Einunddreißigstes Abenteuer.

[280] Wie die Herren zur Kirche gingen.


»Mir wird so kühl der Harnisch,« / sprach da Volker:

»Die Nacht, wähn ich, wolle / nun nicht währen mehr.

Ich fühl es an den Lüften, / es ist nicht weit vom Tag.«

Da weckten sie gar manchen, / der im Schlafe noch lag.


Da schien der lichte Morgen / den Gästen in den Saal.

Hagen begann zu fragen / die Recken allzumal,

Ob sie zum Münster wollten / in die Messe heut.

Nach christlichen Sitten / erscholl der Glocken Geläut.


Der Gesang war ungleich: / kein Wunder mocht es sein,

Daß Christen mit Heiden / nicht stimmten überein.

Da wollten zu der Kirche / die in Gunthers Lehn:

Man sah sie von den Betten / allzumal da erstehn.[280]


Da schnürten sich die Recken / in also gut Gewand,

Daß nie Helden wieder / in eines Königs Land

Bessre Kleider brachten. / Hagen war es leid:

Er sprach: »Ihr tätet besser, / ihr trügt hier anderlei Kleid.


Nun ist euch doch allen / die Märe wohl bekannt;

Drum statt der Rosenkränze / nehmt Waffen in die Hand,

Statt wohlgesteinter Hüte / die lichten Helme gut,

Da wir so wohl erkennen / der argen Kriemhilde Mut.


Wir müssen heute streiten, / das will ich euch sagen.

Statt seidner Hemden sollt ihr / Halsbergen tragen

Und statt der reichen Mäntel / gute Schilde breit:

Zürnt mit euch jemand, / daß ihr wehrhaftig seid.


Meine lieben Herren, / Freund und Mannen mein,

Tretet in die Kirche / mit lauterm Herzen ein

Und klagt Gott dem reichen / eure Sorg und Not;

Denn wißt unbezweifelt, / es naht uns allen der Tod.


Ihr sollt auch nicht vergessen, / was je von euch geschah,

Und steht vor eurem Gotte / andächtig da.

Laßt euch alle warnen, / gute Recken hehr:

Es wend es Gott im Himmel, / so hört ihr keine Messe mehr.«


So gingen zu dem Münster / die Fürsten und ihr Lehn.

Auf dem heiligen Friedhof, / da hieß sie stille stehn

Hagen der kühne, / damit man sie nicht schied.

Er sprach: »Noch weiß ja niemand, / was von den Heunen geschieht.


Setzt, meine Freunde, / die Schilde vor den Fuß

Und lohnt es, beut euch jemand / feindlichen Gruß,

Mit tiefen Todeswunden: / daß ist, was Hagen rät.

So werdet ihr befunden, / wie's euch am löblichsten steht.«[281]


Volker und Hagen, / die beiden stellten da

Sich vor das weite Münster, / was darum geschah:

Sie wolltens dazu bringen, / daß sich die Königin

Mit ihnen drängen müsse; / wohl war gar grimmig ihr Sinn.


Da kam der Wirt des Landes / und auch sein schönes Weib;

Mit reichem Gewande / war ihr geziert der Leib,

Und manchem schnellen Degen, / der im Geleit ihr war.

Da flog der Staub zur Höhe / vor der Königin Schar.


Als der reiche König / so gewaffnet sah

Die Fürsten und ihr Ingesind, / wie bald sprach er da:

»Was seh ich meine Freunde / unter Helmen gehn?

Leid wär mir meiner Treue, / wär ihnen Leid hier geschehn.


Das wollt ich ihnen büßen, / wie sie es deuchte gut.

Wenn ihnen wer beschwerte / das Herz und den Mut,

So laß ich sie wohl schauen, / es sei mir wahrlich leid:

Was sie gebieten mögen, / dazu bin ich gern bereit.«


Zur Antwort gab ihm Hagen: / »Uns ist kein Leid geschehn.

Es ist der Herren Sitte, / daß sie gewaffnet gehn

Bei allen Gastgeboten / zu dreien vollen Tagen.

Was uns hier geschähe, / wir würden es Etzeln klagen.«


Wohl vernahm die Königin / Hagens Rede da.

Wie feindlich sie dem Degen / unter die Augen sah!

Sie wollte doch nicht melden / den Brauch in ihrem Land,

Wie lang bei den Burgunden / sie den auch hatte gekannt.


