Des armen Waisen Leben und Tod.

[167] Das Mährchen, wie es Malchen vorgetragen, fand Beifall. Es wurde hierauf Karl aufgefordert, seine Erzählung vorzutragen. Er begann:

Es ist ein großes Unglück für ein Kind, das eine Waise und vater- und mutterlos ist; und welches seine Eltern noch hat, das kann Gott nicht genug dafür danken alle Tag.

Der arme Waise, nachdem seine Eltern gestorben, kam in das Haus eines geizigen Mannes, dem er, mit des Vaters Hab und Gut, von dem Richter zugesprochen ward. Der harte Mann und sein Weib sahen den armen Waisen mit schelen Augen an; und da der Knabe von schwachem Kopf und kleinmüthigem Herzen war, so verbrach und erduldete er gar vieles, und er kriegte wenig Brod, aber desto mehr Schläge.

Erstlich mußte der arme Waise die Henne hüten, zusammt den Küchlein, und er sollte wohl Acht haben, daß keinem ein Leid geschehe. Aber eines Tages verlief sich die Henne mit den Küchlein durch einen Heckenzaun, und in demselben Augenblicke schoß ein Raubvogel aus den Lüften herab, und entführte die Henne von der Brut. Der arme Waise schrie ihm freilich nach: Du Hennendieb! du Spitzbub! Aber das waren Worte in den Wind geredt, und die Henne war weg. Ueber dem Lärm kam der Bauer;[167] und wie er hörte, was geschehen, schlug er den armen Waisen zu Boden, daß er schier kein Zeichen mehr gab. – Nun hatte der arme Waise die jungen Hühnlein allein zu hüten; und das gab große Mühe und Noth; denn das eine lief dahin und das andere dorthin. Um sie daher zusammen zu halten, und zu verhindern, daß nicht der Raubvogel wieder eines entführe, so band er sie alle zusammen an einer langen Schnur, und hütete sie. Aber einsmals schlief er während des Hütens ein (denn er war sehr hungrig und matt), und indeß kam wieder der Raubvogel, und ergriff eines der kleinen Piphühnchen, und trug sie alle, weil sie an einander hingen, auf einen Baum, wo er sie auffraß. Als der arme Waise aufwachte, o! wie erschrack und erzitterte er, da er kein Hühnlein mehr sah! Indem kehrte der Bauer vom Felde heim, und da er hörte, was vorgegangen, so schlug er den armen Waisen noch ärger, als zuvor, so daß er mehrere Tage das Bett hüten mußte.

Nachdem der arme Waise wieder gesund geworden, so mußte er botenweise gehen. Der Bauer schickte dem Richter ein Körblein voll Trauben, mit einem Briefe, den er dazu legte. Unterwegs hungerte und dürstete den armen Waisen gar zu sehr, und er aß zwei Trauben, und brachte die übrigen[168] dem Richter. Der Richter, als er den Brief gelesen, sagte: daß zwei Trauben fehlten; und der arme Waise bekannte, daß er sie gegessen vor lauter Hunger und Durst. Der Richter forderte durch ein kurzes Schreiben noch einmal so viel Trauben. Da dachte der arme Waise, als er die Trauben überbringen sollte: Ich will dieses Mal den Brief unter einen Stein legen, und darüber sitzen, daß der Brief es nicht siehet, wenn ich wieder von den Trauben esse. Und es hungerte und durstete ihn wieder sehr, und er aß wieder zwei Trauben. Der Richter, sobald er den Brief überlesen, fand wieder weniger Trauben im Körbel, und er stellte den armen Waisen darob zur Rede. Dieser bekannte, daß er zwei Trauben gegessen vor Hunger und Durst; er wundere sich aber, sagte er, wie der Brief dieß habe verrathen können dem Herrn Richter, da er ihn doch unter einen Stein gelegt habe, indem er von den Trauben gegessen. Der Richter lachte ob der Einfalt des armen Waisen; und er empfahl ihn in einem Schreiben dem Bauern, daß er den armen Waisen milder halten, und mit Speis und Trank wohl versorgen, und ihn lehren möge, was recht und unrecht sey.

»Das werd' ich thun,« sagte der harte Mann zornig; »und willst du essen, so mußt du arbeiten,[169] und thust du Unrecht, so schlage ich dich zu Tode.« Und schon an dem folgenden Tage stellte er ihn an eine sehr schwere Arbeit; er sagte, daß er für die Pferde Futter schneiden müsse, und er gab ihm daher etliche Büschel Stroh, und etwas Heu dazu, und drohte ihm mit dem Todtschlagen, wenn er nicht alles in fünf Stunden aufschneiden werde. Der Bauer ging unterdessen sammt der Bäurin, dem Knecht und der Magd auf einen Jahrmarkt, und hinterließ dem armen Waisen nicht mehr zur Speise, als ein Stücklein Brod. Der arme Waise that sein Möglichstes, um ja zur Zeit fertig zu werden; er arbeitete, daß er keuchte und schwitzte; und um behender seyn zu können, zog er sein Leiblein aus, und warf's in den Strohstuhl; und er schnitt, und schnitt, und, ach! zerschnitt unvermerkt das Leiblein mit dem Stroh. Der arme Waise bemerkte das zu spät; er ließ vor Angst das Eisen fallen, und klagte: »O Jammer! jetzt ist's aus mit mir! Nun werde ich todt geschlagen! Ach, sagte er, wenn ich doch sterben muß, so will ich mir lieber selbst das Leben nehmen, als daß ich von dem harten Manne Schläge erleiden soll bis zum Tode.«

Nun hatte er oft von der Bäurin gehört: daß sie Gift habe in dem Hafen unter der Bettstätte. Es war aber Honig darin. Der arme Waise langte[170] nach dem Hafen, und ließ sich das süße Gift wohl schmecken. Er seufzte etliche Mal: »O wie ist der Tod so süß! Kein Wunder, daß sich die Bäurin so oft den Tod wünschet! Ach, daß ich nur schon todt wäre!« Der Hafen wurde geleeret, und sein Leben ward gestärket. Da sprach er zu sich selber: »Ei, ich mag mich geirrt haben; es ist noch ein Gift im Hause, das Mückengift, welches der Bauer auf seinem Kleiderkasten gestellt hat.« Dieß war aber ein Branntwein oder Kirschenwasser. Der arme Waise trank das Fläschlein aus, und wurde davon so rauschig, daß er seiner selbst nicht mehr mächtig war. »Ach, sagte er, nun fühle ich, daß ich sterben muß. Der Tod ist schon im Kopfe. Ich will nur gleich hinaus auf den Freithof, und selber ins Grab gehen, damit der karge Mann die Kosten erspare.« Er ging dahin, und taumelte schon; und er legte sich bei der unschuldigen Kinder Gräbniß auf die Erde. Es däuchte ihm, als höre er Musik, und glaubte, es wäre hier das Paradies. Es war auch Musik, bei einer Hochzeit im nächsten Wirthshause. Also entschlief der arme Waise auf dem Gräbniß der unschuldigen Kinder, und starb auch in der folgenden Nacht.

Am andern Morgen wurde der arme Waise entseelt gefunden. Ob der Nachricht hatte der karge[171] Bauer so großen Schrecken, daß es ihm übel wurde; denn er fürchtete, das Gericht werde ihn des Todtschlags zeihen und ihn streng bestrafen. Er fiel zur Erde, und in Ohnmacht; und indem ihm sein Weib zu Hülfe eilte und ihm beistand, schlug das Feuer in die Pfanne, in welcher Schmalz war; das Haus gerieth in Brand, und nach wenig Stunden lag es in der Asche. Sie beide retteten kaum ihr Leben. Also wurde von Gott das große Unrecht bestraft, welches die bösen Leute an dem armen Waisen verübt hatten.


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Karls Erzählung, so einfältig sie lautete, erregte doch durch die seltsame Mischung von Heiterkeit und Wehmuth, die sich darin aussprach, die Theilnahme der Zuhörer. Der Knabe bemerkte bescheiden: »Er habe die Geschichte in einem alten Buche gelesen, das ihm der Großvater zugestellt; und er habe sie nur auf seine Weise ausgestattet und vorgetragen.« – »Buch? (unterbrach die Mutter); wie ist der Großvater zu dem Buch gekommen?« fragte sie, sich an diesen wendend. Der Großvater lächelte, und sagte: »In jenem bewußten Winkel, den der Vater ausgekundschaftet, lag eben noch eine andere, in Schweinsleder gebundene[172] Schartecke, eine überaus köstliche, – Ostermährlein enthaltend. Diese habe nun ich mir zugeeignet, und manche Stunde darin geblättert, welche die Frauen beiläufig auf ihren Putz verwendet.« – Man scherzte noch eine Weile; dann wurde Minchen eingeladen, ihre Erzählung vorzutragen. »Ach, sagte sie, mein Mährchen ist ganz kurz.« »Wenn es nur gut ist,« sagte der Vater. »Die Großmutter hat mir's erzählt,« bekannte die Kleine, »und ich geb's so, wie ich's gehört habe.« Sie erzählte:


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Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Büchlein für die Jugend. Stuttgart/Tübingen/München 1834, S. 167-173.
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