Frühlingstraum

[256] 1846.


Ging ich aus ins Frühlingstal,

Wollte Blüten fangen,

Blumenlust und Sonnenstrahl,

Alt und jung Verlangen.


Altes, wieder grün und kraus,

Webte frische Ranken,

Junges in die Welt hinaus

Schneller als Gedanken.


Aber weh! Der Himmel zog

Dunkel sich zusammen,

Und ein Donnersturmwind flog

Her mit Blitzesflammen:


Wald und Feld und Au und Tal

Ringsumher zerzauset,

Und der Lerch' und Nachtigall

Jeder Ton vergrauset.


Nur vom Stumpf und Dornbusch krächzt

Kräh' mir und Neuntöter,

Und aus Turmgetrümmer ächzt

Kauz, der Schwerenöter.
[256]

Und der ganze Frühlingstraum

Hinnen wie geschwinde!

In den öden, weiten Raum,

Weg in alle Winde!


Lenzesbild, du Lebensbild –

Fliege mit, o Wandrer,

Was dir heut verwelkt, verquillt,

Morgen fängt's ein andrer.

Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 256-257.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte