|
[364] 1.
Herr Gott, du bist ja für und für
Die Zuflucht deiner Herde,
Du bist gewesen, eh allhier
Gelegt der Grund zur Erde;
Und da noch kein Berg war bereit,
Da warst du in der Ewigkeit,
O Anfang aller Dinge.
2.
Du läßt die Menschen in das Tor
Des Todes häufig wandern
Und sprichst: Kommt wieder, Menschen, vor
Und folget jenen andern!
Denn dir sind, Höchster, tausend Jahr
Als wie ein Tag, der gestern war
Und nunmehr ist vergangen.
3.
Du läßt das schnöde Menschenheer
Wie einen Strom verfließen
Und wie die Schifflein auf dem Meer
Bei gutem Wind hinschießen:
Gleichwie ein Schlaf und Traum bei Nacht,
Der, wenn der Mensch vom Schlaf erwacht,
Entfallen und vergessen.
[364]
4.
Wir sind ein Kraut, das bald verdorrt,
Ein Gras, das jetzt aufgehet,
Wird aber schnell von seinem Ort
Entführet und verwehet;
So ist ein Mensch: heut blühet er,
Und morgen, wann ihn ungefähr
Ein Wind rührt, liegt er nieder.
5.
Das macht, Herr, deines Zornes Grimm
Daß wir sobald verschwinden;
Dein Eifer stößt und wirft uns üm,
Von wegen unsrer Sünden.
Die Sünden stellest du vor dich,
Davon brennt und entrüstet sich
Dein allzeit reines Herze.
6.
Das ist das Feur, das uns versehrt
Das Mark in allen Beinen,
Daher kommts, daß der Tod verzehrt
Die Großen und die Kleinen;
Drum fahren unsre Tage hin
Wie ein Geschwätze durch den Sinn,
Wenn wir die Zeit vertreiben.
7.
Wie lang hält doch das Leben aus?
Gar selten siebzig Jahre.
Wenns hoch kommt, werden achtzig draus,
Und wenn man alle Ware,
Die hier gewonnen, nimmt zuhauf
Ists lauter Müh von Jugend auf
Und lauter Angst gewesen.
8.
Wir rennen, laufen, sorgen viel,
Und eh wir uns versehen,
Da kommt der Tod, steckt uns das Ziel,[365]
Und da ists dann geschehen;
Wie fliehen eilend und behend,
Und ist doch niemand, der sein End
Und Gottes Zorn bedenke.
9.
Lehr uns bedenken, frommer Gott,
Das Elend dieser Erden,
Auf daß wir, wann wir an den Tod
Gedenken, klüger werden!
Ach kehre wieder, kehr uns zu
Dein Angesicht und steh in Ruh
Mit deinen bösen Knechten!
10.
Erfüll uns früh mit deiner Gnad
Am Leib und an der Seelen,
So wollen wir dir früh und spat
Dein Lob mit Dank erzählen;
Erfreu uns, o du höchste Freud,
Und gib uns wieder gute Zeit
Nach so viel bösen Tagen!
11.
Bisher hats lauter Kreuz geschneit,
Laß nun die Sonne scheinen,
Bescher uns Freude nach dem Leid
Und Lachen nach dem Weinen!
Laß deiner Werke süßen Schein,
Herr, deinen Knechten kundbar sein
Und dein Ehr ihren Kindern!
12.
Bleib unser Gott und treuer Freund,
Halt uns auf festem Fuße;
Und wenn wir etwa irrig seind,
So gib, daß sich mit Buße
Das Herze wieder zu dir wend;
Auch fördre das Tun unser Händ
Und segn all unsre Werke!
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
|
Buchempfehlung
»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge
276 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro