Katharine Schücking

[86] Du hast es nie geahndet, nie gewußt,

Wie groß mein Lieben ist zu dir gewesen,

Nie hat dein klares Aug' in meiner Brust

Die scheu verhüllte Runenschrift gelesen,[86]

Wenn du mir freundlich reichtest deine Hand,

Und wir zusammen durch die Grüne wallten,

Nicht wußtest du, daß wie ein Götterpfand

Ich, wie ein köstlich Kleinod sie gehalten.


Du sahst mich nicht als ich, ein heftig Kind,

Vom ersten Kuß der jungen Muse trunken,

Im Garten kniete, wo die Quelle rinnt,

Und weinend in die Gräser bin gesunken;

Als zitternd ich gedreht der Türe Schloß,

Da ich zum ersten Mal dich sollte schauen,

Westfalens Dichterin, und wie da floß

Durch mein bewegtes Herz ein selig Grauen.


Sehr jung war ich und sehr an Liebe reich,

Begeisterung der Hauch von dem ich lebte;

Ach! manches ist zerstäubt, der Asche gleich,

Was einst als Flamme durch die Adern bebte!

Mein Blick ward klar und mein Erkennen stark,

Von seinem Throne mußte manches steigen,

Und was ich einst genannt des Lebens Mark,

Das fühlt' ich jetzt mit frischem Stolz mein eigen.


So scheut' ich es, als fromme Schülerin,

Dir wieder in das dunkle Aug' zu sehen,

Ich wollte nicht vor meiner Meisterin

Hochmütig, mit bedecktem Haupte, stehen.

Auch war ich krank, mein Sinnen sehr verwirrt,

Und keinen Namen mocht' ich sehnend nennen;

Doch hat dies deine Liebe nicht geirrt,

Du drangst zu mir nach langer Jahre Trennen.


Und als du vor mich tratest, fest und klar,

Und blicktest tief mir in der Seele Gründe,

Da ward ich meiner Schwäche wohl gewahr,

Was ich gedacht, das schien mir schwere Sünde.[87]

Dein Bild, du Starke in der Läutrung Brand,

Stieg wie ein Phönix aus der Asche wieder,

Und tief im Herzen hab' ich es erkannt,

Wie zehnfach größer du als deine Lieder.


Du sahst, Bescheidne, nicht, daß damals hier

Aus deinem Blick Genesung ich getrunken,

Daß deines Mundes Laute damals mir

Wie Naphtha in die Seele sind gesunken.

Ein jedes Wort, durchsichtig wie Kristall

Und kräftig gleich dem edelsten der Weine,

Schien mir zu rufen: »Auf! der Launen Ball,

Steh auf! erhebe dich, du Schwach' und Kleine!«


Nun bist du hin! von Gottes reinstem Bild

Ist nur ein grüner Hügel uns geblieben,

Den heut umziehn die Winterstürme wild

Und die Gedanken derer, die dich lieben.

Auch hör' ich, daß man einen Kranz gelegt

Von Lorbeer in des Grabes dunkle Moose,

Doch ich, Kathinka, widme dir bewegt

Den Efeu und die dornenvollste Rose.


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 86-88.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Die Ausgabe von 1844)
Gedichte
Sämtliche Gedichte (insel taschenbuch)
Geistliches Jahr: Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Gedichte (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon