Die Einfalt

[221] An Lina.


Von der Einfalt soll ich dir,

Gutes Mädchen, etwas sagen?

Allzu selten tönt von ihr

Noch ein Lied in unsern Tagen!


Denn, gebannt von Hof und Stadt,

Will sie nur im Freyen scherzen;

Jene lügen; Einfalt hat

Immer Eines nur im Herzen.


Jedes Wort ist Seelenklang,

Des Gedankens treue Stimme;

Ruhig, sicher ist ihr Gang,

Und ihr Wandel ohne Krümme.
[222]

Wenig thut sie nie durch Viel;

Aber Vieles gern durch Wenig;

Klatschet keinem Narrenspiel,

Wäre gleich der Narr ein König.


Im Tyrannensaal gehaßt,

Wählt sie, von den reinsten Lüften

Angefächelt, zum Pallast

Einen Busch auf armen Triften.


Hohe Weisheit sucht sie nicht;

Ihr genügt, auf grünen Auen,

An der Wahrheit Dämmerlicht,

Um in Demuth Gott zu schauen.


Alles zeigt ihr seine Spur,

Heilig ist des Schöpfers Hülle;

Zu dem Vater bethet nur

Einfalt aus des Herzens Fülle;
[223]

Singt im Dornenkranz, und legt

Auf ein Kreuz die matten Hände;

Noch von Lieb' und Hoffnung schlägt

Ihre Brust am letzten Ende.


So verläßt sie Flur und Hain,

Blickt von ihrer stillen Wiese

Froh gen Himmel, schlummert ein,

Und erwacht im Paradiese.

Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 3, Zürich 1819, S. 221-224.
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