Wie grimm und stark die Königin / ihnen abhold wäre,

Hätte jemand Etzeln / gesagt die rechte Märe,

Er hätt' es wohl gewendet, / was nun doch geschah:

In ihrem hohen Übermut / verschwiegen sie es alle da.[282]


Da schritt mit vielem Volke / Kriemhild zur Kirchentür;

Doch wollten diese beiden / weichen nicht von ihr

Zweier Hände Breite: / das war den Heunen leid.

Da mußten sie sich drängen / mit den Helden allbereit.


Etzels Kämmerlinge, / die dauchte das nicht gut:

Wohl hätten sie den Recken / gern erzürnt den Mut,

Wenn sie es wagen dürften / vor dem König hehr.

Da gab es groß Gedränge / und doch nichts anderes mehr.


Als nach dem Gottesdienste / man auf den Heimweg sann,

Da kam hoch zu Rosse / mancher Heunenmann;

Auch war bei Kriemhilden / manche schöne Maid.

Wohl siebentausend zählte / der Königin Heergeleit.


Kriemhild mit ihren Frauen / in den Fenstern saß

Bei Etzeln dem reichen; / gerne sah er das.

Sie wollten reiten sehen / die Helden auserkannt:

Hei! was man fremder Recken / vor ihnen auf dem Hofe fand!


Nun war auch mit den Rossen / der Marschall gekommen.

Der kühne Dankwart hatte / mit sich genommen

Der Herren Ingesinde / von Burgundenland.

Die Rosse wohlgesattelt / man den kühnen Niblungen fand.


Als zu den Rossen kamen / die Fürsten und ihr Heer,

Da begann zu raten / der kühne Volker,

Sie sollten buhurdieren / nach ihres Landes Sitten.

Da wurde von den Helden / bald gar herrlich geritten.


Was der Held geraten, / niemanden wohl verdroß:

Der Buhurd und der Waffenklang / wurden beide groß.

Zu dem weiten Hofe / kam da mancher Mann;

Etzel mit Kriemhild / es selbst zu schauen begann.[283]


Auf den Buhurd kamen / sechshundert Degen,

Dietrichens Recken, / den Gästen entgegen.

Mit den Burgunden wollten / sie sich im Spiel ergehn;

Wollt es ihr Herr vergönnen, / so wär es gerne geschehn.


Hei, was gute Recken / ritten da heran!

Dietrich dem Helden / ward es kund getan:

Mit Gunthers Ingesinde / das Spiel er verbot;

Er schonte seiner Leute: / das tat ihm sicherlich not.


Als Dietrichs Gefolge / so vermied den Streit,

Da kam von Bechlaren / Rüdigers Geleit,

Fünfhundert unter Schilden / vor den Saal geritten.

Leid wars dem Markgrafen, / er hätt es gern nicht gelitten.


Er kam zu ihnen eilends / gedrungen durch die Schar

Und sagte seinen Mannen, / sie würden selbst gewahr,

Daß im Unmut wären, / die Gunthern untertan:

Wenn sie das Kampfspiel ließen, / so wär ihm Liebes getan.


Als von ihnen schieden / die Helden allbereit,

Da kamen die von Thüringen, / hörten wir Bescheid,

Und vom Dänenlande / der Kühnen tausend Mann.

Von Stichen sah man fliegen / viel der Splitter hochhinan.


Infried und Hawart / ritten zum Buhurd hin;

Ihrer harrten die vom Rheine / mit hochfärtgem Sinn.

Sie tjosteten mit denen / vom Thüringerland:

Durchbohrt von Stichen wurde / mancher schöne Schildesrand.


Da kam der Degen Blödel, / dreitausend in der Schar.

Etzel und Kriemhild / nahmen sein wohl wahr,

Da vor ihnen beiden / das Waffenspiel geschah.

Die Königin es gerne / aus Haß der Burgunden sah.[284]


Sie gedacht in ihrem Sinne, / schier wärs auch so geschehn:

»Und täten sie wem Leides, / so dürft ich mich versehn,

Daß es zum Ernste käme: / an den Feinden mein

Würd ich dann gerochen; / des wollt ich ohne Sorge sein.«


Schrutan und Gibeke / ritten zum Buhurd auch,

Hornbog und Ramung, / nach heunischem Brauch.

Sie hielten vor den Helden / aus Burgundenland:

Die Schäfte flogen wirbelnd / über des Königssaales Wand.


Wie sie da alle ritten, / das war doch eitel Schall,

Von Stößen auf die Schilde / das Haus und den Saal

Hörte man ertosen / durch manchen Gunthersmann.

Das Lob sich sein Gesinde / mit großen Ehren gewann.


Da ward ihre Kurzweil / so stark und so groß,

Daß den Satteldecken / der blanke Schweiß entfloß

Von den guten Rossen, / so die Helden ritten.

Sie versuchten an den Heunen / sich mit hochfärtgen Sitten.


Da sprach der kühne Volker, / der edle Spielmann:

»Zu feig sind diese Degen, / sie greifen uns nicht an.

Ich hörte immer sagen, / daß sie uns abhold sein;

Nun könnte die Gelegenheit / ihnen doch nicht günstger sein.«


»Zu den Ställen wieder,« / sprach der König hehr,

»Ziehe man die Rosse; / wir reiten wohl noch mehr

In den Abendstunden, / wenn die Zeit erschien.

Ob dann den Burgunden / den Preis wohl gibt die Königin?«


Da sahn sie einen reiten / so stattlich daher,

Es tats von allen Heunen / kein anderer mehr.

Er hat in den Fenstern / wohl ein Liebchen traut.

Er ritt so wohlgekleidet / als eines werten Ritters Braut.[285]


Da sprach wieder Volker: / »Wie blieb es ungetan?

Jener Weiberliebling / muß einen Stoß empfahn.

Das mag hier niemand wenden, / es geht ihm an den Leib:

Was frag ich, ob drum zürne / dem König Etzel sein Weib?«


»Nicht doch,« sprach der König, / »wenn ichs erbitten kann:

Es schelten uns die Leute, / greifen wir sie an:

Die Heunen laßt beginnen; / es kommt wohl bald dahin.«

Noch saß König Etzel / am Fenster bei der Königin.


»Ich will das Kampfspiel mehren,« / sprach Hagen jedoch:

»Laßt diese Frauen / und die Degen noch

Sehn, wie wir reiten können: / das ist wohlgetan;

Man läßt des Lobs doch wenig / die Recken Gunthers empfahn.«


Volker der schnelle / ritt wieder in den Streit.

Das schuf da viel der Frauen / großes Herzeleid.

Er stach dem reichen Heunen / den Speer durch den Leib:

Das sah man noch beweinen / manche Maid und manches Weib.


Alsbald rückt' auch Hagen / mit seinen Helden an:

Mit sechzig seiner Degen / zu reiten er begann

Dahin, wo von dem Fiedler / das Spiel war geschehn.

Etzel und Kriemhild / konnten alles deutlich sehn.


Da wollten auch die Könige / den kühnen Fiedler gut

Unter den Feinden / nicht lassen ohne Hut.

Da ward von tausend Helden / mit großer Kunst geritten.

Sie taten, was sie lüstete, / mit gar hochfärtgen Sitten.


Als der reiche Heune / zu Tode war geschlagen,

Man hörte seiner Freunde / Wehruf und Klagen.

Als das Gesinde fragte: / »Wer hat das getan?«

»Das hat getan der Fiedler, / Volker, der kühne Spielmann.«[286]


Nach Schwerten und Schilden / riefen gleich zur Hand

Des Markgrafen Freunde / von der Heunen Land;

Zu Tode schlagen wollten / sie den Fiedelmann.

Der Wirt von seinem Fenster / daher zu eilen begann.


Da hob sich von den Heunen / allenthalben Schall.

Abstiegen mit dem Volke / die Könge vor dem Saal;

Zurück die Rosse stießen, / die Gunthern untertan.

Da kam der König Etzel / den Streit zu schlichten heran.


Einem Vetter dieses Heunen, / den er da bei ihm fand,

Eine scharfe Waffe / brach er ihm aus der Hand

Und schlug sie all zurücke: / er war in großem Zorn.

»Wie hätt' ich meine Dienste / an diesen Helden verlorn!


Wenn ihr mir erschlüget / diesen Fiedelmann,«

Sprach der König Etzel, / »das wäre mißgetan.

Als er erstach den Heunen, / sein Reiten wohl ich sah,

Daß es wider seinen Willen / nur durch Straucheln geschah.


Ihr sollt meine Gäste / mit Frieden lassen ziehn.«

So ward er ihr Geleite. / Die Rosse zog man hin

Zu den Herbergen. / Sie hatten manchen Knecht,

Der ihnen war zu Diensten / mit allem Fleiße gerecht.


Der Wirt mit seinen Freunden / ging zum Saal zurück;

Da regte sich kein Zürnen / mehr vor seinem Blick.

Man richtete die Tische, / das Wasser man auch trug.

Da hatten die vom Rheine / der starken Feinde genug.


Unlieb war es Etzeln, / doch folgte manche Schar

Den Fürsten, die mit Waffen / wohl versehen war,

Im Unmut auf die Gäste, / als man zu Tische ging,

Den Freund bedacht zu rächen, / wenn es günstge Zeit verhing.[287]


»Daß ihr in Waffen lieber / zu Tische geht als bloß,«

Sprach der Wirt des Landes, / »die Unart ist zu groß;

Wer aber an den Gästen / den kleinsten Frevel wagt,

Der büßt es mit dem Haupte, / daß sei euch Heunen gesagt.«


Bevor da niedersaßen / die Herrn, das währte lang,

Weil zu sehr mit Sorgen / jetzt Frau Kriemhild rang.

Sie sprach: »Fürst von Berne, / heute muß ich flehn

Zu dir um Rat und Hilfe: / meine Sachen ängstlich stehn.«


Zur Antwort gab ihr Hildebrand, / ein Recke tugendlich:

»Wer schlägt die Nibelungen, / der tut es ohne mich,

Wieviel man Schätze böte: / es wird ihm wahrlich leid.

Sie sind noch unbezwungen, / die schnellen Ritter allbereit.« –


»Es geht mir nur um Hagen, / der hat mir Leid getan,

Der Siegfrieden mordete, / meinen lieben Mann.

Wer den von ihnen schiede, / dem wär mein Gold bereit;

Entgält es anders jemand, / das wär mir inniglich leid.«


Da sprach wieder Hildebrand: / »Wie möchte das geschehn,

Den ihnen zu erschlagen? / Ihr solltet selber sehn:

Bestünde man den Degen, / leicht gäb es eine Not,

Daß Arme so wie Reiche / dabei erlägen im Tod.«


Da sprach dazu Herr Dietrich / mit zuchtreichem Sinn:

»Die Rede laßt bleiben, / reiche Königin:

Mir ist von euern Freunden / kein solches Leid geschehn,

Daß ich sollt im Streite / die kühnen Degen bestehn.


Die Bitte ehrt euch wenig, / edel Königsweib,

Daß ihr den Freunden ratet / an Leben und an Leib.

Sie kamen euch auf Gnade / hierher in dieses Land:

Siegfried bleibt ungerochen / wohl von Dietrichens Hand.«[288]


Als sie keine Untreu / bei dem Berner fand,

Alsobald gelobte sie / Blödeln in die Hand

Eine weite Landschaft, / die Nudung einst besaß;

Hernach erschlug ihn Dankwart, / daß er der Gabe gar vergaß.


Sie sprach: »Du sollst mir helfen, / Bruder Blödelein.

Hier in diesem Hause / sind die Feinde mein,

Die Siegfrieden schlugen, / meinen lieben Mann:

Wer mir das rächen hülfe, / dem wär ich immer untertan.«


Zur Antwort gab ihr Blödel: / »Herrin, wisset das,

Ich darf euern Freunden / nicht zeigen solchen Haß,

Weil sie mein Bruder Etzel / so gerne leiden mag:

Wenn ich sie bestünde, / der König säh es mir nicht nach.«


»Nicht also, Herr Blödel, / ich bin dir immer hold:

Ich gebe dir zum Lohne / mein Silber und mein Gold

Und eine schöne Witwe, / Nudungens Weib:

So magst du immer kosen / ihren minniglichen Leib.


Das Land zu den Burgen, / alles geb ich dir,

So lebst du, teurer Ritter, / in Freuden stets mit ihr,

Wenn du die Mark gewinnest, / die Nudung einst besaß.

Was ich dir hier gelobe, / mit Treuen leist ich dir das.«


Als Blödel bieten hörte / des Lohnes also viel,

Und ihrer Schöne willen / die Frau ihm wohlgefiel,

Im Kampf verdienen wollt er / das minnigliche Weib.

Da mußte dieser Recke / verlieren Leben und Leib.


Er sprach zu der Königin: / »Geht wieder in den Saal.

Eh man es inne werde, / erheb ich großen Schall.

Hagen muß es büßen, / was er euch hat getan:

Ich bring euch gebunden / König Gunthers Untertan.«[289]


»Nun waffnet euch,« sprach Blödel, / »ihr all in meinem Lehn.

Wir wollen zu den Feinden / in die Herberge gehn.

Mir will es nicht erlassen / König Etzels Weib:

Wir Helden müssen alle / verwagen Leben und Leib.«


Als den Degen Blödel / entließ die Königin,

Daß er den Streit begänne, / zu Tische ging sie hin

Mit Etzeln dem Könige / und manchem Untertan.

Sie hatte schlimme Räte / wider die Gäste getan.


Wie sie zu Tische gingen, / das will ich euch sagen:

Man sah reiche Könige / die Krone vor ihr tragen:

Manchen hohen Fürsten / und viel der werten Degen

Sah man großer Demut / vor der Königin pflegen.


Der König wies den Gästen / die Sitze überall,

Den Höchsten und den Besten / neben sich im Saal.

Den Christen und den Heiden / die Kost er unterschied;

Man gab die Fülle beiden, / wie es der weise König riet.


In der Herberge / aß ihr Ingesind:

Von Truchsessen ward es / da allein bedient;

Die hatten es zu speisen / großen Fleiß gepflogen.

Die Bewirtung und die Freude / ward bald mit Jammer aufgewogen.


Da nicht anders konnte / erhoben sein der Streit,

Kriemhilden lag im Herzen / begraben altes Leid,

Da ließ sie zu den Tischen / tragen Etzels Sohn:

Wie konnt ein Weib aus Rache / wohl entsetzlicher tun?


Da kamen vier gegangen / aus Etzels Ingesind

Und brachten Ortlieben, / das junge Königskind,

Den Fürsten an die Tafel, / wo auch Hagen saß.

Das Kind mußt ersterben / durch seinen mordlichen Haß.[290]


Als der reiche König / seinen Sohn ersah,

Zu seiner Frauen Brüdern / gütlich sprach er da:

»Nun schaut, meine Freunde, / das ist mein einzig Kind

Und das eurer Schwester, / von dem ihr Frommen einst gewinnt.


Gerät es nach dem Stamme, / es wird ein starker Mann,

Reich dazu und edel, / kühn und wohlgetan.

Erleb ich es, ich geb ihm / zwölf reicher Könge Land:

So tut euch wohl noch Dienste / des jungen Ortliebens Hand.


Darum bät ich gerne / euch lieben Freunde mein,

Wenn ihr heimwärts reitet / wieder an den Rhein,

Daß ihr dann mit euch nehmet / euer Schwester Kind;

Und seid auch dem Knaben / immer gnädig gesinnt.


Erzieht ihn nach Ehren, / bis er gerät zum Mann:

Hat euch in den Landen / jemand ein Leid getan,

So hilft er es euch rächen, / erwuchs ihm erst der Leib.«

Die Rede hörte Kriemhild / mit an, König Etzels Weib.


»Ihm sollten wohl vertrauen / alle diese Degen,

Wenn er zum Mann erwüchse,« / sprach Hagen entgegen;

»Doch ist der junge König / so schwächlich anzusehn:

Man soll mich selten schauen / nach Hof zu Ortlieben gehn.«


Der König blickt' auf Hagen; / die Rede war ihm leid.

Wenn er auch nichts erwiderte, / der König allbereit,

Es betrübt' ihn in der Seele / und beschwert' ihm den Mut.

Da waren Hagens Sinne / zu keiner Kurzweile gut.


Es schmerzte wie den König / sein fürstlich Ingesind,

Was Hagen da gesprochen / hatte von dem Kind.

Daß sies vertragen sollten, / ging ihnen allen nah.

Noch konnten sie nicht wissen, / was von dem Recken bald geschah.[291]


Gar manche, die es hörten / und ihm trugen Groll,

Hätten ihn gern bestanden; / der König selber wohl,

Wenn er mit Ehren dürfte: / so käm der Held in Not.

Bald tat ihm Hagen Ärgeres, / er schlug ihn ihm vor Augen tot.

Quelle:
Das Nibelungenlied. Stuttgart 1954, S. 280-292.
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