Zweiter Theil

angefangen den 3. Januar 1752.

§ 1. Mit meinen Abschiede auß Dreßden öfnete sich eine ganz neue Scene vor mich: Ehe ich aber erzehle, was auf derselben mit mir vorgegangen, muß ich wohl meinen Lesern noch eine kleine Erläuterung geben, über das, was mein Lebensbeschreiber p. 10 Nr. 9 von mir schreibet. Sein Text lautet also:

9. Bewegungs-Ursachen zu den Unschuldigen Wahrheiten.

»Man sagt, die Bewegungs-Ursachen zu Ergreifung seiner Feder wäre gewesen:

1) Weil Er ein Predigstamt gehoffet und nicht erhalten.

2) Weil ihn seine Wissenschaften aus der Kirchen- und Ketzer-Historie geblähet.

3) Weil der Herr Graf von Zinzendorf ihn darzu ermuntert habe.

Er selbst aber schrieb es seinem innerlichen Beruf zu, erkannte Wahrheiten zu lehren, und andere aus den Irthümern zu reißen. Weil mann nun die Warheiten, oder vielmehr die Personen, welche solche gemein machten, insgemein verdamme, nennte er seine eröfnende Gedancken, Unschuldige Wahrheiten, wel che nemlich nicht zu verdammen wären, oder solches ohne Schuld geschehen würde. In der That mochte die Reitzung und Lockung des Herrn Grafen von Zinzendorf dazu geholfen haben, welcher ihm das Kirchen-Regiment und Predigstamt so verhaßt gemacht, daß Er dem Prediger-Studio auf einmal gute Nacht zu geben, und gar nach Herrnhut[195] zu ziehen, auch sogleich die hochgräfliche Calenbergsche Hofmeisterstelle aufzugeben sich entschloß.«

§ 2. Meine geehrtesten Leser werden sich sonder Zweifel, aus dem ersten Theile meiner Lebensbeschreibung noch erinnern wie viel an dieser Erzehlung wahr oder falsch sey, mithin werde ich mich nicht sonderlich dabey aufhalten dürfen: doch wird mir erlaubt seyn, die drey Hauptbewegungs-Ursachen, die der Verfaßer zu Ergreifung der Feder bey mir angiebt, ein wenig zu beleuchten.

1) Die erste soll gewesen seyn: Weil ich ein Predigstamt gehoft und nicht erhalten. Wie weit sich die Lust und Hofnung zu einem Predigtamte bey mir erstrecket, nachdem mir Gott einen kleinen Blick von der Wahrheit gegönnet, hoffe ich in dem vorigen Theile so deutlich gezeiget zu haben, daß man leicht wird erkennen können, daß nichts weniger, als diese Ursache, der Grund zu meinem Schreiben, und nachmaligen Betragen gewesen. Die Hofnung ein Predigtamt zu erlangen daurete nicht länger bey mir, als so lange ich noch in dem Wahn stund, daß die Wahrheit allein auf der Seite meiner Secte sey. So bald ich nur ein wenig erkante, daß sie mit Lügen umgieng, und daß ich, um der Orthodoxie derselben nichts zu vergeben, nothwendig würde mit Lügen müßen, wenn ich ein Prediger werden solte; so bald begunte auch die Hofnung ein Predigtamt zu erhalten bey mir zu wancken. Hätte ich mich mit Synesio entschließen können, in meinem Hause ein Philosoph, und auf der Canzel ein Erzehler der Märchen zu seyn1, so wäre mir nicht leid gewesen, die Kappe weit eher zu erschnappen, als viele meines gleichen: Ich fand sie aber, je länger, je weniger, vor mich, zugeschnitten, wenn sie mir gleich präsentiret wurde, wie unter andern in Altenburg einmal geschahe, da mir mein Vetter, der Doctor Reibetopf, als ich meinen ehemaligen gütigen Patron, den Hofrath Haberland, von Chemnitz aus, besuchte, den Vorschlag that mich in der Börnischen Inspection bey einem alten Pfarrer als Substituten anzubringen, wenn ich mich würde entschlüßen können, deßen Tochter zu heyrathen. Das erste würde ich zur selben Zeit nicht ausgeschlagen haben, wenn das lezte nicht wäre dabey gewesen:[196] Allein ich war zu Ehrgeitzig mich durch eine Schürze berufen zu laßen und also blieb es nach.

§ 3. Der zwang, in welchen ich die armen Pfarrer, durch die Beschwörung der Lutherischen Glaubensbücher eingeschräncket sahe, gefiel mir je länger je weniger, und also erwehlte ich lieber die Freyheit, außerhalb der Kappe, die Wahrheit nach meinem besten Vermögen zu bekennen, als in derselben nur einen Papagey anderer Papageyen abzugeben.

Die edle Freyheit war also der erste Bewegungsgrund, der mich zum Schreiben antrieb, und meine aufmercksamen Leser werden wahrgenommen haben, daß dieses wohl ganzer 2 Jahr vorher geschehen, ehe mir noch in die Gedancken kam Unschuldige Wahrheiten zu schreiben, ja würcklich damals, als ich noch bey meinem Pfarrer war, und noch nicht alle Hofnung ein Predigtamt zu erhalten, bey mir verloschen war. Denn diese verschwand nicht eher völlig, als biß ich überzeugend einsahe, daß meine Secte Lügen verfochte. Diese Einsicht erweckte den Trieb zur Freyheit immer kräftiger, und die Hofnung, dieses seltene Kleinnod dereinst zu erhalten, löschte alle Lust, und mithin auch alle Hofnung, mit der Zeit ein Pfarr zu werden, gänzlich bey mir aus.

Ich blieb zwar eine geraume Zeit noch ein armer Sünder, und hätte in dieser Qualität, wenn ich nur mit hätte Lügen helfen wollen, tausendmal eher Hofnung gehabt, eine Pfarre zu erhalten, als meine Sünden loß zu werden. Allein ein geheimer Zug, daß solches auf dem Wege, den ich eingeschlagen hatte, endlich gewiß geschehen würde, ließ mich, nach einmal genommenen Entschluß, gar nicht mehr an die Kutte dencken, und also siehet man leicht, wie sehr sich die guten Leute betrügen, die von mir glauben, daß ich aus keiner andern Ursache die Feder, wider sie ergriffen, als weil mir die Hofnung, ein Predigtamt zu erhalten, von ihrer Seite, fehl geschlagen.

§ 4. Gleich wie mir aber dieser ungegründete Glaube eben so wenig schadet, als mir der ehemalige angeerbte geholfen hat; also kann ich ihn auch denen, die sich dabey glücklich schätzen, gar wohl laßen, und ihnen meinen vormaligen vollens darzu schencken, damit sie, weil sie doch so gern der Lügen glauben, sich bey beiden desto lustiger machen können; wie wohl ich glaube, daß manchen die Lust ziemlich vergangen seyn dürfte, wenn Er bedenkt, daß der ganze Schwarm seiner Secte, in den nächsten 100 Jahren die Brüche nicht wieder füllen werde, die die Freigeister ihrem Zion aller Orten in diesem Saeculo angebracht.

Aufs wenigste ist gewiß, daß man die Wächter dieser baufälligen[197] Burg, noch zu keiner zeit mehr lamentiren und Lerm blaßen hören, als bey Erscheinung der Lezteren meiner Schriften. Obs macht, weil die deutschen Waffen, die ich gebraucht, unsere Landsleute mehr zur Aufmercksamkeit gebracht, als wenn ich lateinische, Englische, Französische oder andere fremde Waffen hätte gebrauchen wollen; oder ob die Riße, die dem christlichen Zion, auch durch diese tapferen Leute, bereits beigebracht worden, noch nicht wider ausgefüllet waren, das will ich sie selber entscheiden laßen. Mir ist derweile genug, zu gänzlicher Schlaiffung dieser Lügenburg, daß meine, nach besten vermögen mit beygetragen zu haben. Wer nach mir kommt, wird schon leichtere Arbeit finden.

§ 5. 2) Die andere Beweg-Ursache zu Herausgebung meiner Unschuldigen Wahrh. soll, nach den Gedancken meiner Gegner, gewesen seyn: Weil mich meine Wißenschaft aus der Kirchen- und Ketzer-Historie geblähet hätte. Wider diese Blähungen, wenn sie mich würcklich incommodiret hätten, würde ich zwar nicht leicht ein beßer geistliches Carminatif2 haben finden können, als die Englischen Schriften, wenn ich sie damals verstanden und zu lesen getrauet hätte. Denn Diese würden bald allen Wind, der aus denen, von Hrn. Arnolden kaum eröfneten Gründen der Kirchen-Historie, bey mir hätten aufsteigen können, gedämpfet und meine Einbildung, als wenn ich nun was mehr in der Kirchenhistorie wüste, als andere geehrte Männer, rechtschaffen gedemüthiget haben.

Allein ich hatte diese Cur würcklich nicht von nöthen. Denn des Hrn. Arnolds Ketzerhistorie, die ich damals noch mit einem niedergeschlagenen armen Sünder-Auge laß, that, anstatt mich aufzublehen, eine ganz gegenseitige Wirkung bey mir. Denn indem sie mir zeigete, daß ich auch ein Glid einer abgefallenen und das gute nur verfolgenden Kirche war, so demüthigte sie mich dergestalt, daß ich eher einer geistlichen Herzstärkung bedurft hätte, wenn ich eine hätte zu finden gewust, als das ich mich nach einem Mittel, wider die geistlichen Blähungen hätte umsehen sollen.

§ 6. Ich will indeßen nicht läugnen, daß noch einige verhaltene Winde der ehemaligen Lehre damals bei mir können gesteckt haben, nach welchen ich mir freilich, wenn ich mich als ein Glied der allein seeligmachen wollenden Kirche betrachten müste, nicht allemal wehren kunte, daß sie mich nicht hätten aufblähen sollen. Sie legten sich aber, ehe ich noch nach Dreßden kam, und des Hrn. Arnolds Ketzerhistorie diente mir mehr zu einer Augen-Salbe, als das sie mir hätte[198] Ungelegenheit in meinem geistlichen Eingeweide veruhrsachen sollen. Man pflegt aber nicht selten andere nach sich selbsten zu beurtheilen, und wem bekannt ist wie schwulstig meine Herrn Gegner manchmal gegen mich aufgezogen, der wird sich wundern, das es manchen nicht wie dem Frosch in der Fabul ergangen. Mir fällt dabei ein, was der sinreiche Boiliau (?) Satyra 4 p.m. 33 sagt:


D'où vient, cher le Vayer, que l'homme le moins sage

Croit toujours seul avoir la sagesse en partage,

Et qu'il n'est point de fou, qui par belle raison

Ne loge son voisin aux petites maisons?

Un Pendant enyvre de sa vaine science,

Tout herisse de Grec, tout boussi d'arrogance,

Et qui de mille auteurs, retenus mot pour mot

Dans sa tête entassé n'a souvent fait qu'un sot,

Croit qu'un livre fait tout, et que sans Aristote

La raison ne voit goute et le bon sens radote.


§ 7. 3) Die dritte Ursache, warum ich die Unschuldigen Wahrheiten zu schreiben bewogen worden seyn soll, schiebt mein Lebensbeschreiber auf den Grafen von Zinzendorf, der eben so viel Schuld an diesen meinem vornehmen hatte, als der Papst an der Reformation Lutheri. Wenn der Ehrliche Mann die Schrift, die Ich unter dem Titul: Christus und Belial herausgegeben, nur ein wenig mit Aufmercksamkeit gelesen hätte, so würde er gefunden haben, daß der Graf von Zinzendorf die Unsch. Wahrh. (:wo mir recht ist:) gleich in dem ersten seiner an mich geschriebenen Briefe, eine schädliche Monathsschrift nennt, und daraus würde Er leicht haben erkennen können, daß mich niemand weniger, als Er, darzu könne ermuntert haben.

Sie waren, wie ich im Ersten Theile bereits gemeldet, schon unter der Feder, ehe ich noch die Ehre hatte den lieben Heyland kennen zu lernen, und waren so wenig nach seinem Plane eingerichtet, daß mich recht Wunder nimmt, daß Leute, die die Sectenflickerey des guten Grafen kennen, und die Begirde, ein neues allgemeines Pabstthum aufzurichten, an Ihm einsehen, auf die Gedancken haben gerathen können, als wenn Er mich zu Herausgebung der Unsch. Wahrh. ermuntert hätte.

§ 8. Von dieser Arbeit (in so ferne ich Verfaßer davon war) wuste, wie ich sie anfieng, außer mir, kein Mensch in der Welt etwas, am allerwenigsten der Herrenhutische Heyland, an dem ich bald mercken konnte, daß Ihm der Weg, den Ich eingeschlagen hatte, gar nicht anstund, und das Er vielmehr, wenn Er darum gewust haben sollte, alles mögliche gethan haben würde, mich davon abwendig zu machen. Man siehet also, wie sehr man sich in Beurtheilung der[199] Handlungen anderer betrügen kann, wenn man bloß durch die Brille urtheilet, die einen von andern aufgesezet wird.

Der Wahrheit gemäßer schreibet der Verfaßer, wenn Er saget: Ich schreibe diese Arbeit meinen innerlichen Berufe zu. Denn daß begehre ich nicht zu läugnen, wenn ich gleich nicht mit Paulo drüber blind worden bin. Genug, ich wurde in meinen Gemüthe durch etwas angetrieben, diese Arbeit vorzunehmen. Meine Gegner werden freylich sagen: der Teufel habe mich geritten: Allein sie bedencken nicht, daß sie ihn in der Taufe selber bey mir aus dem Sattel gehoben, und daß der h. Geist, dem sie, an seiner Stadt Raum bey mir gemacht, nicht feste geseßen haben müße, wenn Er sich von dem Teufel wieder abwirfen laßen.

§ 9. Sonst trift mein Lebens-Beschreiber die Ursachen, weswegen ich meine erste Schrift: Unschuldige Wahrheiten betitult, noch so ziemlich, denn wenn ich derselben selber diesen Titul hätte geben sollen, so würde mich wohl ungefehr die Ursachen, die Er anführet, zu dieser Titulatur bewogen haben. Weil mir aber der Titul darzu, nicht anders in meine Gedancken kam, als wenn mir ihn einer ins Ohr gesagt hätte, so sahe ich mich nicht lange nach den Ursachen um, weswegen er so und nicht anders abgefaßt werden sollte, sondern bemühete mich nur, nach besten Vermögen, so viel Wahrheiten zu entdecken, als ich damals erblicken konnte.

Ich weiß, daß dieselben noch mit vielen Schatten und Dunckelheiten umgeben sind: Allein ich kunte nichts beßers geben, als ich selber hatte, und die ewige Weißheit hat wohl gewust, daß weder mir, noch meinen Brüdern, zur selben Zeit, mehr wäre von nutzen gewesen.

§ 10. Inzwischen betrügt sich mein guter Lebensbeschreiber erschröcklich, wenn er selber glaubet daß mir die Reitzungen des Grafen von Zinzendorf das meiste zu dieser Arbeit geholfen, indem Er mir das Kirchenregiment und Predigtamt so verhast gemacht, daß ich dem Prediger-Studio auf einmal gute Nacht gegeben, und gar nach Herrnhut zu ziehen, auch sogleich die hochgräfl. Calenbergische Hofmeisterstelle aufzugeben, mich entschloßen. Das lezte hat seine Richtigkeit: Aber das erste ist grundfalsch, Er beruft sich dabey zwar abermal auf meine eigene Handschrift (:die ich wohl eben so wenig, als die Evangelisten ihre heutigen Evangelia gesehen haben mag:) auf das Evangelium St. Harenbergs3 und Christus und Belial. Wer aber letztere beide Schriften gelesen, der wird weiter nichts[200] darinnen finden, als daß ich meinen Dienst beym Grafen von Calenberg aufgegeben, um nach Herrenhut zu ziehen.

Daß das aber deswegen geschehen sey, weil mir der Graf von Zinzendorf das Kirchenregiment und Predigtamt so verhaßt gemacht, daran thut er dem lieben Heylande Gewalt und Unrecht. Denn ich sahe ja deutlich genug, daß Er selber noch ein ganz neu Kirchen-Regiment aufzurichten im Sinn hatte, und also würde Er seinem Plan schnurstracks entgegen gehandelt haben, wenn Er mir das Predigtamt, oder die Alleinschwätzerey hätte verhaßt machen wollen. Mit Kurzen, nicht der Graf von Zinzendorf, sondern der immer heller werdende Schimmer der Wahrheit (deren einmal erblickten Spur ich unermüdet nachgieng) hat das meiste zu dieser Arbeit geholfen, und der Ausgang hat gelehret, daß sie der Lügen Schaden gethan, und der Wahrheit bey sehr vielen Luft gemacht. Laß uns aber unsern Lebensbeschreiber weiter hören:


Quelle:
Edelmann, Johann Christian: Selbstbiographie. Berlin 1849 (Faksimile-Nachdruck Stuttgart, Bad Cannstatt 1976), S. 193-201.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Selbstbiographie
Joh. Chr. Edelmann's Selbstbiographie Geschrieben 1752: Herausg. Von C. R. W. Klose (German Edition)
Selbstbiographie: Geschrieben 1752 (German Edition)

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