Eine Weihnachtsstunde

[87] Laß, Liebster, die Lampe noch stehen

und rücke mit mir zum Kamin,

und laß in die Flammen uns sehen

und lauschen dem Zauber darin!


Und lege dein Haupt ans Herz mir

und blicke nicht traurig drein,

daß wir am Heiligen Abend

im Dunkeln sitzen! allein!


Horch, wie im Ofen wispert

die Glut ihr heimlich Lied!

schau, wie ein Lichterreigen

über die Diele zieht!


Draus schwillt's wie ein Singen und Weben

von Märchenherrlichkeit,

drin spielt's wie ein Schwingen und Schweben

von Träumen der Kinderzeit:
[87]

als wir noch fromm gebetet

zum lieben Jesuchrist,

der für uns arme Sünder

vom Himmel kommen ist, –


als wir noch nicht verstanden,

warum auf Golgatha

ein brechend Menschenauge

einst mild zur Erde sah.


Und denke der großen Liebe,

die treu bis in den Tod

gerungen und gelitten

für all der Brüder Not!


Und denke des großen Glaubens,

den Er zur Menschheit trug

noch in der letzten Stunde,

da man ans Kreuz ihn schlug!


Und blicke nicht trüb, mein Liebster,

daß Du noch ringst allein!

und hoffe wie Er, daß Einstens

die Goldne Zeit wird sein! – –


Nun sehe dein Auge ich leuchten

und strahlen Eigne Glut,

nun richtet das Haupt dir wieder

empor der alte Mut.


Du bist mein Stolzer, mein Starker!

du führst es Alles aus!

Oh gründe und baue nur weiter

an deinem stolzen Haus! –
[88]

Und übers Jahr ist's anders –

neig' her dein Ohr geschwind:

da schmücken wir ein Bäumchen

für ein lieb Menschenkind.

Quelle:
Richard Dehmel: Erlösungen, Stuttgart 1891, S. 87-89.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Spitteler, Carl

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant

Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon