Der Todesengel

[145] 's gibt eine Sage, daß wenn plötzlich matt

Unheimlich Schaudern einen übergleite,

Daß dann ob seiner künft'gen Grabesstatt

Der Todesengel schreite.


Ich hörte sie, und malte mir ein Bild

Mit Trauerlocken, mondbeglänzter Stirne,

So schaurig schön, wie's wohl zuweilen quillt

Im schwimmenden Gehirne.
[145]

In seiner Hand sah ich den Ebenstab

Mit leisem Strich des Bettes Lage messen,

– So weit das Haupt – so weit der Fuß – hinab!

Verschüttet und vergessen!


Mich graute, doch ich sprach dem Grauen Hohn,

Ich hielt das Bild in Reimes Netz gefangen,

Und frevelnd wagt' ich aus der Totenkron'

Ein Lorbeerblatt zu langen.


O, manche Stunde denk' ich jetzt daran,

Fühl' ich mein Blut so matt und stockend schleichen,

Schaut aus dem Spiegel mich ein Antlitz an –

Ich mag es nicht vergleichen; –


Als ich zuerst dich auf dem Friedhof fand,

Tiefsinnig um die Monumente streifend,

Den schwarzen Ebenstab in deiner Hand

Entlang die Hügel schleifend;


Als du das Auge hobst, so scharf und nah,

Ein leises Schaudern plötzlich mich befangen,

O wohl, wohl ist der Todesengel da

Über mein Grab gegangen!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 145-146.
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