Fünftes Kapitel.

[72] Ungefähr ein Jahr nach Edelens Tode verlor eine von Lyhnes Cousinen ihren Mann, den Tonwarenfabrikanten Refstrup. Das Geschäft war niemals glänzend gewesen, die lange Krankheit des Mannes hatte es noch mehr in Verfall gebracht, und die Witwe stand bei seinem Tode am Rande der Armut. Sieben Kinder waren mehr, als sie versorgen konnte. Die beiden jüngsten, sowie der älteste Sohn, der schon in der Fabrik tätig war, blieben bei ihr, die übrigen nahm die Familie zu sich. Zu Lyhnes kam der zweitälteste Sohn. Er hieß Erik, war vierzehn Jahre alt und hatte eine Freistelle in der Lateinschule der Stadt gehabt; jetzt sollte er von Herrn Bigum zusammen mit Niels und Frithjof Petersen, des Pfarrers Frithjof, unterrichtet werden.

Er hatte sich nicht aus freien Stücken zum Studieren entschlossen, denn er wollte Bildhauer werden. Der Vater[72] hatte gesagt, das sei Unsinn, Lyhne jedoch hatte nichts dagegen einzuwenden, weil er Talent bei dem Knaben vermutete. Doch wünschte er, daß dieser erst seine Abgangsprüfung bestehe, dann habe er stets einen festen Stützpunkt, außerdem sei ja klassische Bildung für einen Bildhauer notwendig oder doch wünschenswert.

Dabei blieb es denn vorläufig, und Erik mußte sich mit der nicht unbedeutenden Sammlung von guten Kupferstichen und hübschen Bronzen trösten, die sich auf Lönborggaard befand. Das war schon immer etwas Großes für jemand, der bis dahin nichts gesehen hatte als den alten Plunder, den ein mehr sonderbarer als kunstverständiger Drechsler der Bibliothek seiner Vaterstadt geschenkt hatte, und es währte nicht lange, so war Erik mit Bleifeder und Modellierstift tätig. Nichts sagte ihm so sehr zu wie Guido Reni, der ja auch in jenen Tagen einen größeren Namen hatte als Raffael und die hervorragendsten Meister; und es gibt wohl kaum etwas, das junge Augen besser für die Schönheiten eines Kunstwerkes öffnet, als die feste Überzeugung, daß ihre Bewunderung ermächtigt ist bis zu den höchsten Höhen hinauf; Andrea del Sarto, Parmegianino und Luini, die später, als sein Talent und er einander gefunden hatten, soviel für ihn werden sollten, die ließen ihn jetzt gleichgültig, während das Gesunde bei Tintoretto, das Bittere bei Salvatore Rosa und Caravaggio ihn entzückte, denn dem Lieblichen in der Kunst können die jüngeren noch keinen Geschmack abgewinnen.[73] Der anmutvollste Miniaturmaler hat seine Laufbahn in Buonarottis Spur begonnen, der sanfteste Lyriker unternahm seine erste Fahrt mit schwarzem Segel auf dem Blute der Tragödie.

Aber bis jetzt war ihm diese Beschäftigung mit der Kunst nur noch ein Spiel, kaum besser als die anderen Spiele, und er war nicht stolzer über einen mit Erfolg modellierten Kopf oder ein geschickt ausgeschnittenes Pferd, als über einen gewandten Wurf, der die Wetterfahne an der Kirche streifte, oder über die Großtat, nach Sönderhagen hinaus und wieder zurück geschwommen zu sein, ohne Ruhepause dazwischen; denn er liebte solche Spiele, bei denen es auf Leibesübung, auf Stärke und Ausdauer, auf eine sichere Hand und ein geübtes Auge ankam, nicht Spiele, wie die von Niels und Frithjof, wo die Phantasie die Hauptrolle spielte und wo sowohl die Handlung wie der Held nur eingebildet waren. Die beiden verließen jedoch bald ihren alten Zeitvertreib, um Erik zu folgen. Die Romanbücher wurden beiseite gelegt, die endlose Geschichte erhielt in einer letzten, heimlichen Zusammenkunft auf dem Heuboden einen etwas gewaltsamen Schluß, und tiefes Schweigen lagerte über dem hastig zugeschütteten Grabe, denn sie mochten mit Erik nicht darüber sprechen. Schon nach einer Bekanntschaft von wenigen Tagen fühlten sie, daß er sich über sie wie über ihre Geschichte lustig machen, daß er sie in ihren eigenen Augen herabsetzen und sie dahin bringen würde, sich gründlich zu schämen. Diese Macht besaß er[74] nämlich, denn er war frei von allem, was Träumerei, Exaltation oder Phantasterei heißt. Und da seine klare, praktische Knabenvernunft in ihrer makellosen Gesundheit geistigen Gebrechen gegenüber ebenso schonungslos verfuhr, wie Kinder den körperlichen gegenüber zu tun pflegen, so fürchteten sich Niels und Frithjof vor ihm, sie richteten sich nach ihm, verleugneten vieles und verbargen noch mehr. Niels namentlich war schnell bei der Hand, alles das bei sich zu unterdrücken, was nicht mit Eriks Denkart übereinstimmte, ja mit der brennenden Schmähsucht eines Renegaten verspottete er Frithjof und machte den Freund lächerlich, dessen langsamere, treuere Natur nicht so auf einmal das Alte um des Neuen willen vergessen konnte. Was aber Niels hauptsächlich zu diesem lieblosen Gebaren veranlaßte, war Eifersucht, denn gleich am ersten Tage hatte er sich in Erik verliebt, der, scheu und zurückhaltend, nur mit Widerstreben und halbem Spott es duldete, daß man ihn liebte.

Gibt es wohl unter allen Gefühlsverhältnissen des Lebens etwas, das zarter, edler und herzlicher wäre als die leidenschaftliche und doch so schüchterne Verliebtheit eines Knaben in einen anderen? Eine Liebe, die nie redet, die sich niemals in Liebkosungen, Blicken oder Worten Luft zu machen wagt, eine sehende Liebe, die über jeden Fehler, über jede Unvollkommenheit, welche sie bei dem Geliebten entdeckt, schmerzlich klagt, die Sehnsucht ist und Bewunderung und Selbstvergessen, die Stolz ist und Demut und ruhig atmendes Glück?[75]

Eriks Aufenthalt auf Lönborggaard währte nur ein Jahr oder auch anderthalb, denn Lyhne hatte bei einem Besuch in Kopenhagen mit einem bedeutenden Bildhauer gesprochen und ihm die Skizzen des Knaben gezeigt, und Mikkelsen, der Bildhauer, hatte gesagt, daß sich in ihnen ein unverkennbares Talent zeige, und daß das Studieren Zeitverschwendung sei, es bedürfe keiner besonderen klassischen Bildung, um einen grieschischen Namen für einen nackten Menschen zu finden. Deswegen wurde verabredet, daß Erik gleich in die Hauptstadt geschickt werden sollte, um die Akademie zu besuchen und in Mikkelsens Atelier zu arbeiten.

Am letzten Nachmittage saßen Niels und Erik oben auf ihrem Zimmer. Niels besah die Bilder in einem Pfennigmagazin. Erik war in Spenglers beschreibenden Katalog der Gemäldesammlung auf dem Christiansborger Schlosse vertieft. Wie unzählige Male hatte er dies Buch nicht durchgeblättert und sich aus den naiven Beschreibungen eine Vorstellung über die Gemälde zu bilden versucht, beinahe krank vor Sehnsucht, alle diese Kunst und Schönheit wirklich zu schauen, die ganze Herrlichkeit dieser Linien und Farben wirklich mit den Augen zu genießen, wirklich mit den Augen zu erfassen, so daß sie durch die Bewunderung sein eigen würde; und wie unzählige Male hatte er dann dies Buch zugeschlagen, müde, in den treibenden, phantastischen Nebel der Worte hineinzustarren, in den Nebel, der sich nicht befestigen, sich nicht ballen und gestalten,[76] sondern nur in verwirrendem Wechsel wogen und wogen wollte. Heute war es anders, heute hatte er die Gewißheit, daß dieser Nebel bald kein Schatten aus dem Traumlande mehr sein würde, und er fühlte sich so reich durch alle die Verheißungen des Buches, und die Bilder gestalteten sich heute wie nie zuvor und durchbrachen die Wolken in flüchtigem Schimmer, wie die farbenstarke Sonne, die durch den Nebel bricht, golden und in goldig zitterndem Glanze.

»Was besiehst du da?« fragte er Niels.

Niels zeigte ihm in seinem Buch Lassen, den Helden des zweiten April.

»Wie häßlich der ist!« meinte Erik.

»Häßlich! Er war doch ein Held, nennst du denn vielleicht auch den da häßlich?«

Niels hatte zurückgeblättert bis zu dem Bilde eines großen Dichters.

»Scheußlich häßlich!« versicherte Erik und verzog den Mund. »Ist das vielleicht eine Nase? und der Mund und die Augen und dies struppige Haar, das ihm um den Kopf hängt!«

Niels sah, daß er häßlich war, und wurde ganz kleinlaut. Es war ihm bis dahin niemals eingefallen, daß das, was groß ist, deswegen nicht auch allemal in eine schöne Form gekleidet sei.

»Das ist wahr«, sagte Erik, und klappte seinen Spengler zu. »Ich wollte dir ja noch den Schlüssel zum Wrack geben.«[77]

Niels machte eine tiefsinnige, abwehrende Bewegung, aber Erik hängte ihm trotzdem den Schlüssel zu einem kleinen Vorlegeschloß an einem breiten, schwarzen Bande um den Hals. »Wollen wir hingehen?« fragte er.

Und sie gingen. Am Gartenzaun fanden sie Frithjof, er lag im Grase, aß unreife Stachelbeeren und hatte Abschiedstränen in den Augen. Trotzdem war er beleidigt, daß sie ihn nicht früher aufgesucht hatten. Er kam sonst freilich immer von selber, aber an einem Tage wie heute, meinte er, müsse man die Form etwas mehr beobachten als gewöhnlich. Schweigend hielt er ihnen eine Handvoll von den grünen Früchten hin; sie aber hatten ihre Lieblingsgerichte zu Mittag bekommen und waren wählerisch.

»Sauer«, sagte Erik und schauderte.

»Ungesundes Zeug«, fügte Niels überlegen hinzu und sah auf die dargebotenen Beeren herab. »Wie kannst du das nur essen? Wirf den Schund weg, wir wollen zum Wrack hinunter«; und dabei zeigte er mit dem Kinn auf das Schlüsselband, denn die Hände hatte er in den Hosentaschen.

Und dann gingen die drei miteinander an den Strand.

Das Wrack war eine alte, grün angemalte Schiffskajüte, die einmal auf einer Strandauktion gekauft worden war und die, während der Damm gebaut wurde, zum Aufbewahren der Gerätschaften gedient hatte; jetzt wurde sie nicht mehr benutzt, und die Knaben hatten Besitz davon ergriffen. Sie bewahrten dort ihre Fahrzeuge,[78] ihre Flitzbogen, ihre Springstöcke und andere Herrlichkeiten auf, namentlich solche verbotene, aber unentbehrliche Dinge wie Pulver, Tabak und Schwefelhölzer.

Mit einem gewissen feierlichen Ernst öffnete Niels die Tür der Kajüte, und sie gingen hinein und suchten ihre Sachen aus den dunkeln Winkeln des leeren Kojenraumes zusammen.

»Wißt ihr was!« sagte Erik, dessen Kopf in einer der entferntesten Ecken steckte, »ich will mein Schiff in die Luft fliegen lassen.«

»Meins und Frithjofs auch«, sagte Niels und begleitete seine Worte mit einer feierlichen, beschwörenden Bewegung der Hand.

»O bewahre, meins nicht!« rief Frithjof, »womit sollten wir denn wohl segeln, wenn Erik fort ist?«

»Das ist wahr«, sagte Niels und wandte sich verächtlich von ihm ab.

Frithjof fühlte sich ein wenig ungemütlich, als aber die anderen hinausgegangen waren, suchte er sich doch ein etwas sicheres Versteck für sein Fahrzeug aus.

Draußen legten sie das Pulver in einem teergetränkten Nest von Hede in die Schiffe, machten die Lunten zurecht, setzten die Segel auf, zündeten dann an und sprangen zurück. Und dann liefen sie am Strand entlang und machten der Mannschaft an Bord Zeichen und erklärten einander mit lauter Stimme die zufälligen Wendungen und Bewegungen des Schiffes als Beweise für die nautische Intelligenz des tapferen Kapitäns.[79]

Aber die Schiffe trieben bei der Landzunge auf den Strand, ohne daß die erwünschte Explosion stattgefunden hatte, und dadurch erhielt Frithjof Gelegenheit, edelmütigerweise die Wattierung seiner Mütze zu opfern, damit aus ihr neue und bessere Lunten hergestellt würden.

Mit vollen Segeln standen die kleinen Schiffe vor Seelands Sandbank, die schweren Fregatten der Engländer näherten sich langsam in undurchdringlicher Kette, während der glänzend weiße Schaum unter den schwarzen Bugen zischte und die Kanonen die Luft mit ihrem lauten Gedröhn erfüllten. Näher und immer näher; blau und rot leuchtete es, goldig schimmerte es von »Albions« und »Conquerors« riesigen Gallionen. Die grauen Segelmassen bedeckten den Horizont, Pulverdampf rollte in weißen Wolken daher und trieb als schleierhafter Nebel dicht über der blanken, sonnenspiegelnden Wasserfläche dahin. Da flog das Verdeck von Eriks Fahrzeug mit einem schwachen Knall in die Luft, die Hede geriet in Brand, die rote Lohe schlug empor, und an Rahen und Masten hinauf züngelten die Flammen, fraßen sich langsam durch die Einfassung der Segel und schlugen dann gleich langen Blitzen in das Segeltuch, das sich brennend aufrollte und krümmte und dann endlich in großen, schwarzen Fetzen weit hinaus über das Meer flatterte. Noch wehte der Danebrog von der schlanken Spitze des wolkenhohen Schonermastes, die Flaggenschnur war verbrannt, er flatterte wild, als schlüge er kampfbereit die roten Schwingen; aber die Flammen strichen in wilder[80] Lohe darüber hin, und ohne Steuer und ohne Lenker trieb jetzt das rauchgeschwärzte Schiff dahin, tot und willenlos, ein Spielball der Winde und der Wogen des Strandes.

Niels Fahrzeug wollte nicht so gut brennen; das Pulver hatte zwar gefangen, und der dichte Rauch war aufgestiegen, aber das war auch alles, und das genügte nicht.

»Hallo, ihr Männer!« rief Niels von der Landzunge aus, »bohrt das Schiff in den Grund! schießt mit den Steuerbordkanonen durch die Achterluken!« In demselben Augenblick bückte er sich nach einem Stein: »Gebt Feuer!« und der Stein entflog seiner Hand.

Erik und Frithjof waren auch nicht träge, und so war denn das Fahrzeug bald zertrümmert, und Eriks Wrack ebenfalls.

Sorgfältig wurden die Trümmer ins Trockene gebracht, denn nun sollte ein Scheiterhaufen angezündet werden.

Aus den Schiffstrümmern, aus trockenem Tang und welkem Gras war denn auch bald ein brennender, qualmender Haufen aufgeschichtet, und die kleinen Kieselsteine und Muscheln, die sich im Tang befanden, knackten und sprangen lustig in der starken Hitze.

Eine Zeitlang saßen die Knaben regungslos vor dem Scheiterhaufen, aber plötzlich sprang der noch immer finstere Niels auf und holte seine sämtlichen Sachen aus dem Wrack, zerbrach sie in kleine Stücke und warf diese ins Feuer. Dann holte Erik die seinen, und auch Frithjof holte etliches herbei. Nun schlugen die Flammen des Opferfeuers hoch in die Luft. Erik aber fürchtete, daß[81] man den Schein möglicherweise vom Felde aus sehen könne, deswegen fing er an, das Feuer mit feuchtem Tang zu dämpfen, während Niels ruhig dastand und schwermutsvoll dem am Strande dahintreibenden Rauch nachstarrte. Frithjof hielt sich ein wenig entfernt von den anderen und summte einen Heldengesang vor sich hin, den er hin und wieder heimlich mit wilden Bardengriffen in die Saiten einer unsichtbaren Harfe begleitete.

Allmählich erlosch das Feuer, und Erik und Frithjof gingen heimwärts, während Niels zurückblieb, um das Wrack zu schließen. Als das geschehen war, sah er sich sorgfältig nach den anderen um und warf dann den Schlüssel mit dem Bande weit hinaus ins Meer. Erik, der sich gerade in dem Augenblick umwandte, sah den Schlüssel fallen, aber hastig drehte er den Kopf um und fing an, mit Frithjof um die Wette zu laufen.

Am nächsten Tage reiste er ab.

In der ersten Zeit wurde Erik schmerzlich vermißt, denn für die beiden Zurückbleibenden war alles gleichsam stehen geblieben. Das Leben hatte sich nach und nach unter der Voraussetzung gestaltet, daß drei da waren, um es zu leben. Drei, das war Gesellschaft, Abwechslung, Mannigfaltigkeit – zwei, das war Einsamkeit, und nichts weiter. Was in aller Welt sollten sie nun anfangen?

Konnten etwa zwei nach der Scheibe schießen oder Ball spielen? Sie konnten Robinson Crusoe und Freitag sein; ja, das konnten sie, wer aber sollte die Wilden vorstellen?[82]

Und diese Sonntage! Niels war so lebensüberdrüssig, daß er erst anfing, zu repetieren, und dann mit Hilfe von Herrn Bigums großem Atlas seine geographischen Kenntnisse weit über die vorgeschriebenen Grenzen bereicherte. Schließlich begann er, die ganze Bibel durchzulesen und ein Tagebuch zu führen; Frithjof dagegen suchte in seiner völligen Verlassenheit einen entwürdigenden Trost darin, daß er mit seinen Schwestern spielte.

Allmählich trat die Vergangenheit mehr in den Hintergrund, und die Sehnsucht wurde milder; sie kam wohl noch an stillen Abenden, wenn das Sonnenrot die Wände der einsamen Kammer beleuchtete, das ferne, einförmige Rufen des Kuckucks verstummte und das Schweigen noch tiefer und größer wurde – dann konnte die Sehnsucht kommen und alles reizlos machen und sich erschlaffend auf die Sinne legen; aber sie schmerzte nicht mehr, sie kam so leise, sie ließ sich so sanft herab, daß sie bald süß war, wie ein gestillter Schmerz.

Ebenso verhielt es sich mit den Briefen. Im Anfang waren sie voller Klagen, voller Fragen und Wünsche, die sich lose aneinander reihten; aber mit der Zeit wurden sie länger, beschäftigten sich mehr mit dem Äußeren und erzählten, und dann waren sie stilvoll, sauber geschrieben, und es lag eine gewisse Freude darin, daß man die Gefühle so gut zwischen den Zeilen verbergen konnte.

Es war ja auch ganz natürlich, daß jetzt wieder manches zum Vorschein kam, was sich während Eriks Anwesenheit nicht ans Tageslicht gewagt hatte. Die Schwärmerei[83] streute ihre Flitterblumen in die langweilige Stille des ereignislosen Lebens herab, die Traumluft legte sich über die Sinne, reizte und zehrte mit ihrem Duft des des Lebens und dem feinen, im Tode verborgenen Gift ihrer lebensdurstigen Ahnungen.

Und so wächst denn Niels allmählich heran, und alle Kindheitseinflüsse hinterlassen ihre Spuren in dem weichen Ton, alles bildet, alles hat Bedeutung, das Wirkliche wie das nur Geträumte, das Gewußte und das Geahnte, das hinterläßt alles seine leichten, aber sichergezogenen Linien, welche noch entwickelt und vertieft werden und dann abgerundet und ausgelöscht werden sollen.

Quelle:
Jacobsen, J[ens] P[eter] : Niels Lyhne. Leipzig [o. J.], S. 72-84.
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