Frühlingsgebet

[53] Frühling, Wonnegebieter,

sonnestarker, lauterster Gott der Erde,

willst du endlich erscheinen,

mir auch erscheinen?

Nach soviel Stürmen,

soviel quälender Wetterwut,

nach manchem falschen Sonnentage

voll kalten, stechenden Glanzes:

willst du endlich geboren werden,

mein Heiland? –


Ja! mir künden heilige Schauer:

du auferstehest,

den ich dunkel geahnt

in den Dämmertagen der Kindheit

und den ich verloren, vergessen

im selbst sich vergötternden Jünglingsrausch ...
[53]

Oh, senke die Strahlen

Deines milden Himmelsauges

sänftigend, verklärend mir

in die sehnsucht offne Seele

O durchfülle mich ganz mit Deinem Odem,

Frühling, äther entsprossener,

Segen atmender, reiner Sonnensohn!

Erfülle mich mit deiner Werdelust,

nicht der gärend schäumenden,

der ziellos wilden, taumelnden Lust

stürmenden Knabenübermutes:

mit Deiner ruhig quellenden,

still knospenden,

sicher schaffenden Freudigkeit

erfülle mich, du Glückbeseelter! –


Schon jauchze ich.

Ja! du erhörst mein Gebet!

Du bist in mir, Frühling:

bist, was in mir jubelt –

du erhörtest mich schon

vor meinem Gebet!

Du, Du, Frühling, wurdest

mir in bangender Seele

heimlich ein anderer, neuer Frühling:

mein erster Frühling!


Erster Frühling,

einziger Frühling,

bleibe! weile!

verlaß mich nicht,

flüchten gleich die Tage!

Dann werden machtlos nahen

meinem geweihten Haupt

des Sommers sengende Sorgen[54]

und des Herbstes trüber Mißmut

und des Winters kalte Oede.


Erster Frühling,

einziger Frühling,

mein Frühling –

Du brachtest mir die Erlösung:

bringe mir auch das Himmelreich!

Quelle:
Richard Dehmel: Erlösungen, Stuttgart 1891, S. 53-55.
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