Zweite Klage

[41] Traurig ist der Tag!

Von der Himmelstochter

Blicken ungetröstet

Dämmert er dahin.

Graue Nebelsäulen

Steigen von Gebirgen.

Endlos ist der Wolken Zug. –

Ha, du bist von meinem Herzen,

Tag, ein Bild!


Traurig ist mein Herz. –

Hat im deutschen Vaterlande

Je sein Volk ein Barde

Mehr geliebt, als ich,

O so reiße diese Saiten,

Von der Schwermuth schlaff gelassen,

Unter meinen Griffen

Unsichtbare Kraft entzwei!


Und dennoch – ach der Zeiten! –

Empört sich mir ein Lied im Herzen,[42]

Und greif' ich nach dem Harfenspiele,

Sey's in der Winterhalle,

Sey's in der Eiche Schatten,

Und steh'n die Kinder meines Volkes

Dem Liede lauschend her um mich;

Und hat das Lied nun ausgequollen,

Dann seh' ich manches Nackenschütteln.

Dann hör' ich manches Hohngeflüster:

»Die Fremden singen besser.

Wer mag sein Lied versteh'n!«

Dann sinkt mein Haupt auf's Harfenspiel.

Ein Seufzer reißt sich aus der Brust,

Und jede Saite winselt

Ihm leise leise nach.


Kinder meines Volkes!

Soll ein deutscher Barde singen,

Und sein Herz wüßte nichts davon?

Ist die Wolke nicht des Blitzes,

Und das Herz nicht der Lieder Sitz?

Und wie geußt ein volles Herz sich aus?

Strömt es nicht drängend und gewaltig,

Unaufhaltsam, seelenfassend

Seinen Inhalt fort?
[43]

Spricht es nicht Heldensprache, Geistersprache? –

Ha! »Wer mag sein Lied versteh'n!«

Kinder meines Volkes! jener,

Der Allvaters hohe Gabe,

Der den Funken des Gefühles,

Der den Saamen der Empfindung,

Als er ward in ihn geleget,

Nicht ersticket hat.


Kinder meines Volkes!

Ein verderblich Wort

Haben euch die Fremden angehauchet.

Dieses Wort kannten eure Väter nicht.

Barde! sprachen eure Väter:

Gib uns Liebe, gib uns Klagen,

Gib uns Lust zu großen Thaten,

Gib uns Muth für's Vaterland zu sterben!

Keiner sprach: Gib uns Witz!

Witz ist eine kalte Wasserblase,

Die sich an der Sonne färbet,

Und zerschellt,

Witz ein frostiges Behagen,

Das mit Träumen niedersteiget,[44]

Und am Morgenstrahle schwindet.

Schmelzet Witz ein Herz?

Röthet Witz die Wange?

Locket Witz die Thränen?

Und soll Witz, soll Witz im Liede seyn?


Und könnte denn nicht auch Sined vor euch

Mit kalten Wasserblasen sich äffen?

Und könnt' er nicht auch

Ein frostig Traumbehagen euch schaffen? –

Aber sein Herz gibt ihm ein lautes Verbot.

Greis Ossian in dem Geleite

Der Barden und Skalden besucht ihn.

Er höret am schweigenden Monde

Gesänge vergangener Alter,

Wie kann er?


Harfe! daß noch etwa Zeiten kommen

Uns'rer Arbeit hold.

Daß noch etwa Menschen sprechen:

Uns're Väter haben Sined,[45]

Und sein Lied verkannt.

Aber eines Neugeweihten1

Bist du dann vielleicht,

Und auf meinem Hügel

Sprossen Ringelblumen,

Sprosset lange Wermuth auf.

Fußnoten

1 In der Bardenkunst.


Quelle:
Michael Denis: Auserlesene Gedichte, Passau 1824, S. 41-46.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte
Dritte Sammlung Kurzerer Gedichte
Sammlung Kurzerer Gedichte
Sammlung Kurzerer Gedichte

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldsteig

Der Waldsteig

Der neurotische Tiberius Kneigt, ein Freund des Erzählers, begegnet auf einem Waldspaziergang einem Mädchen mit einem Korb voller Erdbeeren, die sie ihm nicht verkaufen will, ihm aber »einen ganz kleinen Teil derselben« schenkt. Die idyllische Liebesgeschichte schildert die Gesundung eines an Zwangsvorstellungen leidenden »Narren«, als dessen sexuelle Hemmungen sich lösen.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon