Einzelne Wahrnehmungen, Beobachtungen, Klugheitsregeln, Tröstungen.

[265] Ein kurzer Gedanke reitzt zum Selbstdenken; der lang ausgesponnene Gedanke ermüdet. Der Verstand will sich nichts aufdringen lassen und eben so gern noch freien Spielraum haben, als die Phantasie.


Eben so, wie der Appetit zum Essen sich häufig erst während dem Essen findet, eben so die Lust zur Arbeit häufig erst während der Arbeit.


Um recht wenig zu thun an einem Tage, muß[266] man sich vorgenommen haben, recht viel thun zu wollen. Es macht uns denn unzufrieden mit uns, wenn wir sehn, daß wir das nicht vollbrachten, was wir uns vorgenommen hatten, und wir werden mehr ermuntert zu neuem Thun, wenn wir uns nicht zu viel vornahmen.


Der Mensch, der immer nur wünscht, kommt zu nichts.


Wenn du an einen, dir ganz fremden Ort versetzt wirst, der dir zum Wohnsitz bestimmt ist, so halte anfänglich gar keinen Umgang, sondern mache dich erst mit der Localität bekannt. Die ersten, welche dir ihren Umgang aufdrängen, haben gewöhnlich keinen guten Umgang in der Stadt erhalten können, sie schließen sich daher an dich, und späterhin kannst du sie nicht gut wieder los werden. Die Localität kannst du am besten kennen lernen, und den Umgang dann dir frei wählen, wenn du erst eine scandaleuse Stadtgeschichte abwartest. Da zeigt sich das Publicum in dem Gesichtspunct, aus welchem der Fremde es am sichersten würdigen kann.


Ueber die politische Lage des Staats, die politischen Ansichten, Erwartungen und Befürchtungen, äußere[267] dich nie bestimmt, noch weniger mit Eifer, wenn deine unbefangene Meinung nur irgend etwas fürchten läßt für den Gang der öffentlichen Sache; du ladest dir dadurch eine zahllose Menge Feinde auf den Hals. Denn viele sind blinde Gläubige, denen jeder Zweifel des Dritten schon als ein Staatsverbrechen erscheint, viele Dummköpfe sind auch benebelt von der Macht, und sehen nur den Nimbus, und noch andere lästern dich darob laut, um den Schein zu gewinnen, als interessire sie der Staat, während nur die Betrügereien, welche sie in dem Staat ausüben, sie interessiren.


Kannst du das Uebel dadurch nicht abwenden, so prophezeihe nicht leicht das Schlimme, das du glaubst befürchten zu müssen, du störst dem Menschen dadurch die Freude der Gegenwart, die frohe Hoffnung, und machst dich auf eine Art wichtig, welche von dir entfernt. – Noch weniger stelle dich, was so viele thun, nachher hin und rufe aus: habe ich das nicht vorher gesagt? Du machst den Leuten dadurch das Compliment, daß sie dummer sind, als du, und ein solcher Gruß wird mit Naserümpfen erwiedert.


Viele Menschen scheinen härter, als sie sind, weil sie sich ihrer weichen Gefühle schämen. Ein sehr falscher Begriff von der wahren Würde des Mannes! Man braucht darum nicht eben weibisch zu sein, wenn man[268] die weichen Gefühle, welche das schwache Geschlecht verschönern, auch hervorblicken läßt; oft sind sie denn aber freilich ein roher Kontrast mit dem Handeln, das von dem Manne gefordert wird. – Viele scheinen auch um deswillen härter, weil sie fürchten, in ihrer Schwäche des Gefühls aufgefunden und betrogen zu werden; sie wollen daher schon im voraus abschrecken.


Unser schlechtes Glück wird bei den Menschen oft als unser Fehler genannt, und als solcher nicht entschuldigt. Suche des Glücks so wenig als möglich zu bedürfen; unternimm nichts, wo von diesem vorzüglich der Ausschlag abhängt.


Es ist schwer, loben zu müssen, und doch dabei mit seiner Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit im Reinen zu bleiben. Das Lob, welches du austheilst, der Beifall, welchen du geben mußt, sei daher mehr negativer Tadel.


Man verbrannte Menschen, die unglücklich genug waren, an keinen Gott zu glauben, und doch frägt der Religionslehrer in den Schulen: ob es einen Gott gebe.
[269]

Man wird müde, den zu beklagen, der sich beständig selbst beklagt.


Es giebt keine abgeschmacktere Gesellschaftsfrage, als die: wie geht's, was machen Sie noch? – Soll ich dem Frager genügend antworten, so mag er es sich nur gefallen lassen, wenigstens für eine Nacht Quartier bei mir zu nehmen.


Das Studieren macht zwischen dem Gelehrten und dem Unwissenden einen größern Unterschied, als zwischen dem Unwissenden und dem Vieh ist; allein die Miene und Manier unterscheidet den feinen, weltklugen Mann noch mehr von dem Gelehrten.


Es ist ein Fehler, sich zu oft zu sehen, wenn man sich lange einander lieb behalten will. Die Entbehrung muß hinzu kommen, um dem Umgang wieder Reitz der Neuheit zu geben. – Man hatte sich ausgesprochen, und das schleppend-Alltägliche füllte nur aus. Man muß erst wieder Vorrath gesammelt haben, auf dem großen Markt, um gegenseitig wieder leicht mittheilen, angenehm empfangen zu können.
[270]

Die gegebene Gelegenheit macht einen Menschen nicht erst schwach; sie läßt nur seine Schwachheit entdecken.


Weltvergnügungen sucht man in der Regel mit mehr Mühe auf, als sie werth sind. Sie werden gewöhnlich zu theuer erkauft. Wenn du mit dir kämpfest, ob du dir ein Vergnügen gewähren sollst, oder nicht, so prüfe nur unpartheiisch genau: ob du auch nach dem Genuß wohl zufrieden und ungestört wieder in dein gewöhnliches Leben heimkehren wirst.


Man beurtheilt die Menschen selten nach den wesentlichen Vortheilen, welche den guten, gebildeten Verstand zu erkennen geben, sondern nach glücklichen Zufälligkeiten, deren Werth mit dem Dunst, woraus sie entstanden, auch wieder schwindet.


Durch Versprechungen kann man mehr Dienstleistungen von den Menschen erhalten, als durch schnelle Bereitschaft mit Geschenken. Das Geschenk selbst muß nur Abtrag der Schuld sein; willst du dadurch aber auf die Dankbarkeit pränumeriren, so irrst du dich in dem Menschen, denn es giebt wenige, die nicht bei[271] den Dienstleistungen, die man von ihnen verlangt, schon wieder die Hand hinhalten.


Der Hof ist der Auszug des ganzen Reiches; was am feinsten ist, trifft man dort an; Mode, Anstand, Sitte gehn von ihm aus. – Man studiert am Hofe blos darauf, wie man gefallen könne, weil das persönliche Gefallen dort meist das Glück macht, wenigstens sehr viel dazu beiträgt. Daher ist denn der Hofmann auch überall abgeschliffen, und das, was man polirt nennt. In dem bürgerlichen Leben hingegen ist Geschäft und Arbeit der Hauptzweck, die Sorge zu gefallen, wird daher zurückgesetzt, und das macht unhöflicher, gröber. Characteristisch wird diese Nicht-Achtung des Gefallens in Republiken.


Der gute Geschmack ist selten und findet sich bei wenigen Leuten. Er ist fast nicht zu lernen, noch zu lehren, nicht zu beschreiben, und wird daher immer ein Gegenstand des Streits bleiben. Ein feinerer, angeborner, natürlicher Sinn, Aufsuchen des Schönen, mehr Anschauung als Prüfung, objective Mannigfaltigkeit, Reichthum der Ideen, Klarheit ohne gesuchte Deutlichkeit, sind seine Grundlagen. Er hat in dem Umgang einen hohen Werth, da er die Farben zu dem Gemälde giebt, in welchem wir selbst uns darstellen wollen, da[272] wir die Gegenstände außer uns damit bekleiden, um sie uns angenehm zu machen. Die tiefe Wissenschaft ist selten mit Geschmack verbunden; er sucht das leicht Faßliche, das als angenehm ohne mühsame Prüfung sich Darstellende. – Glaubst du Geschmack zu haben, so sieh den nicht geringer an, der ihn nicht hat. Du hast keinen Beweis, ihn zu überführen, daß er ihn nicht hat.


Suche nicht in der größern Dienerschaft dir ein angenehmeres Leben bereiten zu wollen; ein Bedienter ist ein Bedienter, zwei Bediente ein halber, drei Bediente gar kein Bedienter.


Wenn du mit der Absicht in einen Kaufladen gehst, um große Sachen einzukaufen, so frage nicht sogleich nach ihnen, sondern zunächst nach einer Kleinigkeit. Du kaufst besser und wohlfeiler, wenn du dir erst die Sachen, welche du suchst, von dem Kaufmann anpreisen lässest. – Kommst du vom Lande in die Stadt, um einzukaufen, so thust du wohl, wenn du einen deiner Freunde aus der Stadt mit in den Kaufladen nimmst; denn der Kaufmann nimmt sonst an, daß du die Preise der Waaren nicht kennst, und empfiehlt dir auch seine Ladenhüter an. – Allzubereitwilligen Bekannten, die mit dir das Einkaufsgeschäft besorgen wollen,[273] traue aber nicht immer, denn es giebt eine Classe, die ihre kleinen Vortheil wieder hat, daß sie den Zugvogel dem Kaufmann zuführte.


Viele Menschen sind über ihre Kräfte verschwenderisch in dem Geben von Biergeldern an fremdes Gesinde; das ist eine kleine, ganz zwecklose Großthuerei. Wenn man aber bei jemandem bald wieder einzusprechen gedenkt, so ist es allerdings nicht übel angebracht, bei der Abreise das Gesinde gut zu bedenken, denn um so bereitwilliger ist es, wenn man wieder kommt. – Manche Leute haben es auch an der Gewohnheit, wenn sie wo waren, auf der Rückkehr mit ihrem Kutscher oder Bedienten über das Haus, welches sie jetzt verließen, zu sprechen, sich zu erkundigen, ob die Pferde gut gefuttert, und sie, die Bedienten, auch gut beköstigt wären. Diese Gewohnheit wird denn oft, wenn der Mann selbst von Bedeutung ist, benutzt, und seinem Bedienten wird aufgewartet, wie einem Prinzen.


Auf Reisen kehre in dem besten Gasthof ein; in dem schlechten bist du übel beherbergt, und mußt eben so viel bezahlen. Ueberhaupt, auf Reisen übertrieben sparen zu wollen, heißt Anstrengung und Kosten haben, ohne ein Vergnügen davon zu genießen.
[274]

Hüte dich vor dem ersten Prozeß; begehrt jemand den Rock von dir, so gieb ihm lieber noch die Weste als Zugabe. Kannst du dem Prozeß nicht ausweichen, so laß dich lieber verklagen, als daß du klagst, denn der Kläger ist stets der Packesel des Beweises und der Kosten, und die allgemeine Meinung ist immer für den Beklagten, weil er nicht angriffsweise handelte. Der erste Prozeß zerreißt deine Geduld tausendmal, stört deine Ruhe, empört dich, wenn du siehst, wie durch tausend Wege das Gesetz umgangen werden kann und alle Moral eine lächerliche Grimasse wird; bei dem zweiten Prozeß wirst du schon gleichgültiger, bei dem dritten siehst du, daß Chikane und dreiste Stirn hilft und von dem Richter geschützt wird, und den vierten Prozeß suchst du schon auf.


Viele freundschaftliche Verhältnisse werden dadurch zerrissen, daß der gute Freund, dem du Geld borgtest, nun wieder bezahlen soll; leihe dein Geld daher lieber an Menschen aus, mit denen du in keinem nähern Umgang stehst. Dieses Verhältniß zwischen Gläubiger und Schuldner ist überhaupt still störend unter denen, welche in häufigem gesellschaftlichen Umgang zusammen sind. – Das Darlehn, welches du einem Vorgesetzten machst, streiche als Darlehn in deinen Büchern aus, und führe es auf als Geschenk oder milden Beitrag zur Unterstützung verschämter Armen. – Verbürge dich für niemanden, denn wär der Hauptschuldner ein guten[275] Zahler, so bedürfte er des Bürgen nicht; sieh deine Bürgschaft nicht als eine Gefälligkeit an, die du nicht vermeiden konntest; sie ist ein Leichtsinn, der dein Geld kostet. – Viele Kaufleute lassen ohne alle Rücksicht metiermäßig mündlich an den Abtrag einer Schuld mahnen; folge dieser großen Unartigkeit nicht nach. – Wenn der Gemahnte sich durch das Anmahnen beleidigt fühlt, oder wohl gar grob wird, so zahlt er wohl noch; ist er aber höflich oder gleichgültig dabei, so ist er ein schlechter Schuldner.


Es reden uns Menschen als alte Bekannte an, und wir wissen nicht, wo wir sie hinbringen sollen. Eine peinigende Verlegenheit! Sie zu befragen, wer sie sind, würde so viel heißen, als: Sie sind mir zu gleichgültig gewesen, als daß ich mich Ihrer noch erinnern könnte! und überdem nennt niemand gern seinen Namen, wohinter denn wohl eine Art von beleidigtem Dünkel stecken mag. Das Beste ist in solchen Fällen, man setzt die Unterredung so gut als man kann, fort, bis wir durch dieselbe näher zu der Rückerinnerung gebracht werden, oder ein Dritter uns unbemerkt den Namen sagen kann. Bemerkst du selbst diese Verlegenheit an jemandem, den du antriffst, so setze ihn also ja nicht dadurch noch mehr in Verlegenheit, daß du ihn etwa frägst: aber, wie ist das möglich? Bin ich Ihnen denn so ganz unbekannt geworden?
[276]

Dein Geschäftszimmer habe, wo möglich, nach der Hofseite, denn alsdann stört dich das Lermen auf der Straße nicht, und lockt dich nicht an das Fenster, die Nachbarschaft hat nicht an dir einen lästigen Visitator, und du kommst nicht mit ihr in nahe Verbindung, die oft nichts taugt; man hält dich, der du oft am Fenster stehst, nicht für faul, und nach der Hofseite hin bist du ein guter Wahrnehmer dessen, was hier vorfällt, und dieses geht dich mehr an.


Wer nicht die Kunst verstehn will, reich zu werden, den betrachten andere Menschen entweder als einen Dummkopf, oder als einen sehr gefährlichen Menschen. Gefährlich um deswillen, weil ihm die fast allgemeine schwache Seite, bei welcher dem Menschen am leichtesten anzukommen ist, fehlt.


Bei den Frauenzimmern ist das Stricken das, was bei den Männern das Tabackrauchen, das Schnupfen ist, nämlich eine stets wiederkehrende Aufreitzung des Sinnegefühls, als Antrieb, den Gedankenzustand, der durch Monotonie sonst einschläfern würde, wach zu erhalten. In dem langweiligen Schäferleben, so lieblich auch die Faulheit des Idillenlebens geschildert werden mag, finden wir beide Aufreitzungen zugleich, da eine[277] allein nicht den Zweck erfüllen würde; die mehresten Hirten kauen Taback und stricken dabei.


Da die Deutschen, nach dem Ruf mindestens, den sie im Auslande haben, so gute und bewährte Trinker sind, oft auch in der That der Trunk die Spindel ist, um die ihr Ringen und Streben sich dreht, so kann man schicklich auch davon Gelegenheit nehmen, die Sprache zu bereichern. So darf man häufig sagen, statt: »er verdient ein gut Stück Brodt,« – er verdient seine Flasche Bier – statt »Brodtwissenschaft« steht oft Schnapswissenschaft weit richtiger, und für »Brodterwerb« muß es häufig heißen »Weinerwerb.«


Außer der Nachahmungssucht, welche eine Folge zu großer Bescheidenheit, der Furcht, nicht Original sein zu können, ist, wirft man den Deutschen auch sehr mit Recht Titelsucht vor. Diese Titelsucht und deren viele Abstufungen stört denn sehr die Annäherung zu allgemeiner Gleichheit, und kann wohl nur in den vielen kleinen Monarchien Deutschlands ihren Grund haben. In aristocratischen Staaten und Republiken findet man diese Titelsucht nicht, und muß denn der Mensch auch einen Titel haben, wie der Hund seinen Namen, gilt er ohne dem nichts? Der gute Wein bedarf keines Schildes, und ein geheimer Kommerzienrath, der es[278] nicht einmal geheim halten kann, daß er so recht eigentlich gar nichts ist, wird dadurch nur um so lächerlicher. Mit einem Reichspostamtszeitungsexpeditionssecretair muß man in der That vermeiden, bei kurzen Wintertagen viel zu thun zu haben, denn das Nennen und Schreiben des Titels raubt zu viele Zeit, und man mag lieber eine andere Unartigkeit begehen, nur versäume man gar nichts an dem Titel. So schreibt man an einen Adlichen: Hochwohlgeborner etc. Ein Nichtadlicher soll also wohl ein Niedriggeborner, oder wohl am Ende gar kein Geborner sein? Eben so fordert der Curialstyl, zu schreiben: in tiefster Erniedrigung bin ich etc., der Mensch soll sich aber nie erniedrigen. – Seit die Franzosen Deutschland mehrere Jahre hindurch beehrten, kam eine Unordnung in das Titelwesen, und dadurch entstand mehr Gleichgültigkeit: wird das aber so bleiben, wenn der deutsche Staatskörper wieder zusammengesetzt ist?


Das vornehme Gesicht wird bleibend, ja sogar erblich, ein Familiengesicht. Oft wiederholte, die Gemüthsbewegung begleitende Züge, werden zuletzt unwandelbar, und nichts spricht sich deutlicher aus, nichts soll sich deutlicher aussprechen, als die Wichtigkeit, welche der Vornehme auf sein Gesicht legt. Der emporgeworfne Mund und Nase, die heraufgezogne Stirn, der gnädig herabgeschlagne Blick bleiben stehen, und imprimiren sich bei der Empfängniß von Generation zu Generation. – Daher hat auch der Gesichtsausdruck des Emporkömmlings,[279] der früherhin auf dem Lande brutalisirte und vegetirte, immer etwas Gemeines; die Abschleifung der Stadt, des hohen Lebens, wirkt nicht mehr auf die festgewordene, rohe Stellung der Züge; die Gesichtsmuskeln nehmen eine neue Biegsamkeit nicht mehr an. – Das devote Gesicht ist in ganzen Ländern allgemein. Das fromme Niederblicken bei dem Gebet, und dann das Aufschlagen des Auges zum Kruzifix, zum Marienbilde, werden bei der täglich wiederkehrenden Messe gewohnte Stellungen und Bewegungen. Daher die Ausdrücke: katholischer Blick, Madonnengesicht. – Der Mensch hat nur zwei kurze Perioden, in welchen er sein wahres Gesicht zeigt, nämlich gleich nach der Geburt, und im Tode. – Das erste Schreien des Kindes verändert bald das ursprüngliche Gesicht der Ruhe, und bringt Bewegung in die Muskeln; Mütter finden daher, daß der Säugling fast alle Tage ein anderes Gesicht hat, und nie das erste, wahre, welches sich ihnen tief eindrückte, wieder bekommt. Im Tode lassen alle Muskeln, welche durch das innere Leben ihre Stellung erhalten hatten, nach, und dann ist das natürliche Gesicht wieder da. Selbst das entsetzende Gesicht des schrecklichsten Tyrannen ist nach dem Tode ganz ein anderes Gesicht, und ruhig. Daher heißt es auch bei zunehmender Krankheit: er hat ein ganz anderes Gesicht! Es liegt dies nicht in dem Abfallen des Fleisches. Das Gesicht im Schlafe ist nicht das wahre Gesicht, denn auch im Schlafe arbeitet die Seele, und die Muskeln haben bei der Lebensfülle noch ihre Kraft. – Studierende[280] Portraitmaler mögen diese Wahrnehmungen weiter für ihre Kunst verfolgen.


Kaiser Tiberius wurde 78 Jahr alt, und außerdem, daß eine heftige Gemüthsart ihn quälte, war er auch ein großer Freund der sinnlichen Genüsse aller Art. Indeß bei dem allen hatte er eine genaue Aufmerksamkeit auf seine Gesundheit, und er sagte: er halte den für einen Thoren, der nach dem dreißigsten Jahre noch den Arzt um seine Diät befragte, indem jeder alsdann schon durch Aufmerksamkeit auf sich, und durch eigne Erfahrung wissen müsse, was ihm nützlich und schädlich sei.


In Voltaire's Reise des Scarmentado sagt der Held: »endlich reisete ich in mein Vaterland Candia zurück, nahm daselbst ein Weib, wurde bald Hahnrei, und fand, daß dies die gemächlichste Lebensart unter allen sei.« – Wenn blos von Gemächlichkeit die Rede sein soll, und der Ehemann über die Intoleranz, gemeiniglich Eifersucht genannt, sich hinwegsetzen kann, so liegt hierin viel Wahres, denn es giebt keinen gefälligern, aufmerksamern Bedienten, als eine Ehefrau, welche Nebenwege geht, die der Mann nicht so geradezu bemerken soll.
[281]

Das Ansetzen des Schimmels ist der erste Uebergang aus der todten Welt (deren organisches Forttreiben wir mindestens nicht bemerken können) zu der organischen Welt des Pflanzenreichs; der Polyp steht auf dessen höchster Stufe, und an ihn schließt sich der Wurm der in der Thierwelt, der Welt der freien Bewegung, wieder den untersten Platz einnimmt. In dieser Reihenfolge hat wieder der Mensch die höchste und letzte Stelle, er ist das vollendetste Product der wirkenden Kraft der Schöpfung, der äußerste Grad der möglichen Darstellung der Sinnenwelt. Mit ihm schließt der sublunare Gesichtskreis, und er gränzt wieder an die geistige Welt an, er nahet sich am mehrsten der untersten Stufe dieser weiteren Abtheilung des All's, deren Criterium Entbundenheit von allem physischen Stoff ist.


Menschen, denen der gewöhnliche Gang anderer für sie selbst nicht genügt, die das Alltägliche nicht leiden können, und das Ungewöhnliche aufsuchen, nicht in der Absicht, um als Sonderlinge die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehn, sondern um zu prüfen, ob es nicht noch etwas Ungewöhnliches, das zu der Vervollkommnung führt, gebe; solche Menschen verschaffen sich selbst durch eigne Betrachtungen, Beobachtungen, Wahrnehmungen die beste, sicherste, selbstständigste Bildung. – Diejenigen hingegen, welche ohne diese eignen, fortgesetzten Reflexionen allein nach Modellen, aus der Gewöhnlichkeit aufgegriffen, gebildet werden, sind Kunstmaschienen;[282] sie haben Mameren, aber leere Worte, ihr Wissen ist Nachahmung, die geltenden Sitten und Gebräuche sind ihr unwandelbarer Glaube, ihre feine Bildung ist Meinungslosigkeit, sie fühlen ihren Werth nur durch andere, und in der Allgemeinheit sind sie der Fußschemel für geltende Köpfe, gute Unterthanen, schlechte Republikaner, fleißige, wohlgesittete Schüler, schlechte Lehrer.


Man sagt: dieser Mann steht nicht an seinem rechten Platze; und das ist nur zu oft sehr wahr. Seine Stelle im bürgerlichen Leben ist ihm schon angewiesen, ehe er zu einer freien Wahl kommen konnte, ehe er wissen konnte, ob die ihm aufgedrängte Lebensart für ihn passe, oder nicht. Daher muß denn der Mensch halb in die Lage, halb die Lage in den Menschen gezerrt werden, und das giebt denn unzufriedne oder solche Menschen, die mit durchgeschoben werden müssen, und schlechte Geschäfte. Die Welt würde in aller Hinsicht ihrer Vollendung näher kommen, wenn jeder frei seine Lebensart dann erst wählen könnte, wenn er erst weiß, was sie ist, und auch nach andern sich umgeschaut hat. So aber glaubt der gewöhnliche Mensch nach zurückgelegten Jugendjahren in der ihm angewiesenen Stelle auch am Ziel seines Strebens zu sein; er geht mit, wo seines Gleichen hingeht, nickt, wenn sie nicken, sieht und frägt wie sie es machen, um auch schulgerecht zu sein, und kommt so seinem Lebensziel immer näher, ohne eigentlich[283] weiter zu kommen. Nun hat denn auch der feigherzige Soldat, der Dummkopf ein Staatsmann, der feurige Kopf ein Landprediger, der Phlegmatiker ein Kaufmann, der Engbrüstige ein Seemann, der Leichtsinnige ein Richter, das Leckermaul, der Wollüstling ein Erzieher der Jugend werden müssen, und daher die allgemeine Weltverkrüppelung! Es giebt keinen Beruf von außen her; der Mensch hat nur zu dem Beruf, zu welchem er sich stark und lustig genug fühlt. – Man sieht denn auch wohl ein, daß man seine Stelle nur halb ausfüllt, oder sie verstellt, man ist deshalb unzufrieden mit sich selbst, mit dem Geschäft, und mögte wohl dem allen entsagen, und selbst zu einer Wahl, zu einem Beruf schreiten, den man in sich fühlt; – aber da tritt die liebe Gewohnheit, die Gemächlichkeit des Besitzes, das Widerreden der Alten, die allgemeine Hemmung des Ehestandes hinzu, und man bleibt Zeitlebens ein erbärmliches Zwitterwesen. Nur wenige vermögen es, die unpassende Kleidung wegzuwerfen, und sich selbst eine andere anzuordnen; diese sitzt denn aber auch gut, und muß am Ende auch andern gefallen. Man nennt sie unruhige Köpfe, doch das sagen nur die Schlafrocksmenschen; dieser paßt einem jeden, sitzt aber keinem Menschen gut, und man kann auch einen Strohmann hineinstecken. – Naturam ne furca quidem expellere queis!


In einem Lande, wo alles den Degen trägt, werden die Menschen, welche eine Schreibfeder zuschneiden[284] können, bald selten werden, und aus dem Auslande verschrieben werden müssen.


Die erste physische Bestimmung des Menschen besteht in seinem Antrieb zur Erhaltung seiner Gattung. Die ganze organische Welt steht bei der eingetretenen Zeugungsfähigkeit im größten Flor. Im Naturzustande des Menschen tritt dieser Geschlechtstrieb im 15ten oder 16ten Lebensjahre in der Regel ein. Dieser von Natur gegebene Anfangstermin paßt aber nicht mit dem, welchen das bürgerliche Leben giebt, denn hier muß der Mensch erst das erlernen, was dazu gehört, ein Hauswesen gründen zu können, er muß sein Gewerbe, seine Kunst erst gut verstehn, er muß erst in einer Carriere sein, um eine Frau in sein Haus führen zu können, und dieser Durchschnittstermin im bürgerlichen Leben ist denn das 25ste Jahr. Womit füllt er nun diese Zwischenperiode zwischen der natürlichen Geschlechtsvollendung und der bürgerlichen Vollendung aus? – Selten anders als mit Ausschweifungen, mit Widersprüchen zwischen Naturberuf und Bürgerpflicht.


Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, wie das Hausvieh zu einer Heerde, sondern, wie die Biene, zu einem Stock zu gehören. Er sieht die Nothwendigkeit ein, von einer bürgerlichen Gesellschaft ein Mitglied zu[285] sein. Die Menschen können das friedliche Beisammensein nicht entbehren, und dabei doch, einander beständig widerwärtig zu sein, nicht vermeiden, und daher gründen sie conventionelle Gesetze des Zwangs, der eine Entzweiung beständig bedrohet, währenddeß die unentberhrliche Cvalition immer fortschreitet. Diese stets einander widerstrebenden Kräfte des unentbehrlichen Beisammenseins und des unvermeidbaren Zuwiderseins gegen einander, bilden das Leben des Staatskörpers, wie der Pulsschlag das Leben des physischen Körpers bildet. Das unvermeidbare Zuwidersein gegen einander hat seine Quelle nicht allein in dem Egoismus, sondern in dem hervorstechenden Characterzug der allgemeinen Thorheit der Menschen; zu dieser noch etwas Bosheit, die man Lebensklugheit nennt, gemischt, so sucht ein jeder seine eigne Thorheit zu verstecken, giebt den größten Theil seiner Gedanken nicht dem Anschaun anderer preis, und ist also eben so gut auch gegen andere auf seiner Hut. Daher der bellum omnium contra omnes, (der Krieg aller gegen alle), den man bei Völkern, welche noch auf einer geringen Stufe der Cultur stehn, und also die Unentbehrlichkeit des Beisammenseins weniger fühlen, auch weniger findet. – Es gehört zu dem Begriff der Gattung, die Gedanken anderer zu erspähen, die seinigen aber zu verbergen; dadurch werden Verstellung, Täuschung, Lüge nothwendig, und aus der Thorheit der Menschen, diesem Unterscheidungszeichen zwischen Engel und Thier, löset sich also das Problem, daß sie von Natur böse sind; es ist aber dieses kein absolut böses, sondern nur versteckte Thorheit. Nehmt dem Menschen[286] die Thorheit, und er ist auch nicht mehr böse, wie ihr es nennt, und wenn der Mensch nur laut denken könnte, so wär der allgemeine Krieg aller gegen alle auf einmal gehoben.


Urtheile nicht vorschnell über den wahren Werth eines Menschen. Derjenige, der dir schon als ein guter, rechtlicher Mann erscheint, hat oft nur ein ruhiges Temperament. Es kostet ihm wenig Mühe, regelmäßig zu leben, bis seine Leidenschaften geweckt werden. Dagegen nimmt man oft das für bösen Willen, was nur eine Folge der Lebhaftigkeit ist. Demuth ist häufig ein Kunstgriff des Stolzes und der Herrschsucht; die äußere Würde, welche sich jemand zu geben weiß, soll allemal die Schwäche verstecken; eine große, glänzende Handlung reicht allein nicht hin, den Werth des Menschen zu bestimmen; wer die Motive kennte, würde sie anders richten; überhaupt also – schließe nie von der guten Wirkung auf die gute Ursach, und so umgekehrt.


Um in Gesellschaft wohl gelitten zu sein, braucht man nur nicht anzustoßen; um zu gefallen, muß man schon positiv Gesellschaftsgaben auskramen; sich auszeichnen zu wollen, ist ein mißliches Spiel mit dem[287] Ehrgeitz anderer; sie sind wohl zu besiegen, aber nicht zum Schweigen zu bringen.


Die äußern Trauerzeichen nach dem Tode eines Menschen sind höchst abgeschmackt, ein Schellengeklingel der Heuchelei, und oft die nächste Verschwendung aus der Ersparniß des Erblassers. Die Kleidung also giebt die Trauer, nämlich erst die ganze Trauer, und präcise nach sechs Wochen die halbe. Ei, welche wundersame Kraft! – Wenn jemand mit einer Trauerkleidung in eine weiß- und rothbunte Gesellschaft kommt, so vermeidet man ihn auch gern, denn die Kleidung scheint einen Todtengeruch zu haben. Sie ist ein Aushängeschild, das dem Nachbar die Aussicht stört. – Ein prachtvoller Leichenstein ist eine Entschuldigung der Freude über die Erbschaft, oder ein illuminirter Stammbaum. – Mancher sparte mit vieler Enthaltsamkeit alte Weine auf, damit sie bei seinem Leichenmahl vergeudet würden, um den Ekel und die Freude hinunter zu schwemmen.


Wer viel lieset, denkt wenig; – wer viel Romane lies't, hat keine eigne Phantasie, wer eine Sucht zum Zeitungslesen hat, ist mehr neugierig als wißbegierig, wer nicht gern Gedichte lies't, hat kein Gefühl für das Schöne, wer gern Gedichte herdeclamirt, ist selten selbst ein guter Dichter, wer die theatralischen Vorstellungen[288] enthusiastisch fortgesetzt liebt, ist zu einer großen Weltrolle nicht geschaffen, wer die Geschichte liebt, hat Lust, etwas aus sich zu machen, wer eine Kanzelrede gern hört, der geht auch gern den Sonntag vor das Thor, wer Proceßacten durchlesen will, der fange mit dem letzten Blatt an, wer Armeeberichte lies't, der streiche zwei bis drei Nullen, wer den Brief eines guten Freundes lies't, findet zweierlei Handschriften darin, eine leserliche im Anfang, eine unleserliche gegen das Ende hin, wer gern dictirt, befiehlt auch gern, wer gern abschreibt, ist ein guter Wirth.


Zehn Jahre höchstens gehören für einen Minister.


Ich glaube, die Thiere sind darum so wild, weil sie so schnell der Zucht der Eltern entwachsen. Ich glaube, was das Menschengeschlecht betrifft, unser Jahrhundert fördert sich nicht, weil unsere Pädagogik der Jugend zu viele Befugniß zur Freiheit und Ungebundenheit einräumt. Strenge Erziehung bildet gute practische Menschen. Hier empfindeln, tändeln zu wollen, das bestraft sich durch die Unverschämtheit des Erzogenen.


Wer schnell Drucksachen überschauen kann, der überschaut auch gewöhnlich eben so schnell die Menschen.
[289]

Der Krieg ist das Niesewurz und die Purganz des menschlichen Bürgerlebens. Durch den Krieg lernt man, besonders wenn der Feind eindringt, das Niesewurz und die goldnen Berge kennen, und was die Purganz betrifft, so scheidet der Krieg gewöhnlich die Reinen von den Unreinen. – Der Krieg geht über die menschliche Natur hinaus, darum kann von den Nachwehen hier die Rede nicht sein.


Ein freier unabhängiger Mann kann wohl zu dem großen Schwunge der Genialität im Denken und Handeln sich emporheben. Aber ein verheiratheter Mann? – Die vielen Haussorgen, die kleinen Quälerein und das Herniederziehn zu den Nachbarverhältnissen halten ihn am Boden!


Sehr fruchtbare Schriftsteller sind wie die etwas stark ausschweifenden Frauen. Die Rezension spricht nicht mehr über sie, weil die Rezension zu lang sein würde, und die Tage zu kurz sind.


Wenn jede vornehme Spitzbüberei gelingen sollte, wo würden die Fußgänger vor allen Equipagen sich retten können?


Die erste Ursach der Untreue vieler Ehefrauen ist nicht Wollust, sondern ihre Anlage zur Neubegier.
[290]

Ein sehr großer Philosoph sagt: wenn nur die Menschen so edel, wahr und gut wären, als meine Liebe zu ihnen ist! Meine Wagschaale verliert; das Laster steigt im Gewicht, und die Tugend wird eine feile Dirne! –


Die beste, musterhafteste Frau kann in ganz kurzer Zeit durch falsch gewählten Umgang für eine Ewigkeit vergiftet werden.


Wer sind eigentlich die Alchymisten? Nicht die Freimaurer, nicht die finanziellen Plusmacher, nicht die Chemiker von offenkundiger Charletanerie, – sondern – die Juden! – Durch deren Hände geht gebrochen das Metall in die Münze, kommt wieder durch die Juden aus der Münze, geht durch sie von neuem in die Münze, einen veredelten Stempel zu bekommen; wer also decimirt?


Der Beruf der Frau ist, durch Tändelei und scherzhafte Liebe das ernsthafte Leben des Mannes anzufrischen. Versäumt sie dies, wird sie, welche der Mann seinem Range und seiner Würde gleich halten wird, gegen ihn ungezogen, so ist die nothwendige Folge davon, sich eines Gegenstandes zu entäußern, welcher der Gegenstand wahrer Werthachtung nicht mehr sein kann.


Der gefährlichste Punct der Frau, um sie der[291] Verworfenheit zuzuführen, ist der, wenn der Mann aufhört, eifersüchtig zu sein. Untugend wird durch Verachtung privilegirt, und das Resultat ist – Gemeinheit!


Wenn ein Richter ein Urtheil fällen soll, so kommt oft viel darauf an, ob es an einem schönen, heitern Maitage, oder an einem trüben Novembertage, ob es vor Tische oder nach Tische, ob es nach einer Nachtschwärmerei, oder ganz besonnen und nüchtern, ob es nach einem häuslichen oder pecuniären Zwist, oder aber in voller Freiheit der Gefühle geschehen. – Ach! ihr armen Gerichteten! Warum kommen wir nicht wieder zu den zwölf Tafelgesetzen und zu dem Areopagus! da war Freiheit, da war Ehre der Freiheit!


Neid, Scheelsucht, Habsucht, Geitz sind Geschwister-Kinder, und ihre Großeltern heißen: Stolz und Armuth des Geistes.


Kommt man in Deutschland bei der Erziehung der Volksstämme erst dahin, daß der Mann Hauptsache, die Frau aber Nebensache sei, so ist auf Kraft und Gewalt Hoffnung zu machen.


Warum hat das Kartenspiel vielen Menschen so viel Anziehendes? Des schnellen Wechsels, der bequemen Art wegen, sein Glück zu versuchen, der Verwandtschaft[292] der Idee wegen! Denn der Mensch ist ein Glückskind; er will es im Spiel versuchen, ob es wahr sei, daß das Spiel die Welt regiere, und da der Mensch die Bequemlichkeit liebt, ladet er bei dem Spiel den Zufall als Schiedsrichter ein. – Der Schiedsrichter verschwindet, – die Schlauheit gewinnt – und die Warnung ist: jedes gewagte Spiel an fremdem Ort mit fremden Personen ist ein Opfer, welches der Wahrheit des Lebens zu schwer fällt, und gesetzliche Strafe gegen die Freibeuter verdienet. Es ist nemlich hier nur von dem Spieler, wo Verstand, Besonnenheit und reiner Ehrgeitz das Spiel regieren, die Rede; der Spieler von Profession gehört nicht zu unserer Beachtung, sondern vielleicht vor ein Strafgericht.


Es giebt beinahe keinen größern, das ganze Gesellschaftsleben störenden Fehler, als den Ueberreitz zur Empfindlichkeit. Im Gesellschaftsleben findet man mehr das etwas betagte weibliche Geschlecht dafür empfänglich; sie sind maulend, schweigend, sogar hämisch, oder, was noch schlimmer, sie werben eine Parthei! Der Mann überlegt mehr, grollt aber auch gefährlicher. – Die Empfindlichkeit der Frau wird höchstens boshafte Klatscherei und Verläumdung; die regsame Empfindlichkeit des Mannes wird Zorn, wird Strafgericht! So unterscheiden sich Schwäche und Stärke! –


Ende des ersten Theils.

Fußnoten

1 Besitz, Genuß und Ruhe sind bei Licht besehn, wohl die drei Spindeln, um welche sich alle Kraftanstrengung und Lebenswirksamkeit der menschlichen Natur drehet.


2 Siehe hierüber Kant pragmatische Anthropologie.


3 Literatoren werden diese beiden Philosophen, welche eine Zierde deutscher Gelehrsamkeit waren, wohl kennen. Andern Lesern hier ihre Namen zu nennen, halte ich für unschicklich.


4 Manche Menschen zögern mit einem aufrichtigen Tagebuche, weil es in unrechte Hände einmal kommen könne. Allein dagegen giebt es Mittel. Die mißlichen Stellen kann man mit einer Chiffernsprache schreiben, wovon man den Schlüssel entweder im Kopf sich festhält, oder ihn genau irgend wo verwahrt. Die unauflösbarste Chiffernsprache ist in dieser Hinsicht die durch Musiknoten, welche der, der Musik versteht, sich sehr leicht erfinden kann; oder aber, man wählt sich für jeden Buchstaben eine beliebige Zahl.


5 In dieser Hinsicht ist nichts bedeutender, als die Bergpredigt Math. Kap. 5. Sie enthält in kurzen, gedrängten Sätzen eine Menge von Wahrheiten und Warnungen, welche immer noch für unsere Zeiten passen.


6 Der traurigen Beispiele sehr viele giebt es fast in jedem Bezirk, daß die zweite Generation sich unglücklich machte und in Verfall kam, wenn sie dem mit Erfahrungen aller Art bereicherten Alter ihrer Eltern sich überheben wollte.


7 Das allg. preuß. Landrecht stellt den Begriff von Ehefrau und Hausfrau fest. Jene ist die, welche rite getraut worden; diese die Frau zur linken Hand getraut. Letztere hat nur die engen Befugnisse der Wirthschafterin; jene aber gesetzlich Theilnahme an dem Rang des Ehemannes. Die Kinder der Hausfrau sind in testamentarischer Folge nicht einmal diesseits dem des sechsten Grades erbfähig, und außerdem ist zu bemerken, daß höchsten Orts die Genehmigung zu einer Ehe zur linken Hand nachgesucht werden muß, allein nur in ganz besondern Fällen ertheilt wird. Eben so schützen auch alle andere Gesetzgebungen civilisirter Völker die Rechte der rite angetrauten Ehefrau.


8 Ein Menschenfeind schrieb jüngsthin: »was ist der Mensch! Ein animalisch-artistischer verhunzter Versuch der überjährigen Mutter Natur.« Nun, so wollen wir doch versuchen, daß wir etwas dazu beitragen, der Würde des Menschen den vermeinten Adel zu erhalten.


9 Die Mode in Kleidung und den mehresten Formen des Lebens ist eigentlich weiter nichts als ein kleinstädtischer Rangstreit der Nachbarn, wonach einer dem andern nichts nachgeben will, und eben dasselbe glaubt aufwenden zu können. Daher sind entschieden die Modesüchtigen auch Schwachköpfe, und man findet daher auch das weibliche Geschlecht mehr der Modekrämerei anhängend. Der Mensch außer der Mode, wenn er dabei nicht paradox, Sonderling zu sein strebt, scheint mir daher mehr innere Energie, mehr Selbstständigkeit zu haben, als die Modepuppen.


10 Frische Luft in den Zimmern, besonders in den Schlafzimmern zur Sommerszeit, und Räucherwerk von Mastyx u.s.w. im Winter sind die ersten Erfordernisse der Luftreinigungen der Zimmer.


11 Vorschriftsmäßig soll der Barbier, der einem Todten das Haar abnimmt, das Barbiermesser mit in den Sarg legen; aber geschieht es wohl? – Und zu welchen Fortpflanzungen gefährlicher Krankheiten kann diese unnütze Spielerei nicht Anlaß geben? Man sollte sie ganz und garr ausrotten!


12 Der Kuß der Männer unter einander ist überhaupt ein Pleonasmus der Freundschaftlichkeit, und müßte eigentlich ganz außer Sitte und Gebrauch kommen.


13 Siehe Hufelands Makrobiotik.


14 In Deutschland findet man in dieser Hinsicht die feinsten Mahlzeiten in großen Handelsstädten, und wenn man glaubt, daß die Tafeln der Fürsten die üppigsten sind, so irrt man darin sehr. Diese werden oft sehr schlecht von ihren Köchen bewirthet.


15 Jean Paul sagt sehr wahr: daß es nicht leicht sey, einen Teller Suppe mit Manier zu essen.


16 Seit der Betrieb mit Wein, Bier und Branntwein durch das Patentwesen zur Speculation geworden, sollte in der That die Medicinal-Polizei etwas genauer darauf achten, daß nicht geheime Gifte gegeben werden.


17 Alles Salz ist ein Lockmittel und selten ein provisorisches Niederschlagsmittel für den menschlichen Körper. Wenn nun aber in allen spirituösen Sachen die alcalischen Salze gedrängt sind, so ist eine natürliche Folge des Genusses, daß ein Reitz für die Folge eintreten muß.


18 Man müßte in der That jetzt davon reden, daß ein Unterschied zwischen dem politischen, dem poetischen, dem hochstudierten, dem genialen, dem kriegerischen und – zuletzt dem Weinrausch gemacht würde. Es würde sich dadurch das abscheiden, was blinder Lerm ist; denn nach den Jahren der Unruhe ist mancher Mensch wohl seiner Leichtfertigkeit wegen übel beurtheilt, ob er gleich sehr rechtlich war. –


19 Ueberhaupt kann man die schon für gefährliche Trinker annehmen, welche es verheimlichen, daß sie trinken.


20 Man kann diese Erfahrung in den mehresten Städten Deutschlands machen. Unter dem Rathhause ist der Rathskeller, und hier wird dann erst von den Partheien gezecht, ehe sie vor den Richter treten.


21 Ist nun einmal bei angestrengten Nachtwachen u.s.w. eine Unterstützung des Körpers nothwendig, so ist doch der Kaffee oder der Thee vorzuziehn. Ersterer ist ein anerkanntes Mittel, den Lebensreitz zu erheben, und letzterer wirkt beinahe noch mehr. In China ist er fast betäubend.


22 Die Frauen sind duldsamer gegen den Trunkenen als die Männer es sind. In dem Gefühl der Schwäche und in der Sehnsucht nach Ruhe muß das wohl liegen. Vielen wird aber auch die Bemerkung nicht entgangen sein, daß die Frauen ihren Männern nicht leicht Hinderungsmittel in den Weg legen; wahrscheinlich, weil sie wissen, daß alsdann dem Mann die Besonnenheit fehlt, und sie selbst gern den Herrn spielen wollen.


23 Die Erfahrung lehrt, daß seit Einführung der Brownschen Methode viele reconvalescirte Fieberkranke während der Krankheit den Trunk sich so angewöhnt hatten, daß sie nachher ihn nicht wieder entbehren konnten, und es sind uns einige Aerzte in großen Städten bekannt, denen der Vorwurf gemacht wird, daß sie Kranke heilen, um Säufer zu erziehen. Was ist nun besser, der rasche Tod des Nervenkranken, oder der schimpfliche Tod des Säufers?


24 Im Militairstande ist diese Modethorheit noch übler. Man findet, daß Officiere der Reiterei ihr ganzes Vermögen bei der Pferdeliebhaherei aufgeopfert.


25 Es kann hier nur von der Steifheit eines verrosteten Jahrhunderts die Rede sein; denn früherhin weiß man, daß an diesen Spielen, die zu den gymnastischen gerechnet wurden, die ersten Prinzen Theil nahmen.


26 Auch in Hinsicht der Nationaltänze findet man in Deutschland die Volksthümlichkeit bei der geringern Klasse, besonders am Gebirge erhalten, und diese Volksthümlichkeit ist eine Schutzwehr der Originalität. Alle Methoden und Manieren finden ihr Ende; der Character des Volkes steigt daraus wieder verjüngt hervor.


27 Einen Beweis hiervon liefern die Haloren, welche fast durchgängig kunstmäßige Schwimmer sind. Trotz der schweren Arbeiten in den Salinen sind ihre Bewegungen leicht und gefällig, besonders wenn man dieses Völkchen im Sontagsstaat oder bei einem Fischerstechen sieht.


28 Nach dem Spiegel sein Gesicht studieren und in Gesellschaft mitbringen zu wollen, giebt immer etwas steifes, denn die Bewegung der Muskeln und Liniamente ist immer auf einen Punct gerichtet, da dem Spiegel gegenüber das Auge nicht abweichen kann. Man bemerkt also auch, daß alle Spiegelnarren steifisch sind.


29 Das Gesichterschneiden findet man mehr im höchsten Stande, als im geringen, und woher? Weil dort die Affectation vorherrschend ist, hier die Wahrheit. –


30 Man ist schon jetzt, zu Ende Jahres 1817, von der Manie der Reinigungswuth zurückgekommen, und es steht zu erwarten, daß nach gemäßigten Grundsätzen die deutsche Sprache recht bald consolidirt werde.


31 Hunderte der Emporkömmlinge giebt es, welche blos ihrer schönen Handschrift wegen sich empor schwangen, und man hat Monarchen gesehn, welche die Gesuche an das Kabinet verwarfen, weil das Siegellack nicht taugte.


32 Spieler von Profession sind Menschen, denen man einen Mord auftragen kann. Warum nicht? Schlachten sie doch ganze Familien ab, daß sie einzelne, junge, unerfahrne Menschen in's Unglück stürzen!


33 Eine Schlacht ohne Feldmusik würde nur ein Schlachten sein. Der Schlachtgesang reißt den Gemeinen in das Feuer der Schlacht. Selbst das Roß des Reiters braust und stampft, wenn die Drommete das Signal giebt.


34 Warum finden wir denn in katholischen Ländern so eifrige Gläubige? Orgelton und Meßgesang und die großen Kirchenmusiken reißen unwillkührlich zur Frömmigkeit hin. Wer von dem, »Requiem« in einer Kathedrale aufgeführt, nicht erbaut wird, der besuche das Gotteshaus nicht wieder.


35 Diese Neckerei, welche man gegen den Geitz überall findet, sollte überhaupt schon gegen ihn warnen, und den Unterschied zwischen Geitz und haushälterischer Sparsamkeit lehren. Der erklärte Geitzige wird überall, wie man sagt, gahänselt und aus Neckerei betrogen. –


36 Spitzbuben werden nach dem Gesetz bestraft. Aber man sollte ein Gesetz geben, welches noch weit strenger solche Personen bestrafte, die, Unerfahrene verleitend sie verführen, und vielleicht einem ganzen Leben dadurch Todtenopfer bringen!


37 Man hat noch nie gesehn, daß Herrschsucht und übertriebner Egoismus zu gutem Ziel gekommen wären. Des Volkes Sinn bleibt immer vorherrschend und gebietend!


38 Auf diese Art Menschen muß ganz besonders die Staatspolizei genau wachen, weil sie bei Staatsumwälzungen die gefährlichsten sind. Sie können dabei nur gewinnen, setzen ein elendes Leben an ein gewagtes Spiel; die französische Revolution mit ihrem ganzen Fortgange liefert davon die bedeutendsten Beispiele.


39 Scherzhaft hat man über das Aufbrausen gesagt: »einen Schluck Wasser zu nehmen« oder »Zwölf zu zählen« störe das Aufbrausen; allein was hilfst in dem Moment des Aufbrausens jedes vorgeschlagene Gegenmittel? – Gemäßigte Erziehung und kluge Berechnung sind und bleiben die besten Gegenmittel.


40 Zornmüthige sind selten mit sich selbst einig. Gewöhnlich kann man den Character erkennen an den finster zusammengezogenen Augenbraunen, obschon diese finstern Augenbraunen auch ein Zeichen bedeutender Deutung sein sollen! –


41 Die psychologische Entwicklung über die Wahrheit der Sache selbst würde hier zu weitläufig fallen, aber der Gegenstand selbst ist äußerst anziehend.


42 Sollte man in den neuesten Zeiten Napoleon nicht auch dahin rechnen können? Verlor er nicht die Ausdauer, den Probierstein der Feldherrngröße? –


43 Ein Menschenleben?! Die Manier, wie sie nun einmal ist, auszuführen, dazu gehören Menschenalter! Es ist hier von einem Streit der Originalität mit der prosaischen Beschauung die Rede, und letztere wird ohnfehlbar, wie jede Beschauung, die Oberhand gewinnen!


44 Diese unendliche Verschiedenheit der Menschen in allen Functionen ist der sicherste Beweis dafür, daß die Natur diese Gattung hervorziehn und zu der prädominierenden in dem Erdkreise machen wollte.
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Quelle:
Nicolai, Carl: Über Selbstkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit den Menschen. Quedlinburg, Leipzig 21818, S. 265-294.
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