Erziehung

[191] Erziehung ist die Erhebung der Jugend zur Höhe der Kulturstufe, auf der sie im Leben stehn soll, und die Ausbildung derselben zum sittlichen Wollen, wodurch sie zum Verständnis, zur Erneuerung und Fortführung der von den älteren Generationen überkommenen Aufgaben des Kulturlebens befähigt werden soll. Der Charakter ist das letzte Ziel der Erziehung, ihre Voraussetzung sind bildungsfähige Individuen, ihre Mittel der gesamte Kulturinhalt einer Zeit. Die Wissenschaft, welche sich mit den Fragen der Erziehung beschäftigt, ist die Pädagogik; sie gründet sich auf die Physiologie, Psychologie, Ethik und das gesamte Wissensgebiet. Da niemand das Gute tun kann, wenn er es nicht kennt, so gehört zur Erziehung der Unterricht, welcher den Zögling mit bestimmten Kenntnissen und Gedanken zu erfüllen hat; doch dürfen die Fachkenntnisse nicht zum alleinigen Gegenstand der Erziehung gemacht werden, wie diejenigen wollen, welche die praktische Vorbereitung für einen Lehrberuf mit Erziehung verwechseln. Vielmehr hat die Erziehung die Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen ein sittlicher Charakter entstehn und sich befestigen kann. Die erste Bedingung ist die natürliche Anlage (Temperament, Konstitution, Triebleben und Geistesgaben), die zweite der Einfluß der Umgebung, in welcher ein Mensch aufwächst, fremdes Beispiel und eigene Erfahrung. In diese Faktoren greift die Zucht ein, welche teils abhaltend (negativ, Negierung), teils fördernd (positiv, Zucht im engeren Sinne) wirkt, und der bildende, erziehliche Unterricht, der die Jugend mit den Kulturaufgaben bekannt macht, um dem Zögling die fruchtbare Beziehung zur Außenwelt und den Mitmenschen und die innere Einheit seines Wesens zu verleihen, welche die Voraussetzung nützlicher Tätigkeit, helfender Förderung der Kulturzwecke der Menschheit und des eigenen Glückes ist. Auf die Erziehung haben außer den Schulmännern (Trotzendorf, Sturm, Neander, Ratichius, Comenius, Francke, Basedow, Campe, Salzmann, v. Rochow, Pestalozzi usw.) die Philosophen stets ihr Augenmerk gerichtet, im Altertum besonders Platon, in neuerer Zeit Montaigne, Locke, Rousseau, Kant, Fichte, Herbart,[191] Hegel, Schleiermacher und Beneke. Auch Goethe behandelt pädagogische Fragen in Wilhelm Meisters Wanderjahren, Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, Jean Paul in der Levana usw. Vgl. Waitz, Allgem. Pädagogik. 3. Aufl. Braunschw. 1852. Ziller, Allgem. Pädagogik. 2. Aufl. Lpz. 1884. Strümpell, Psycholog. Pädagogik. Lpz. 1880. F. Kirchner, Pädagogik. Lpz. 1888. K. A. Schmid, Geschichte der Erziehung, 1884ff. Fr. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland. 1895. 12. Aufl. 1906. Th. Ziegler, Geschichte der Pädagogik. München 1896.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 191-192.
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