|
[77] 1. Der mond der scheint so helle,
zu liebes fensterlein ein,
Wo nu zwey liebe bey einander sein,
die scheiden sich bald von hier.
2. Der wechter an der zinnen stund,
hub an ein lied und sang,
Du solt zu meinem herren kommen,
und machen jm die weile nit lang.
3. Zu deinem herren komme ich nicht,
er ist mir ja nicht hold,
Ich habe zu lang geschlaffen,
bey seiner jungen frawen stolz.
4. Hastu so lange geschlaffen,
bey seiner jungen frawen stolz,[77]
So soltu morgen hangen?
ein galgen ist dir bereit.
5. Warumb sol ich morgen hangen?
ich bin doch ja kein dieb,
Das hertz in meinem leibe,
das hat die frewlein lieb.
6. Und da der hübsche schreiber,
zu der hohen thür ausreit,
Da begegnet jm ein zimmerman,
ein galge war jm bereit.
7. Wie stehestu hie ein galgen,
ein schwarzer rabenzweig,
Ach sol darinnen verzehren,
mein feiner junger leib.
8. Und da der hübsche schreiber,
die erste sprossen auftrat,
Er sprach jhr sieben landes herren,
gebet mir eines wortes macht.
9. Ob dar ein frewlein keme,
wol für euer betlein stahn,
Wolt jr sie hertzen und küssen,
oder wolt jhr sie lassen gahn?
10. Zu hand sprach sich ein alt greise,
ein alter greis grawer man,
Ich wolt sie hertzen und küssen,
und schliessen in meine weisse arm.
11. Und als der hübsche schreiber,
die letzte sprosse aufftrat,
Da stund des jungen marggraffen weib,
und sehr für den schreiber bat.
12. Nun steig herab mein schreiber,
und friste deinen jungen leib,
Für dich so hat gebeten
des jungen marggraffen weib.[78]
13. Und hat für mich gebethen
des jungen marggraffen sein weib,
So sterke sie got von himmel,
und friste jren jungen leib.
Buchempfehlung
Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.
230 Seiten, 9.60 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro