Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe

[329] 1.

Meister, ohne dein Erbarmen

Muß im Abgrund ich verzagen,

Willst du nicht mit starken Armen

Wieder mich zum Lichte tragen.


2.

Jährlich greifet deine Güte,

In die Erde, in die Herzen,[329]

Jährlich weckest du die Blüte,

Weckst in mir die alten Schmerzen.


3.

Einmal nur zum Licht geboren,

Aber tausendmal gestorben,

Bin ich ohne dich verloren,

Ohne dich in mir verdorben.


4.

Wenn sich so die Erde reget,

Wenn die Luft so sonnig wehet,

Dann wird auch die Flut beweget,

Die in Todesbanden stehet.


5.

Und in meinem Herzen schauert

Ein betrübter bittrer Bronnen,

Wenn der Frühling draußen lauert,

Kömmt die Angstflut angeronnen.


6.

Weh! durch gift'ge Erdenlagen,

Wie die Zeit sie angeschwemmet,

Habe ich den Schacht geschlagen,

Und er ist nur schwach verdämmet.


7.

Wenn nun rings die Quellen schwellen,

Wenn der Grund gebärend ringet,

Brechen her die gift'gen Wellen,

Die kein Fluch, kein Witz mir zwinget.


8.

Andern ruf' ich, schwimme, schwimme,

Mir kann solcher Ruf nicht taugen,

Denn in mir ja steigt die grimme

Sündflut, bricht aus meinen Augen.[330]


9.

Und dann scheinen bös Gezüchte

Mir die bunten Lämmer alle,

Die ich grüßte, süße Früchte,

Die mir reiften, bittre Galle.


10.

Herr, erbarme du dich meiner,

Daß mein Herz neu blühend werde,

Mein erbarmte sich noch keiner

Von den Frühlingen der Erde.


11.

Meister, wenn dir alle Hände

Nahn mit süßerfüllten Schalen,

Kann ich mit der bittern Spende

Meine Schuld dir nimmer zahlen.


12.

Ach, wie ich auch tiefer wühle,

Wie ich schöpfe, wie ich weine,

Nimmer ich den Schwall erspüle

Zum Kristallgrund fest und reine.


13.

Immer stürzen mir die Wände,

Jede Schicht hat mich belogen,

Und die arbeitblut'gen Hände

Brennen in den bittern Wogen.


14.

Weh! der Raum wird immer enger,

Wilder, wüster stets die Wogen,

Herr, o Herr! ich treib's nicht länger,

Schlage deinen Regenbogen.


15.

Herr, ich mahne dich, verschone,

Herr! ich hört' in jungen Tagen,[331]

Wunderbare Rettung wohne

Ach, in deinem Blute, sagen.


16.

Und so muß ich zu dir schreien,

Schreien aus der bittern Tiefe,

Könntest du auch nicht verzeihen,

Daß dein Knecht so kühnlich riefe!


17.

Daß des Lichtes Quelle wieder

Rein und heilig in mir flute,

Träufle einen Tropfen nieder,

Jesus, mir, von deinem Blute!


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 329-332.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Märchen / Ausgewählte Gedichte (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Geistliche Oden und Lieder

Geistliche Oden und Lieder

Diese »Oden für das Herz« mögen erbaulich auf den Leser wirken und den »Geschmack an der Religion mehren« und die »Herzen in fromme Empfindung« versetzen, wünscht sich der Autor. Gellerts lyrisches Hauptwerk war 1757 ein beachtlicher Publikumserfolg.

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon