Das Mädchen im Frühling

[52] Der Weinstock sprosset, der Apfelbaum blüht,

Das Veilchen duftet, die Rose glüht,

Der Mai senkt sich freundlich hernieder,

Die Nachtigall flötet, die Wachtel ruft,

Die Lerche zwitschert in heiterer Luft,

Das häusliche Schwälbchen kehrt wieder!


Schon fünfzehnmal sah ich den Apfelbaum blühn,

Das Veilchen sprossen, die Rose glühn,

Und feuriger strahlen die Sonne;

Da tanzt ich so heiter den Frühlingsreihn,

Da konnt ich der jungen Natur mich erfreun,

Da fühlt ich im Frühling nur Wonne!


Doch jetzt ists anders, doch nicht so gut,

Dahin, dahin ist mein fröhlicher Mut,

Ich kann nicht mehr tanzen und scherzen![52]

Der Frühling füllt nicht mein Herz mehr mit Lust,

Es atmet beklommen die junge Brust,

Es ist mir so ängstlich im Herzen!


Im Busen wogts wie ein wallendes Meer,

So fröhlich ist alles rings um mich her,

Doch ich fühl ein trauriges Sehnen!

Es freut sich so innig die ganze Natur,

Die Freude belebt jede Kreatur,

Ich Arme vergieße nur Tränen!


Beklommenheit ists, was die Seele fühlt,

Was nimmer ruhend im Busen wühlt,

Sie hat mir die Ruhe entrissen;

Und dennoch möcht ich das Gefühl, das mich quält,

Um alle Schätze der ganzen Welt

Aus meinem Innern nicht missen!


Ach, darum bin ich wohl nur betrübt,

Weil mich kein lebendes Wesen liebt? –

Das Nachtigallweibchen im Schatten

Der sparsambelaubten Linde baut

Ihr Nest und locket mit freudigem Laut

Den sorgsam helfenden Gatten!


Die Tauben schnäbeln im Rosengesträuch

Und girren so zärtlich, so innig, so weich,

Ich seh sie mit sehnenden Blicken!

Ach, wär ich doch auch so glücklich wie ihr!

Ach, flattert ihr Täubchen, ach flattert zu mir.

Laßt mich an den Busen euch drücken!


Kommt, liebt mich! – Dann wär ich wohl wieder so

Wie ehmals, würde so heiter und froh

Wie sonst die Tage verleben! –

Doch nein, eine innere Stimme spricht:

Was meinem fühlenden Herzen gebricht,

Kann ein fühlendes Herz mir nur geben!


Den 13ten August 1807


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 52-53.
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