nach dem Bedarf, d. h. nach der Menge wirtschaftlicher Güter, die zu ihrer Befriedigung erforderlich sind. Die Stärke der Bedürfnisse hängt ab von ihrer Intensität, ihrer Verbreitung und ihrer Dauer. Nach ihrer Intensität unterscheidet man entbehrliche und unentbehrliche, absolute und relative, notwendige und freie, aufschiebbare und dringliche Bedürfnisse. Nach ihrer Verbreitung sind die Bedürfnisse allgemein menschliche, nationale, soziale und individuelle, nach ihrer Dauer ständige und vorübergehende. Nach dem Bedarf sind die Bedürfnisse bescheidene oder anspruchsvolle, beschränkte oder umfassende, einfache oder zusammengesetzte. Auch nach ihrer Entstehung unterscheiden sich die Bedürfnisse und sind in natürliche und künstliche oder konventionelle einzuteilen. Die Bedürfnisse haben ihre untere und obere Grenze; jene ist bestimmt durch das zur Erhaltung des Lebens Notwendige, diese ist bei den Selbsterhaltungsbedürfnissen wohl durch die Natur bestimmt, aber meist verschiebbar, so daß der Mensch oft im Genuß die natürlichen Grenzen überschreitet, bei den Vervollkommnungsbedürfnissen ist sie ohne bestimmte Grenze. – Die Befriedigung der Bedürfnisse ist mit Genuß verknüpft, der bei körperlichen Bedürfnissen[85] im Maße der Befriedigung verhältnismäßig schnell abstumpft, bei seelischen Bedürfnissen viel andauernder ist. Die Geschichte der Bedürfnisse zeigt eine stetige Vermehrung derselben, zum Teil eine Veredlung, zum Teil eine Entartung ins Unnatürliche. Bei ihrer Mannigfaltigkeit ist für ein und dasselbe Subjekt gleichzeitig eine Konkurrenz der Bedürfnisse oft unvermeidlich; doch gibt meist in dieser Konkurrenz eine Vergleichung ihrer Notwendigkeit und der Grad der Möglichkeit ihrer Befriedigung jedesmal den Ausschlag. Vgl. Luxus, Mode, Interesse. (A. Döring, Güterlehre 1888.)

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 85-86.
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