[115] Ein Christ verspüret großen Drang,
Das heil'ge Grab zu sehn;
Drum will Antonius schon lang
Dahin wallfahrten gehn.
Es schickt sich, daß ein frommer Mann
Die Sache überlegt;
Er schafft sich einen Esel an,
Der ihm den Ranzen trägt.
So zogen sie hinaus zum Tor
Und fürder allgemach;
Der Heilige, der ging hervor,
Der Esel hinten nach.[115]
Da kam aus seinem Hinterhalt
Ein Bär in schnellem Lauf;
Er greift den Esel alsobald
Und zehrt ihn mählich auf.
Antonius, als ein guter Christ,
Schaut's an mit Seelenruh':
»He, Alter! Wenn du fertig bist, –
Wohlan! – so trage du!«[116]
Der heilige Antonius macht
Sich bald das Ding bequem;
Er setzt sich auf und reitet sacht
Bis nach Jerusalem.
Wo Salomonis Tempel stand,
Liegt mancher dicke Stein;
Den allerdicksten, den er fand,
Packt St. Antonius ein.[117]
Er sprach: »Den Stein, den nehm' ich mit!«
Der Bär, der macht: Brumm brumm!
Das hilft ihm aber alles nit,
Wir kümmern uns nicht drum.[118]
Der Bär, obschon ganz krumm und matt,
Setzt sich in kurzen Trab
Bis hin nach Padua der Stadt;
Da stieg Antonius ab.
[119]
Und milde sprach der heil'ge Mann:
»Mein Freund, du kannst nun gehn!
Und wie es einem gehen kann,
Das hast du nun gesehn!«
Der Bär, als er zum Walde schlich,
Der brummte vor sich her:
»Mein lebelang bekümmr' ich mich
Um keinen Esel mehr!«
[120]
Ausgewählte Ausgaben von
Der heilige Antonius von Padua.
|
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro