Neuntes Kapitel
Verständnisse und Mißverständnisse, Sehnsucht, Orden, Gesinnungen und Ehrenstellen; Görres und Strauß; die Pucelle d'Orleans, Zeichen, Wunder und neue Geheimnisse

[101] In den nächsten Tagen nach der Ankunft des Fremden ging das schwärmende Entzücken der Schloßbewohner über den wunderbaren Mann in den ruhigeren, aber um so festeren Glauben über, daß in ihm der vom Verhängnis bestimmte Heiland ihrer Wünsche erschienen sei. Denn der alte Baron merkte schon am ersten Abende, an welchem er Münchhausens Unterhaltung genoß, daß mit den Kenntnissen, Erfahrungen, Schicksalen, Blicken, Ideen und Hypothesen seines Gastes niemand zwischen Himmel und Erde sich zu messen vermöge. Er war, seinen Erzählungen zufolge, fast in allen bekannten und unbekannten Gegenden der Erde gewesen, hatte sämtliche Künste[101] und Wissenschaften getrieben, zu Weinsberg Blicke in das Geisterreich getan, war durch alle Lagen des Lebens abwechselnd als Küchenjunge, Krieger, Staatsmann, Naturforscher und Maschinenbauer gegangen. Selbst in außermenschliche Regionen war sein Lebenslos geworfen worden; er ließ nach den ersten Stunden der Bekanntschaft merken, daß er einen Teil seiner Tage unter dem Vieh zugebracht habe.

Der alte Baron hatte hauptsächlich die Abendstunden, in welchen die Gesellschaft sich im Wohnzimmer zu versammeln pflegte, und bei dem Scheine einer Kerze auf den hölzernen Schemeln um den kiefernen Tisch saß, sich zu Mitteilungen erbeten. Für die Gartenpromenaden war von ihm ein noch strengeres Silentium festgesetzt worden, als früherhin, »denn«, sagte er, »man muß den Tag zum Nachdenken frei behalten, darüber, was Münchhausen am Abend erzählt; des Stoffes wird sonst zuviel, und wir werden alle drehend, wie die Schafe, von der Weisheit dieses Mannes.« – Aus dem Journalzirkel trat er nun wieder aus; in seinem Gaste besaß er jetzt mehr, als ihm eine Zeitschrift bieten konnte, der Geist aller Journale erschien in Münchhausen verkörpert. Immer ging der wunderbare Mann bei seinen Erzählungen von etwas Bekanntem und Verbürgtem aus, erhob sich aber von dieser Grundfläche zu den kühnsten und abenteuerlichsten Schwüngen, so daß man wohl sagen konnte, er stelle recht eigentlich in seiner Person den gewaltigen Fortschritt unserer Zeit dar.

Freilich blieb die Empfindung des Schloßherrn nicht ganz ohne eine hin und wieder hervortretende entgegengesetzte Beimischung. Münchhausen redete auch viel von Literatur und Poesie, und konnte bei solchen Gesprächen leicht satirisch werden. Der alte Baron hatte aber an diesen Gegenständen kein Interesse, und haßte die Satire; weshalb er denn auch derartigen Konversationen sich nur mit einem gewissen Unbehagen hingab. Wirklich verletzt aber fühlte er sich, wenn Münchhausen, wie er nicht selten tat, seine Meinung äußerte, alle Menschen seien gleich geboren, und nur der Wahn, der aber für immer ab und tot sei, habe den einen durch seine Geburt zu Vorzügen bestimmt ausgeben können, die nicht auch das Eigentum aller seiner Mitbrüder gewesen seien.[102]

Mit dem Fräulein gestaltete sich das Verhältnis des Gastes bald gründlich und tief in das zarte Verstehen ohne Worte aus, welches unsere sinnigen und hochstehenden Frauen so sehr lieben. Wenn sie ihm zuflüsterte, ein unaussprechliches Etwas durchwoge sie, so versicherte er, daß er sie vollkommen begreife; und konnte sie für den Drang ihrer Empfindungen nur Vordersätze ohne Nachsätze finden, so ließ er sie ahnen, daß letztere in seiner verschwiegenen Seele ausgesprochen ruhten. Daneben erquickten sie die glänzenden Schilderungen, welche er von fremden Gegenden gab, im Grunde ihres Herzens, und bis zur Schwärmerei stieg ihre Regung, wenn er die vierundzwanzigsilbigen Namen, welche in Mexiko, Peru oder Indien gebräuchlich sind, aussprach.

Zwar fühlte auch sie sich jezuweilen durch ihn verwundet. In dem Glauben nämlich, ihr dadurch nur noch um so mehr zu gefallen, sprach er einige Male seine Meinung aus, daß nur das Weib ihren Empfindungen treu bleibe, bei dem Manne aber der Spruch gelte: »Aus den Augen, aus dem Sinne!« weshalb denn auf kein von diesen unbeständigen Wesen gegebnes Versprechen jemals zu rechnen sei. Er konnte freilich nicht wissen, wie ungestüm solche Aussprüche ihren Erwartungen entgegentraten. Sie pflegte darauf zu versetzen: »Herr von Münchhausen, Karls und Ihre Erscheinung widerlegt mir im Sinne höherer Ahnung zum voraus diesen Satz.« Wenn sie nun das sagte, verstand er sie wirklich nicht, und war auch nicht so dreist, es ihr zu versichern.

Indessen gingen diese einzelnen Mißstimmungen immer bald in dem Gefühle der Hingebung und Begeisterung unter, welches Vater und Tochter ihm widmeten; ja sie dienten durch den Kontrast dazu, diesem Gefühle nur noch größere Leidenschaftlichkeit zu geben. Dagegen war der Schulmeister dem Freiherrn gegenüber in einer eignen Stimmung, die sich nur mit den Scherzbildern vergleichen ließ, welche von der einen Seite angesehen, ein lächelndes Gesicht, von der andern betrachtet, eine verdrießliche Fratze zeigen. Die Persönlichkeit Münchhausens nebst seinen Reden hatte nicht verfehlen können, auch auf den Schulmeister einen tiefen Eindruck zu machen; wir wissen, welche Aussichten für die Bestätigung[103] seiner teuersten Überzeugungen auch er an diesen Mann des Schicksals knüpfte. Nun aber konnte er sich schon nicht mit der Darstellungsweise Münchhausens überall einverstanden erklären. Er war von seinem Elementarunterrichte her an Einfachheit gewöhnt; er hatte den Knaben und Mädchen die Erschaffung der Welt, den Sündenfall, die Opferung Isaaks, und die Geschichte des keuschen Joseph, ohne Episoden einzumischen, immer schlicht heraberzählt. Der Freiherr aber, überwältigt von seinen Erinnerungen, überfüllt mit Bezügen, Rückblicken und Seitenblicken, schachtelte dermaßen Nebengeschichten in seine Hauptgeschichten ein, und verstieg sich oft in ein solches Labyrinth dabei, daß dem armen Schulmeister, welcher notgedrungen den Theseus in jenen Irrgängen spielen mußte, der Faden der Ariadne häufig aus den Händen schlüpfte. Außerdem hatte er zu bemerken, daß Münchhausen, der ihn für einen untergeordneten Mitesser ansah, wie er es denn in der Tat auch war, ihm keinesweges mit der gefälligen Aufmerksamkeit begegnete, wie dem alten Baron und dem Fräulein, ja sich sogar vergebens von ihm anmahnen ließ, die Wanderung der vertriebenen Spartaner nach dem Fürstentume Hechelkram urkundlich für ihn auseinanderzusetzen.

Er war daher abwechselnd böse auf den Freiherrn, und hingerissen von ihm. So wahr ist es, daß jeder Prophet schon in seiner ersten Gemeine den Thomas findet, welcher ihm heute folgt, und ihn morgen verleugnet.

An einem der Erzählabende sagte der alte Baron zu seinem Gaste: »Weiß Gott, daß ich nicht gern an Wunder glaube, und im Grunde auch der Meinung bin, die Natur sei ein Haus, worin man noch immer jeden Tag neue Zimmer und Kammern entdeckt, aber wenn ich bedenke, wie Ihr, liebster Münchhausen, uns dahergeschleudert wurdet, just, als wir, wie ich nun von Emerentien und dem Schulmeister herausgebracht habe, gleichzeitig nach einem Manne, wie Ihr seid, das allerlebhafteste Verlangen empfanden, und auf einen Schuß den dicken Sehnsuchtsseufzer hervorstießen – so weiß ich wahrhaftig nicht, ob dergleichen mit rechten Dingen zugehen kann.«

»Und was wäre denn daran so wunderbar, wenn Sie, meine Freunde, mich herangeseufzt hätten?« rief Münchhausen. »Darüber[104] sind wir denn doch nun wohl aufgeklärt, daß dem menschlichen Geiste, wenn er sich recht in einem Punkte konzentriert, ein gesteigertes Vermögen beiwohnt, wie denn z.B. Görres in einem überaus glaubwürdigen Buche, in seiner ›Christlichen Mystik‹, erzählt, die heilige Katharina habe einmal wegen leichter Indisposition nicht kommunizieren können, und deshalb während der Altarhandlung in einer entfernten Ecke der Kirche gekniet; das habe aber gar nichts zu sagen gehabt, denn die Hostie sei über das ganze Schiff der Kirche hinweg ihr in den Mund geflogen.

Nun sage ich immer: Was dem einen recht ist, muß dem andern billig sein. Können die Frommen sich das Venerabile von hundert und mehreren Schritten herbeibeten, so haben die Weltlichen, wenn sie nur ihr Verlangen auch energisch auf einen Punkt richten, gewiß ebenfalls die Macht, diesen Punkt, bestehe er nun in Geld, Frauen, Ehre, herbeizuziehn; und jede Partei kriegt auf solche Weise, was sie wünscht, die Frommen empfangen das eine, was not tut, die Weltlichen das andre, was hilft. Ich bin also überzeugt, daß Ihre drei Sehnsuchten meinem Mietpferde magische Schlingen um die Füße legten, die es in den Dornenweg entlängst der Gartenhecke zogen, und daß es dann vor der mystischen Gewalt Ihrer Seufzer scheute, solchergestalt aber durch die nachfolgenden Zwischenursachen hindurch mich zu Ihnen beförderte.«

»Ja, Münchhausen«, rief der alte Baron, »Ihr seid gleichsam aus der Luft wie ein Donnerkeil unter uns geschlagen!«

Münchhausen fuhr fort: »Wie käme es denn, wenn eine solche Macht des menschlichen Willens nicht bestände, daß so manches gute, schöne Mädchen sich mit dem häßlichsten, einfältigsten Tropfe vermählt? Der Tropf hat es sich einmal in den Kopf gesetzt, eine schöne Frau zu bekommen; er richtet sein ganzes Verlangen auf eine solche, und sie gibt ihm richtig ihre Hand, ohne selbst zu wissen, wie es zugegangen ist. Wieder ein andrer hat mehr Liebhaberei an Ehrenstellen und hohen Posten; er weiß nichts, gar nichts, er kann eigentlich keinem Schreiberdienste vorstehen, aber er ist ein Mann von ›Gesinnung‹ d.h. nach der Auslegung, die wir Eingeweihten unter uns dem Worte geben: er besitzt die stärkste Intensivität[105] des Sinns, sich und seinen Herrn Vettern alles mögliche Gute und noch etwas mehr zu verschaffen, überzeugt, daß, wenn es nur ihm und den Herrn Vettern wohl gehe, es auch mit dem Glücke des Landes wohl bestellt sei.

Louis quatorze sagte: ›l'État, c'est moi‹. Wir haben nun gegenwärtig keinen Louis quatorze, aber eine Clique haben wir, eine schöne, vollständig organisierte Clique, mit Ober- und Untercliquiers von dauerhafter Gesinnung und die Clique sagt:

›l'État, c'est la clique‹.

Mais, pour revenir à mes moutons: Ein Gesinnungsmann ohne Kenntnisse und Verstand wünscht sich in der Stille, solange mit solcher Inbrunst zum Statthalter oder Minister, bis er eines Tages, also brevetiert, aufsteht. Die Welt schreit von kleinen Intrigen, die gespielt worden seien; ach, Possen! sie sollte dafür sich einen Blick in große Naturgeheimnisse anzueignen suchen. Die mystische Kraft der Sehnsucht hat gewirkt, daß dem Gesinnungsmanne die Statthalterei in den Mund flog, wie ...«

»Eine gebratene Taube!« fiel der alte Baron ein.

»Die Hostie der heiligen Katharina, nach Görres«; sagte Münchhausen. »Ich habe mir im Herzogtume Dünkelblasenheim einmal den Landesorden ersehnt; d.h. ich habe nicht sehnsuchtsvoll, wiewohl vergebens, danach geseufzt, sondern ihn realiter an meinen Rock herbeigesehnt. Der Herzog ist ein guter alter Mann, seine Bildung datiert noch von Gellerts Fabeln, darüber ist er nicht hinausgekommen, und in heiterer Rückerinnerung an dieses kindliche Lehrmittel hat er den Orden vom grünen Esel gestiftet, mit Komturen, Großkreuzen und Kleinkreuzen. Der Esel frißt in einer Umkränzung von Sternen Disteln, und die Ordensdevise lautet: ›L'appétit vient en mangeant‹. Nun, nach diesem grünen Eselorden verlangte ich heftig, denn man war in Dünkelblasenheim kaum noch beim Wege angesehen, wenn man nicht zu den Eseln gehörte; so wurden die Ritter nach einer abkürzenden Redefigur benannt. Eines Morgens kommt mein damaliger Stiefelputzer Kalinsky vor mein Bette, hält mir den Frack, der in der Stube gehangen hatte, ausgespreitet unter die Augen und ruft: ›Herr von Münchhausen, Sie sind über Nacht auch ein Esel geworden.‹[106] Ich sehe hin und erstaune denn doch ein wenig, denn richtig sitzt im dritten Knopfloch das changeante Band, und daran hängt das Kreuz mit dem Distelfreunde und der Devise. Ich springe aus dem Bette, erkundige mich im Hause, ob jemand sich habe einschleichen und den Spaß verüben können? Aber die Türe war die ganze Nacht über fest verschlossen gewesen, Kalinsky war der erste, der von außen kam.

Der Orden ist da, wo aber stecken deine Verdienste? frage ich mich selbst. Hast du irgend Verdienste um Dünkelblasenheim? Ich prüfte auf das ernsteste mein Gewissen; ich löste die letztgedachte Hauptfrage in sechs Unterfragen auf:


* * * * * *


Aber auf alle Fragen und Unterfragen mußte ich mir mit Nein! antworten. Ich hatte kein Verdienst, gar kein Verdienst, nicht das geringste Verdienst um jenen Staat. Um andere Staaten habe ich mir Verdienste erworben, aber nicht um Dünkelblasenheim. Ich lüge Ihnen nichts vor, mein Wahlspruch ist: ›La vérité, toute la vérité, rien que la vérité‹.

Und der Orden war doch da. Also abermals eine Erfahrung von der mystischen Kraft der reinen Sehnsucht. Das Wunderbare bei der Sache, und was ich mir noch nicht habe erklären können, war, daß nicht allein das Kreuz von meinem Wunsche herbeigezogen worden war, sondern daß es auch seinerseits auf das changeante Band eingewirkt hatte, so daß dieses sich von selbst in das Knopfloch knüpfte. Ich versuchte, den Knoten zu lösen, aber er war so fest geschlungen, daß mir dieses nur mit der größten Mühe gelang. Auch nachher blieb das Band untrennbar haften, wie Johanna Rodriguez nach Görres' ›Christlicher Mystik‹, Band 2 pagina 569 fest am Kreuze haften blieb, auf welches sie sich locker gelegt hatte.«

»O wäre ich Johanna Rodriguez!« flötete das Fräulein.

»Dummes Zeug!« brummte der Schulmeister.

»In diesem Buche von Görres müssen ja erstaunliche Dinge stehen«, sagte der alte Baron.

»O«, rief Münchhausen, »ganz andere Dinge stehen noch darin! Dem heiligen Filippo Neri schwoll, nach Görres, das Herz vom Beten so an, daß es ihm zwei falsche Rippen zerbrach, nämlich die vierte und fünfte; der heilige Petrus von[107] Alcantara brannte so in Liebesflammen, daß der Schnee um ihn schmolz, und daß er einmal bei Winterszeit, um sich abzulöschen, in einen gefrornen Teich springen mußte, worauf das Eis um ihn zischte und kochte, wie in einem Gefäße über großem Feuer ...«

»Hört auf, hört auf!« rief der alte Baron. »Mir schwindelt.«

Feurig fuhr Münchhausen fort: »Görres sagt auch: die Heiligen röchen sehr schön, besonders wenn sie den Aussatz hätten. Was aber das Lieblichste ist: sie geben Öl von sich. Die heilige Lutgardis drückte sich das Öl aus den Fingern, Christina mirabilis hatte es in den Brüsten, und von der Äbtissin Agnes von Monte Pulciano füllten die Klosterschwestern ganze Krüge ab. Görres hat auch diesen Ölbildungsprozeß sehr richtig an den Körper verteilt, wie er denn überhaupt nichts so roh und unzugerichtet hinschreibt, sondern alle die Sachen, welche sich an den Heiligen ereignen, aus der höheren Physiologie ableitet. In den unteren, beschatteten Regionen des Leibes bilde sich das milde oder fette Öl, sagt Görres ...«

»Verstehe, verstehe, eine Art von Baumöl, Salatöl«, rief der alte Baron dazwischen und schwenkte seine Mütze; »wo aber rechte Heiligkeit herrscht, grünliches Provenceröl ...«

»O gäbe ich auch Öl von mir!« schmachtete das Fräulein.

» ... Oben jedoch, in den höheren Regionen, also etwa vom Zwerchfelle aufwärts, komme es mehr zur Produktion eines flüchtigen Öls, Aromas, sagt Görres. Zuweilen nun, wenn gerade in der Luft eine besondere Beschaffenheit obwaltet, schlägt sich dieses Aroma als Manna in Form eines Kreuzes nieder, was dann die Gläubigen vom Heiligen abkratzen und aufessen. So hat es sich nach Görres bei der schon erwähnten Äbtissin Agnes von Monte Pulciano zugetragen.«

»Münchhausen! Münchhausen!« rief der alte Baron, blies die Backen auf, und stieß einen Strom Luft aus denselben hervor, wie er zu tun pflegte, wenn ihm ein Gedanke zu mächtig wurde – »wir leben in einer großen Zeit. Überall, durch das ganze Reich des Wissens hin, stiftet sich Licht und Zusammenhang. Was dem Filippo Neri mit seinem Herzen begegnete, ist ja in einem höheren Gebiete nur dasselbe, was sich tagtäglich in einer niederen, animalischen Sphäre ereignet.[108]

Wenn doch die Zeiten der Görresschen Wunder ganz wiederkehrten, so könnte man ja fast alle Haushaltungsbedürfnisse mit einem seiner Heiligen bestreiten, und ersparte hundert Auslagen, die das Leben jetzt so sehr verteuern! Ein Görresscher Heiliger heizte uns das Zimmer durch, gäbe Öl, unten fettes, oben flüchtiges, ein paarmal im Jahre auch eine Schüssel Manna ...«

»Guter, schuldloser Vater!« sagte Emerentia und blickt ihren Vater mitleidig an. – »Ob es je dahin wieder kommen wird, weiß ich nicht«, sagte Münchhausen, »aber mit dem Görresschen Buche habe ich selbst mein dreifarbiges Wunder erlebt.«

Der Schulmeister war hinausgegangen. Ihm machten diese Erzählungen große Beschwerlichkeit, denn er war entschiedner Rationalist. Der Baron und seine Tochter forderten den Freiherrn dringend auf, das dreifarbige Wunder zu berichten, und Münchhausen hob wieder an:

»Geschätzte Freunde und Zuhörer, wissen Sie hiemit, daß ich das vielbelobte christlich-mystische Buch auf meinem Bücherbrette neben dem ›Leben Jesu‹ von Strauß stehen hatte. Doctis pauca sufficiunt; Gelehrten ist gut predigen, ich brauche Ihnen, mein würdiger Altvater und Schloßherr, nicht des breiteren den Inhalt der letzteren Schrift auseinanderzusetzen, denn es ist Ihnen aus Ihrer Journallektüre bekannt, daß, wie der christliche Mystiker noch bis auf die neueste Zeit die Nägelmale sich hat reproduzieren lassen, der andere dagegen dem Heilande nicht einmal sein Dasein in den Evangelien gönnt, sondern behauptet, die apostolische Kirche sei eine Art von Aktiengesellschaft gewesen, die sich den Erlöser auf gemeinschaftliche Kosten angeschafft habe, weil sie ihn bedurft. – Es war unvorsichtig von mir, daß ich zwei so widerhaarige Bücher zusammengestellt hatte; ich mußte voraussehen, daß sie sich nicht vertragen würden. Und so kam es auch. Eines Nachts wache ich von einem sonderbaren Geräusch auf, welches aus meiner Bibliothek tönt. Ich nehme die Kerze, leuchte hin, und habe einen seltsamen Anblick. Strauß und Görres sind in wütendem Kampfe begriffen, nämlich so, daß die bei den einander zugekehrten Buchdeckel aufeinander zuschlagen, wie die Flügel erboster Truthähne. Der Kirchenrat Paulus,[109] Steudel, Marheineke, selbst Tholuck, die rechts und links von diesen beiden Werken gestanden hatten, waren scheu zur Seite gewichen, so daß die Gegner vollen Raum zur Entfaltung ihrer Polemik in den Buchdeckeln gefunden hatten. Dabei gaben sie sonderbare Töne zu vernehmen. Im ›Leben Jesu‹ ließ sich ein feines, nagendes Knispern, wie von fressenden Mäusen hören, dagegen grunzte und grölzte die dicke ›Mystik‹ in einer Art von Strohbaß. Ich nahm meinen armen Görres, der auch schon ganz warm geworden war, wenngleich nicht glühend, wie der heilige Petrus von Alcantara, vom Brette, streichelte ihn, redete ihm mit guten Worten zu, und brachte es denn endlich auch dahin, daß sich das Buch von seiner entsetzlichen inneren Aufregung beruhigte; während das ›Leben Jesu‹ noch immer mit dem einen Deckel in die leere Luft hineinfocht, gegen einen Wunderglauben, der ihm gar nicht mehr gegenüberstand.

Wie ich nun aber den Einband von Görres untersuchte, um zu sehen, ob er in diesem Strauße mit Strauß nicht Schaden gelitten habe, da erschien mir das dreifarbige Wunder. Ich hatte nämlich den Görres in Purpur binden lassen, und, was sagen Sie dazu, meine Freunde? Der Autor hatte vor Alteration zwischen dem Purpur blaue und weiße Streifen bekommen. In der Tat, meine Wertesten, die ›Christliche Mystik‹ hatte das alte, wohlbekannte, revolutionäre Koblenzer Blau, Rot und Weiß von Anno 1793 angelegt. Ein Farbenkundiger sagte mir nachmals, diese Trikolore sei die eigentliche Grundfarbe des Autors und trete bei jeder Erregung, auch bei der mystischen, aus allen anderen Überpinselungen immer wieder siegreich an ihm hervor.

Nun, dem sei, wie ihm wolle. Ich stellte meinen Görres auf ein andres Brett, hatte ihm jedoch in der Nachtmüdigkeit abermals einen unschicklichen Platz gegeben, wie ich am folgenden Morgen sah. Nämlich, neben Voltaires ›Pucelle‹ hatte ich ihn gestellt. Aber diesem verschollnen Spotte gegenüber hat sich die christliche Mystik sehr mächtig und überwältigend erwiesen. Denken Sie sich, die ›Pucelle‹ war in der Nacht von dem frommen Buche bekehrt worden, wahrscheinlich durch die sich in demselben entwickelnde fette und aromatische Ölbildung. Sie mögen es glauben, oder nicht, es liegt mir nichts daran,[110] aber es ist wahr. Das frivole Gedicht war in sich geschlagen, der Text verschwunden, und ich hielt, als ich einen Blick hineintat, ein in Halbfranz gebundnes Buch voll unschuldigweißer Papierblätter in Händen, statt der gotteslästerlichen Späße von Charles sept, Agnes Sorel, Dunois, Jeanne und ihrem Esel. Ja, was noch mehr sagen will, das Papier schämt sich seiner früheren Sünden, es liegt ein leiser roter Schimmer darüber, dem Satze zum Trotz; ›litterae non erubescunt‹. Ich will es doch gleich herbeiholen, Sie durch den Augenschein zu überzeugen.«

Münchhausen lief rasch, wie eine Bachstelze hinaus. Der alte Baron ging, mit den Händen in der Luft fechtend, seine Mütze in die Höhe werfend, und sie, wie einen Ball wieder auffangend, im Zimmer auf und nieder und rief: »Ein Teufelskerl, der Münchhausen! Man muß ihm nach, man mag wollen oder nicht! Im Anfang stemme ich mich jederzeit gegen seine Geschichten, aber ehe ich mich dessen versehe, haben sie mir die Schlinge über den Kopf geworfen und nehmen mich mit fort. Was sagst du dazu, Renzel?«

Emerentia versetzte: »Ich hoffe, die besondere Luftbeschaffenheit auch noch zu erleben, und aus meinem Aroma Manna zu erzeugen.«

»Eine Närrin bist du«, polterte der alte Schloßherr, »die immer nur an sich denkt, und nie ihren Gesichtskreis erweitern mag! Wenn ich nun ebenso wäre, und nichts von heute abend mir zur Ausbeute gewänne, als den selbstsüchtigen Wunsch, mir den grünen Esel in das Knopfloch zu sehnen? Denkst du, daß dein alter Vatery nicht auch noch gern in seinen letzten Tagen einen Orden trüge, ohne irgendeins der sechs Verdienste um Dünkelblasenheim? Aber ich bin nicht so enggesinnt; mir liegt meine Ausbildung am Herzen, und noch heute abend frage ich Münchhausen über seine zweifarbigen Augen und sein Ergrünen aus, denn wir stecken einmal mitten in den sonderbaren und außerordentlichen Dingen, zudem stört uns auch der Schulmeister nicht mit seiner einfältigen höhnischen Miene.«[111]

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 101-112.
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