Mimerung unter deutschen Eichen

[254] 1846.


Träumend in Mimerung1 wandelte jüngst im Schatten

Deutschesten Hains ich sturmbewegter Eichen,

Und wie sie rauschten, rauschten mir Gedanken

Wild durch die Seele,


Dunkle Gedanken – Wie der Blitz, auf schwarzen

Wolken sich wälzend, schaurig durch die Luft schießt,

Schoß es mit Blitzesleuchtung mir mit scharfem

Weh durch die Seele.


Hundert und tausend, wie des Blitzes Funken

Fliegen, so flogen Vögel heißer Schwingen

Mir um den Busen, hiehin, dahin flatternd,

Mächtige Wühler.


Wühler, aufreißend tiefsten Grund des Herzens,

Reißend der glücklich dicht verhüllten Zukunft

Dunkles Gewölk auf, wo es wie gespenstisch

Mitternachtspiel spielt.


Mitternachtspiel; denn gleich entbundnen Geistern,

Nicht wie aus Windeln in der Zukunft Wiege,

Nein, wie aus Gräbern, tanzten vor mir grausig

Säkeln den Tanz ab.


»Weh mir der Zeichen!« rief ich, »du gewaltiges

Wehen des Geistes! Schone deiner Blitze!

Schone des Donners! Denn er donnert Schrecken,

Geistesverwirrung.


Weh mir der Zeichen! Weh der Sehnsuchtsfragen

Ahnender Sehnsucht, ob von diesen Eichen

Freie Germanen Siegeskränze flechten?

Enkel noch flechten?


Ob, wann Gefahr, wann Kriegsgetümmel andrängt,

Blut nur der Fremden deutsche Klingen rötet?

Vielheit der Fürsten wie ein Mann dann vorficht?

Einheit in Treue?
[255]

Ob, wann aus Welschland ein Orkan, aus Rußland

Brausend ein zweiter Deutschlands Mitte fasset,

Fern kein Arminius sein wird und kein zweiter

Gneisenau-Blücher?«


Da hat's gelispelt: »Hoffe! Wahrlich, beide

Augen, du könntest sie am Born der Weisheit

Mimern verpfänden, vollen Trunk der Seele

Schlürftest du doch nicht.


Laß drum das Mimern, wolle nicht ergrübeln,

Was von den künftigen Tagen Gott verhüllte:

Tropfen nur schenkt er; wer des vollen Borns will,

Will die Verwirrung.«

Fußnoten

1 Mimern ein treffliches deutsches Wort der innersten Betrachtung; ebenso Rernung (osnabrückisch Rärning, französisch rêver). Solche Bezeichnung des verschiedensten Ahnungsvermögens kann kein Poet und Philosoph entbehren.


Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 254-256.
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