24. Ein Wunsch

[137] »Wie schön, mein Freund, ist diese Abendstunde!

O komm und hänge keinen Grillen nach;

Durch Feld und Garten machen wir die Runde.«

Sie faßte lächelnd seine Hand und sprach:

»Wie schön, mein Freund, ist diese Abendstunde!«


Er dachte: Was sind Stunden, Tage, Wochen?

Was hoffen wir mit jedem Atemzug?

Ein Herz, ein liebend Herz ist bald gebrochen,

Der Tod gewiß und rasch der Zeiten Flug.

Er dachte: Was sind Stunden, Tage, Wochen?


Wen trifft das Los zuerst, wen von uns beiden?

Wann sehn wir uns zum allerletzten mal?

Wer tröstet dich in deinen Todesleiden?

Wer tröstet mich? – O Rätsel voller Qual! –

Wen trifft das Los zuerst, wen von uns beiden?
[138]

Wenn ich, Geliebte, dir die Augen schlösse,

Die treuen Augen, holde Dulderin,

Du weißt es wohl, mit meinen Thränen flösse

Auch jede Hoffnung, jeder Trost dahin, –

Wenn ich, Geliebte, dir die Augen schlösse.


Doch bringen sie des Gatten Totenbahre,

Daß du, mein armes, schwaches Weib, entsetzt

Dich schicken mußt in öde Witwenjahre,

Dich schluchzend fragen mußt: Und jetzt? Und jetzt? –

Doch bringen sie des Gatten Totenbahre ...


Nein! Gott der Gnade, laß es nicht geschehen!

Zum Himmel dringe meines Herzens Schrei:

Laß, Vater, sie zuerst hinübergehen!

Doch daß sie elend und verlassen sei,

O Gott der Gnade, laß es nicht geschehen!

Quelle:
Ludwig Ferdinand Schmid: Dranmor’s Gesammelte Dichtungen, Frauenfeld 41900, S. 137-139.
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