Gefühle

[219] Gefühle heißen die subjektiven Elemente unseres Bewußtseinsinhalts, welche wie die objektiven Elemente, die Empfindungen, sich im einzelnen durch ihre Qualität und Intensität voneinander unterscheiden, aber im Gegensatz zu jenen nicht durch größte Unterschiede, sondern durch größte Gegensätze begrenzt werden. Die Empfindungen bieten innerhalb ein und derselben Qualität regelmäßig Intensitätsunterschiede dar, die von einem Minimum aus in einer Richtung zu einem Maximum aufsteigen; die Gefühle dagegen entwickeln sich von einem Null- oder Indifferenzpunkte aus regelmäßig nach zwei einander entgegengesetzten Richtungen, wobei sie zu immer stärker kontrastierenden Gefühlen werden. Irrtümlich werden die Gefühle oft mit den Empfindungen überhaupt oder im besonderen mit den Empfindungen des Tastsinnes verwechselt, und der ältere Sprachgebrauch wirft beide Ausdrücke unterschiedlos durcheinander; aber die neuere Psychologie scheidet sie mit größter Schärfe. So wenig zwar Gefühle in dem Verlaufe unseres Seelenlebens isoliert für sich auftreten, so sehr sie. Begleiterscheinungen von Empfindungen und Vorstellungen sind – man nennt sie daher auch Gefühlstöne der Empfindung – so richtig trennt sie doch die Analyse als besondere subjektive Elemente unseres Erfahrungsinhalts von den objektiven Elementen des Empfindungs- und Vorstellungsinhalts. Diese bringen uns die objektiven Verhältnisse der Wirklichkeit, jene die Zustände unserer eigenen Person zum Bewußtsein. Auf den Empfindungen baut sich in uns die Erkenntnis der Welt auf, die Gefühle treiben uns zur Erhaltung und Vervollkommnung des eigenen Ichs und der Menschheit. An die Empfindungen schließen sich also als eigenartige Begleiterscheinungen die Gefühle der Lust und Unlust, der Beruhigung und Erregung, der Lösung und Spannung an und. bilden die Hauptklassen einfacher sinnlicher Gefühle, aus denen sich in beständiger Wechselwirkung mit den Erkenntnis- und Willensvorgängen die aus Partialgefühlen entstehenden mannigfaltigen zusammengesetzten niederen und höheren intellektuellen ästhetischen und ethischen Gefühle herausbilden, die zeitweise zu Gemeingefühlen (s. d.), zu Stimmungen (s. d.) und zu Affekten (s. d.) anwachsen. Die Gefühle sind eigenartigen Gesetzen unterworfen. Sie vermindern sich mit der Dauer. Sie entwickeln sich vom Nullpunkt in zwei Richtungen, aber die angenehmen Gefühle schlagen an einer bestimmten Grenze bei[219] weiterer Steigerung in ihr Gegenteil um, während schwache unangenehme Gefühle unter Umständen noch angenehm wirken können. Lust und Unlust hat also etwas Relatives an sich. Herabgesetzte Unlust wird als Lust empfunden und umgekehrt. Derselbe Anlaß bereitet verschiedenen Menschen verschiedene Lust oder Unlust und denselben Menschen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Lagen verschiedene Gefühle. – Die Erklärung der Gefühle hat der Psychologie viel Schwierigkeiten bereitet, und ihre Analyse ist noch unfertig. Vor Kant unterschied man im allgemeinen nur Vorstellen und Begehren und dementsprechend theoretische und praktische Philosophie. Kant (1724-1804) leitete nach Sulzers (1720-1779) Vorgange die Gefühle aus einem besonderen Vermögen der Seele ab, dem Vermögen der Lust und Unlust. (Vgl. Kant, Von der Einteilung der Philosophie, Einleitung in die Kr. d. Urteilskraft, S. XI – LVI, Anthropologie I, § 67-59, S. 169-202). Da aber, abgesehen von der Unhaltbarkeit der Vermögenstheorie, wie die neuere Psychologie zeigt, Gefühle nicht gesondert von den Empfindungen und Vorstellungen entstehen, so kann den Gefühlen keine andere Existenz und kein anderer Ursprung zugeschrieben werden als den übrigen psychischen Elementen, und die Annahme eines besonderen Gefühlsvermögens erscheint unberechtigt. Nur die psychologische Analyse sondert die Gefühle von den übrigen psychischen Vorgängen ab. Vgl. Wundt, Grundzüge der phys. Psychologie I, S. 508-544; Grundriß d. Psychol., §§ 5, 7, 12. Nahlowsky, Das Gefühlsleben. 2. Aufl. Leipzig 1894. Biunde, Empirische Psychologie III, S. 72f. George, Psychologie. Berlin 1851. Horwich, Psychologische Analysen. 2 Bde. 1872-1878. Anton Palme, J. G. Sulzers Psychologie und die Anfänge der Dreivermögenslehre. Berlin 1905.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 219-220.
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