Der Baum

[81] Am Wassergraben, im Wiesenland

Steht ein Eichbaum, alt und zerrissen.

Vom Blitze hohl, und vom Sturm zerbissen.

Nesseln und Dorn umstehn ihn in schwarzer Wand.


Ein Wetter zieht sich gen Abend zusammen.

In die Schwüle ragt er hinauf, blau, vom Wind nicht gerührt.

Von der leeren Blitze Gekränz umschnürt,

Die lautlos über den Himmel flammen.


Ihn umflattert der Schwalben niedriger Schwarm.

Und die Fledermäuse huschenden Flugs,

Um den kahlen Ast, der zuhöchst entwuchs

Blitzverbrannt seinem Haupt, eines Galgens Arm.


Woran denkst du, Baum, in der Wetterstunde

Am Rande der Nacht? An der Schnitter Gered,

In der Mittagsrast, wenn der Krug umgeht,

Und die Sensen im Grase ruhn in der Runde?


Oder denkst du daran, wie in alter Zeit

Einen Mann sie in deine Krone gehenkt,

Wie, den Strick um den Hals, er die Beine verrenkt,

Und die Zunge blau hing aus dem Maule breit?


Wie er da Jahre hing, und den Winter trug,

In dem eisigen Winde tanzte zum Spaß,

Und wie ein Glockenklöppel, den Rost zerfraß,

An den zinnernen Himmel schlug.
[81]

Quelle:
Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Band 1, Hamburg, München 1960 ff., S. 81-82.
Lizenz:
Kategorien: