Ethik

[192] Ethik (gr. ta êthika von to êthos = Sitte, Gesinnungsart) oder Moral (lat. pars philosophiae moralis) oder praktische Philosophie ist die Sittenlehre, d.h. die Wissenschaft vom Sittlich-Guten und –Bösen. Auf historischer, anthropologischer, psychologischer und metaphysischer Grundlage untersucht die Ethik das Wollen und Handeln des Menschen, und ihre Entwicklung hat, nachdem sie im Altertum durch Sokrates (469 bis 399) und Platon (427-347) geschaffen war, mit den übrigen Teilen der Philosophie, namentlich mit der Metaphysik, gleichen Schritt gehalten. Eine naturalistische (empiristische), alle Metaphysik von sich weisende, oder auf dem Boden des metaphysischen Realismus stehende Ethik läßt das Streben des Menschen ausschließlich durch seine natürlichen Bedürfnisse, Triebe und Anlagen bestimmt sein. Sie berechnet den Wert der einzelnen Handlungen nach dem Maße der Lust, der Lebensbetätigung, des Nutzens, den dieselben dem einzelnen oder der Gesellschaft bringen. Sie hat als Hedonismus (Lustlehre), Eudämonismus (Glückseligkeitslehre, s. d.) und Utilitarismus (Nützlichkeitslehre) ihre reiche Entfaltung gefunden, und sie erklärt die menschlichen Handlungen mehr, als sie dieselben zu beeinflussen strebt. Ihre Gesetze sind im Kern Naturgesetze, nicht. Imperative, und schließen nur einen geringen Grad der Verbindlichkeit in sich ein. Sie hat ihre Vertreter im Altertum und in der Neuzeit, in den Cyrenaikern (Aristippos), in Aristoteles, den Epikureern, Gassendi, Hobbes, Leibniz, den Encyklopädisten und namentlich in England[192] (Bentham, Stuart Mill, Spencer usw.) gefunden. Sie hat sowohl eine Güter- als auch eine Tugendlehre ausgebildet. – Demgegenüber hat sich eine idealistische (rationalistische) Ethik gebildet, welche die Antriebe des Handelns in der Vernunft und Gesinnung des Menschen sucht und diese als Pflichten den natürlichen Trieben und Bedürfnissen des Lebens entgegenstellt und imperativisch (als Pflichtenlehre) die Einschränkung der Natur durch die Vernunft verlangt. Sie ist entweder rein formalistisch, wo das Urteil über Gut und Böse nur von der Art, wie die Bestimmung des Willens erfolgt, abhängig gemacht wird (so bei Kant und Fichte), oder teleologisch, wo der Inhalt und Zweck der Handlung mit in Rechnung gezogen ist (so bei Sokrates, bei Platon, im Christentum, im nachkantischen Idealismus). Abseits von aller übrigen idealistischen Ethik steht die negativ-pessimistisch-quietistische und atheistische Ethik Schopenhauers mit ihrer indischen Verneinung des Willens zum Leben. Innerhalb der idealistischen Ethik ist durch die Stellung, in welche der Wille zum Kausalitätsgesetz gebracht wird, der Gegensatz des Determinismus (s. d.) und Indeterminismus entstanden, aber für beide, so weit sie idealistisch sind, ist das Sittengesetz dem Naturgesetz entgegengesetzt. – Die dritte Richtung der Ethik beruht auf der absoluten oder Identitätsphilosophie. In ihr kann von einer Bevorzugung des Natürlichen oder der Vernunft keine Rede sein. Sitten- und Naturgesetz müssen innerlich verwandt und im Wesen eins sein. Die Scheidung von Gut und Böse verliert in ihr die Schärfe. Ihr erster Vertreter ist Spinoza gewesen, der das Sittliche in der Ablenkung vom Einzelnen zum Zusammenhang des Ganzen, vom Vergänglichen zum Ewigen (sub specie aeternitatis), vom Modus zur Substanz, von den passiven Affekten zu den tätigen suchte, aber die sittliche Tätigkeit (wie Sokrates, Platon, Aristoteles) wesentlich als intellektuellen Vorgang auffaßte und das höchste ethische Prinzip in der intellektuellen Liebe zu Gott (amor intellectualis dei) suchte. Ein zweiter Vertreter dieser ethischen Richtung ist Goethe, der im wesentlichen das Ethische aus der Entwicklung des Einzelnen auf Grund der angeborenen Individualität fand und in den Gesetzen der Sittlichkeit eine Realität und den Ausdruck der normalen Bedingungen individueller und gesellschaftlicher Entwicklung sah. Rein-Menschliches ist ihm zugleich Sittliches und Sittliches ein Hauptteil der menschlichen Natur. Auch Schleiermacher, der[193] in der Ethik die Güter-, Pflichten- und Tugendlehre zu vereinigen sachte, strebte einen Ausgleich zwischen Natur- und Sittengesetz an. Besondere Wege geht dagegen die Ethik v. Hartmanns mit ihrer pessimistischen Erlösung des Absoluten vom Dasein und ihrem optimistischen Gegenzug der Steigerung der Intelligenz und Kultur zur Erreichung des negativen Ziels. Die neueste sogenannte Ethik dagegen, die Ethik Nietzsches, ist mit ihrer Massenverachtung, ihrem Willen zur Macht, ihrer Herrenmoral, ihrem Zukunftsbild des Übermenschen, ihrer blonden Bestie wohl nicht, wie sie es zu sein vorgibt, eine Umwertung aller Werte, sondern eine Aufhebung derselben und eine Ersetzung der Moral durch Gewalt, ein Zusammenbruch der Ethik überhaupt. Jenseits von Gut und Böse beginnt keine neue Ethik, sondern hört die Ethik einfach auf. Allen diesen Richtungen der Ethik gegenüber bahnt sich eine von metaphysischen Prinzipien freie, auf empirischer Grundlage und exakter Forschung beruhende Ethik neuerdings an, die, wie es schon Platon, Aristoteles, Hegel und andere anerkannt haben, alle Gebiete des Handelns und der individuellen wie sozialen Betätigung der Menschheit, besonders auch die der Sprache, der Religion, des Rechts-, Staats- und Gesellschaftslebens zu umfassen strebt. Sie hat richtig erkannt, daß nur durch die umfassende und gründliche Berücksichtigung aller Erscheinungen des sittlichen Lebens die Aufgabe der Ethik gelöst werden kann. Sie muß freilich als normative Wissenschaft zur Aufstellung allgemeiner Postulate des Willens schreiten, tut dies aber erst auf Grund der in der Kulturgeschichte vorliegenden tatsächlichen Verhältnisse. Diese Ethik dürfte die Ethik der Zukunft werden. Sie bewahrt in ihrem normativen Teile manches vom größten deutschen Ethiker Kant, bricht aber mit dessen einseitigem und unhaltbarem Rationalismus in der philosophischen Methode. Vgl. Schleiermacher, Kritik d. bisher. Sittenlehre. 1808. Stäudlin, Gesch. der Moralphilos. 1823. Koestlin, Gesch. der Ethik 1. Bd. Tübingen 1887. Laas, Idealistische und positivistische Ethik. Berlin 1882. Wundt, Ethik. 2. Aufl. 1892. Fr. Paulsen, System der Ethik. 2 Bde. 1903. Ed. v. Hartmann, Phänomenol. d. sittl. Bewußtseins. Berlin 1880. Th. Achelis, Ethik. Leipzig 1900. Vgl. Eudämonismus und Determinismus, Freiheit.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 192-194.
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