Die Linde auf dem Kirchhofe

[262] Die du so bang den Abendgruß

Auf mich herunter wehest,

Zur Wolke schwebst, und mit dem Fuß

Auf Todtenhügeln stehest,

O Linde! manche Thräne hat

Den Boden hier benetzet,

Und Menschenjammer, blaß und matt,

Auf ihn sein Kreuz gesetzet.


Die auf dem einen Hügel hier,

Geweint um ihre Lieben,

Die birgt ein andrer neben dir;

Und ihrer wenig blieben.

Sie schlafen. Ach! um ihr Gebein

Verhallte schon die Trauer;

Du Linde rauschest ganz allein

In athemlose Schauer.
[263]

Vergebens läßt auf kühles Grab

Dein Zweig die Blüthe fallen,

Vergebens tönt von dir herab

Das Lied der Nachtigallen;

Sie schlummern fort. Du aber schlägst

In modervolle Grüfte

Die Wurzel, schmückest dich, und trägst

Empor die Blüthendüfte.


Auf Erden sieht man immer so

Den Tod ans Leben gränzen;

Doch ewig kannst du, stolz und froh,

Die Aeste nicht bekränzen.

Es trocknet schon der Jugend Saft

In dir; Verwesung winket,

Bis endlich deine letzte Kraft

Dahin auf Gräber sinket.


Wenn aber dein Geflüster auch

Verstummt an diesen Hügeln,

So bringet neuen Frühlingshauch

Der West auf Rosenflügeln.[264]

Damit die Felder wieder blühn,

Umwallt er Berg' und Gründe;

Will deinen Sprößling auferziehn,

Und krönt die junge Linde.


Wohl uns! Der große Lebensquell

Versiegt dem Geiste nimmer.

Das Kreuz auf Gräbern, wie so hell

In dieser Hoffnung Schimmer!

O Linde! gern an deinem Fuß

Hör' ich des Wipfels Wehen;

Dein feyerlicher Abendgruß

Verkündet Auferstehen.[265]

Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 4, Zürich 1819.
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