Sylvia rubecula

[499] Nun ist Vollwinters Herrschezeit!

Das Licht ist schmal, die Nacht ist breit,

Frau Sonne will kaum blicken:

Bricht mittags sie durchs Wolkenkleid, –

Herr Nieselnebel hält bereit

Den Mantel, sie zu sticken.


Da singt kein Vöglein mehr im Feld:

Zaunkönig nur, der wen'ge Held,

Schwirrt fröhlich seine Weise,

Goldhähnchen huscht durchs Flockenzelt

Und, wem das letzte Nüßlein fällt,

Zankt klopfend Specht und Meise.


Auch ich halt' stumm im Hause Ruh'

Und stöbre tief in staub'ger Truh

Durch Schrift und Pergamente:

Rot glimmt der Sandelspan dazu: –

Ei, duftend Holz, nicht ahntest du,

Daß man am Main dich brennte. –


Das war im Goldhaus zu Byzanz,

Bei Myrrhenrauch, in Marmorglanz,

Bei schmucken Griechenknaben,[499]

Daß unter Zyproswein und Tanz

Sie dich mit manchem Ring und Kranz

Zum Gastgeschenk mir gaben.


Da ging, mit rotem Seidenlatz

Verhüllt den keuschen Herzensplatz,

Ein Griechenkind mit Neigen:

Hell Scharlach war ihr Busenlatz: –

Sie war ein anmutvoller Schatz

Im Reden und im Schweigen.


Im harten, deutschen Winter lind

Mahnt mich an jenes Griechenkind

Ein Neigen, Hüpfen, Klingen:

Denn um mich huscht und schwebt geschwind

Ein Vöglein, wie nicht viele sind, –

Will auch im Winter singen.


Die Griechin, die hieß Sylvia:

Was wohl noch mit dem Kind geschah? –

Rein war ihr zartes Seelchen: –

Mir ruft ihr lieblich Bildnis nah

Hier Sylvia rubecula,

Mein Hausgeist, mein Rotkehlchen. –


Der Rauch zieht aus dem Sandel schwer:

Bald seh' ich Vöglein um mich her,

Bald Griechenmägdlein schweben.

Ich denk', ich schlafe: – doch vorher

Trink' ich den tiefen Becher leer –:

Was lieblich ist, soll leben!

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 499-500.
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