7. Hundposttag

[566] Der große Pfarr-Park – Orangerie – Flamins

Standes-Erhöhung – Fest-Nachmittag der

häuslichen Liebe – Feuerregen – Brief an Emanuel


Den Lord ausgenommen, sitzt schon alles im Pfarrgarten und passet auf mich; aber den Garten kennt noch kein Henker. Er ist eine Chrestomathie von allen Gärten, und doch nicht größer als[566] die Kirche. Viele Gärten sind wie er zugleich Küchen-, Blumen-, Baumgärten; aber er ist noch ein Tiergarten – wie er denn die ganze Fauna von St. Lüne enthält – und noch ein botanischer – mit der vollständigen Flora des Dorfs ist er bewachsen – und ein Bienen- und Hummelgarten – sooft sie gerade hineinfliegen. Indessen sollte man doch solche kleinere Vorzüge gar nicht namhaft machen, wenn ein Garten wie er einmal den hat, daß er der größte englische ist, durch den je ein Mensch schritt. Er verbirgt nicht nur sein Ende – wie jeder Park gleich jeder Kasse tun muß –, sondern auch seinen Anfang und scheint bloß die Terrasse zu sein, von der man in das hineinsehen kann, was man nicht übersehen, aber wohl wie Cook umfahren kann. Im englischen Pfarrgarten sind nicht einzelne Ruinen, sondern ganze zerschlagene Städte, und die größten Fürsten haben sich um die Wette beeifert, ihn mit romantischen Wüsten und Schlachtfeldern und Galgen zu versorgen, an die noch dazu (das treibt die Täuschung höher) wahre Spitzbuben gebunden sind als Fruchtgehänge. – Die Gebäude und Gesträuche verschiedener Weltteile sind darin nicht in eine widersinnige Nachbarschaft zusammengetrieben, sondern durch ordentliche Meere oder Wasserpartien nett auseinander gestoßen, welches bei dessen Größe leicht gewesen, da er über neun Millionen Quadratmeilen hält – und mit welchem Geschmack überhaupt diese Massen aneinander gelagert sind, mögen die Leser daraus ermessen, daß alle Lords und alle Rezensenten der Literaturzeitungen und die Leser selber in den Garten gezogen sind und oft sechzig Jahre darin bleiben. –

Der Pfarrer denkt, mit ihm auch als holländischem Garten einige Ehre einzulegen, besonders durch eine Perücke aus Wasser, die nicht an einem Perückenstock, sondern an einem Blechaufsatze hangt, und die so lockig springt, daß schon mehre Stadtpfarrer wünschten, sie könnten sie aufsetzen. Schmetterling-Glaskästen wendeten die Nachtkälte von frühzeitigen Rosen aus Seide ab und von Frühgurken aus Wachs. Gurken, die aus wahren Gurken bestanden, legte er unter allen Pastoren am frühesten ein, um in die Angst zu geraten, sie könnten erfrieren; denn diese Angst mußt' er haben, um sich zu freuen, wenn eine Glasflasche[567] in seinem Hause zerbrochen wurde: er konnte dann den Eis- oder Glasberg, der in den Weinen leider jährlich mit unserem Durste steigt, in den Garten tragen und mit dieser Mistglocke die Herzblätter überbauen. – Um wichtigere Beete führte er einen bunten musivischen Scherbenrand; seine Familie war seine Rändelmaschine, ich meine, sie mußte ihm die wenigen Porzellantassen zerbrechen, die er brauchte, um mit diesem bunten Streuzucker ansehnlichere Partien zu heben, wie ein Fürst sich mit den bunten, durch die Knopflöcher seiner Vorzimmer gezognen Ordensbändern einfasset und beringet. Da er die Tassen nicht ganz um die Beete setzen konnte, sondern erst durch seine Scheidekünstler zerlegt: so muß ein Rezensent, der bei ihm isset, meinen Wink benutzen, um sichs zu erklären, wenn ein solcher Lungensüchtiger nicht vor Zorn außer sich ist, sobald sehr kostbares Geschirr zerbrochen wird; denn bloß bei elendem ist er seiner nicht mächtig. Jede Ehefrau sollte ein solches Beet als Arndts Paradiesgärtlein, als Schädelstätte für Porzellan von geänderter Façon abstechen, zum Besten ihrer Seele, um bei Sinnen zu bleiben, wenn eine Tasse fällt – »Schatz!« würd' ich sagen, »halte dieses Unglück wie eine Christin aus, es nützt dir entweder dort in der Ewigkeit oder hier – im Garten.«

Nahe an einem Hause nehmen sich die holländischen Gartenschnörkel mit ihrer häuslichen Winzigkeit besser aus als die erschütternde Natur mit ihrer ewigen Majestät. Eymanns geschnitzter Pfarrgarten war im Grunde bloß eine fortgesetzte Wohnstube ohne Dach und Fach.

Als der Pfarrer unsern Viktor im Garten herumzerrete, hätte der Gast beinahe vergessen, das Ideenmagazin im Garten zu loben, bloß weil er zu neugierig und zu warm der Ankunft Klotildens und ihrem Benehmen gegen seinen Freund entgegensah Zum Glücke fiel es ihm ein, daß der Pfarrer auf Räuchopfer und Räuchfässer sich spitze; er hinterging ein Lorbeer-hoffendes Herz so ungern, daß er sich eben darum gern zu Personen von einigem Werte hielt, um seinem menschenfreundlichen Hange, zu loben, ohne Kosten der Wahrheit nachzugeben.

Viktor freuete sich auf Flamins und Klotildens Zusammenkommen:[568] wie schön, dacht' er, wird auf sein und ihr stolzes Gesicht der Mondschein der weichen Liebe fallen! – Und er hielt eine reichliche Duldung und Liebe für ihre Liebe vorrätig. Denn er hatte nicht nur so viel Einsicht in die Flucht unsrer Freuden, daß er kaum über die tollsten zankte: sondern er konnte auch dem Handwerkgruß (oder der Methodologie) zweier Liebenden mit Vergnügen beiwohnen. »Es ist sehr toll« – sagt' er in Göttingen – »jeder gute Mensch tut seine Arme teilnehmend auf, wenn er Freunde oder Geschwister oder Eltern in den ihrigen sieht; wenn aber ein Paar verliebte Schelme vor uns am Seile der Liebe herumtanzen, und wär's auf dem Theater, so will kein Henker Anteil nehmen – sie müßten denn in einem Romane tanzen. Warum aber? – Sicher nicht aus Eigennutz, sonst bliebe das hölzerne Herz im Menschenklotz auch bei fremder Freundschaft, bei kindlicher Liebe fest genagelt – sondern weil die verliebte Liebe eigennützig ist, sind wirs auch, und weil sie im Roman es nicht ist, sind wirs auch nicht. Ich meines Orts denke weiter und mache mir von jedem verliebten Gespann, das mir begegnet, weis, es wäre gedruckt und eingebunden, und ich hätte es vom Bücherverleiher für schlechtes Lesegeld. Es gehört zur höhern Uneigennützigkeit, sogar mit dem Eigennutz zu sympathisieren. – Und vollends mit euch armen Weibern! Wüßtet ihr oder ich denn in eurem vernähten, verkochten, verwaschnen Leben oft, daß ihr eine Seele hättet, wenn ihr euch nicht damit verliebtet? Manche von euch brachte in langen Tränenjahren ihr Haupt nie empor als am sonnenhellen kurzen Tage der Liebe, und nach ihm sank das beraubte Herz wieder in die kühle Tiefe: so liegen die Wasserpflanzen das ganze Jahr ersäuft im Wasser, bloß zur Zeit ihrer Blüte und Liebe sitzen ihre heraufgestiegenen Blätter auf dem Wasser und sonnen sich herrlich und – fallen dann wieder hinab.«

Endlich trat Klotilde mit der Pfarrerin in einem Gespräche herein. Sie hatte einen Florhut mit einem schwarzen Spitzen-Fallgitter auf, das mit einem durchbrochnen Schatten ihr schönes Angesicht zugleich verschönerte, teilte und verbarg. Aber ihr Auge vermied Flamins Auge und schlich ihm nur zuweilen denkend nach. Er bewies, daß gerade Leute vom größten Mute den kleinsten[569] gegen Schönheit zeigen – er tat ihr nicht einen Schritt entgegen. Sie fragte unsern Viktor angelegentlich über die Ankunft und über das Befinden des Lords. Sie legte ihm dann mit der gewöhnlichen medizinischen Unbestimmtheit ihres Geschlechts die Frage vor, ob eine solche Operation öfters so leicht gerate, und ob er vielen schon so viel wiedergegeben als seinem Vater; er verneinte beides, und sie seufzete unverhohlen. Seine ehrerbietige Entfernung von ihr wäre durch die, worin sein Freund sich von ihr hielt, größer geworden, hätt' er ihr nicht etwas zu geben gehabt – Emanuels Zettel. Er konnte ihn nicht stehlen, da er ihr neulich schon die erste Zeile vorgesagt; zweitens mußt' er ihn unter vier Augen – nicht z.B. durch Agathen – zustellen, weil er ihre bis an die äußerste Grenze getriebne Diskretion kannte. Klotilde gehörte unter die – dem Lebensbeschreiber und dem Helden beschwerlichen – Personen, die gern alles Kleine verbergen, z.B. was sie essen, wohin sie morgen gehen, die auf den Freund toll werden, wenn er ausplaudert, sie hätten voriges Jahr am Thomastage leichte Kopfschmerzen gehabt. Bei Klotilden kams nicht von Furcht, sondern von der dunkeln Ahndung, daß der, der gleichgültige Mysterien ausschwatze, endlich wichtige sage. Er fühlte, ihres Stolzes ungeachtet, gegen sie einen mächtigen Zug zur Aufrichtigkeit. Er führte sie allein dem Pomeranzenbaume zu und gab ihr dort – indem er ihr durch seine offenherzige Leichtigkeit die beschwerliche Verbindlichkeit für ein Geheimnis ersparte – das Blatt zurück. Sie erstaunte, sagte aber sogleich: ihr Erstaunen gehe bloß ihre eigne Nachlässigkeit an – d.h. sie glaubte ihm, hatt' aber irgendeinen Verdacht gegen ihre Schloßgenossen und gegen die Art, wie es in die Laube gekommen. Sie machte sich die Orangerie zunutze und drängte ihr beseeltes Angesicht in die Pomeranzenblüten. Viktor konnte unmöglich so dumm allein dort stehen – er, noch ein wenig betroffen über das Erstaunen und am Ende über einen fast zu großen Stolz, wurde auch lüstern nach dem Pomeranzenweihrauch und hielt ihr darin sein Gesicht entgegen. Er hätte aber wissen sollen, daß einer, der an etwas riecht, nicht auf das Etwas blicke, sondern geradeaus. Er war also kaum mit seinen Geruchnerven in den Blüten, so schlug er seine Augen[570] auf, und Klotildens große standen ihm offen entgegen; sie waren gerade in der wirksamsten und höchsten Erhebung von 45°, man mag nun Augen oder Bogenschüsse meinen. Er drehte seine Augäpfel gewaltsam auf die Blätter nieder, sie trat, noch klüger, von der betäubenden Orangerie zurück.

Gleichwohl war sie nicht verlegen; er hielt es für Unrecht gegen Flamin, ihre Gesinnungen gegen ihn selber zu beobachten; aber so viel merkte er doch, daß die Sternwarte, auf der man die Sternbedeckungen ihres Herzens beobachten wollte, höher sein müsse, als gegen andre Weiber nötig ist. Die Gewohnheit, bewundert zu werden, hatte sie gegen die Vorspieglung des Eindrucks ihrer Reize, mit der sich die Männer so oft die Aufmerksamkeit der weiblichen Eitelkeit erwerben, fest gemacht. Sie war, wie gesagt, nicht verlegen: sondern erzählte ihrem Zuhörer noch etwas von Emanuels Charakter, was sie neulich vor so unheilige Ohren aus Achtung für ihren Lehrer nicht bringen wollte – daß er nämlich gewiß glaube, er werde nach einem Jahre in der Johannis-Mitternacht sterben. Viktor konnte leicht erraten, daß sie es selber glaube; aber das erriet er nicht, daß diese Stolze aus bloßer Weichheit des Herzens ihren Termin, zu Johannis aus Maienthal zu ziehen, beschleunigt habe, um nicht dem geliebten Menschen an dem Namentage des künftigen Sterbetages zu begegnen. Zufolge ihrer Erzählung hatte dieser Emanuel eine hart erhabne Stellung unter den Menschen: er war allein, an seiner Brust waren große Freunde gewesen – aber alles war ihm unter die Erde gegangen – darum wollt' er auch sich darunter verhüllen. Die Jahre geben den stürmischen überkräftigen Menschen eine schönere Harmonie des Herzens, aber den verfeinerten kalten Menschen nehmen sie mehr, als sie geben; jene Kraftherzen gleichen den englischen Gärten, die das Alter immer grüner, voller, belaubter macht; hingegen der Weltmann wird, wie ein französischer, durch die Jahre mit ausgedorrten und entstellten Ästen überdeckt.

Viktor wurde ängstlicher; jedes Wort, das er ihr abgewann, hielt er für Tempelraub an seinem Freund, da ohnehin der letzte nicht so gut als er die Kunst verstand, mit einer Frau in ein Gespräch zu kommen. Jener hatte nicht den Mut zu glänzen, weil[571] er dadurch um ihren Beifall mit seinem Freunde zu wetteifern besorgte. Sein Flamin kam ihm heute länger, schöner, besser vor; und er sich kürzer und dümmer. Er wünschte tausendmal, sein Vater wäre schon da, damit er ihm Flamins Bitte, ihm Klotildens Besitz leichter zu machen, mit dem größten Feuer übergeben könnte.

Endlich kam er, und Viktor atmete wieder voll. Der gute Mensch sucht oft durch aufopfernde Taten sein Gewissen wieder mit seinen Gelenken auszusöhnen. Mit herzklopfendem Enthusiasmus wartete er auf die Minute der Einsamkeit. Ein Garten vereinzelt und verbindet Leute auf die leichteste Weise, und nur darin sollte man Geheimnisse verteilen; Viktor konnte bald in einer Laube, die sich an vier Kastanienbäumen mit Blüten-Geäder über den Menschen zusammennistete, mit gerührtem Zittern seinen Vater umfassen und für seinen Freund sprechen und glühen mit Zunge und Herz. Des Lords Überraschung war größer als dessen Rührung. »Hier« (sagt' er) »ist deine Bitte auf eine andere Art längst erfüllt; ich wollte dir aber das Vergnügen der Botschaft aufheben« – und damit gab er ihm ein allerhöchstes Handbillet, worin der Fürst den praktizierenden Advokaten Flamin zum Regierungrat beruft.

Ein allerhöchstes Handbillet ist das Tetragrammaton und Gnadenmittel, das die übernatürlichen Wirkungen und Staats-Wunder tut; und der durchlauchtige Schreib-Daumen ist gleichsam ein zauberischer Diebs-Daumen, der die verschiedenen Räder der Staats-Repetieruhr, das Heberad, das Zifferblattrad, oft bloß den Zeiger voraus- oder zurückstößet, je nachdem er eine Stunde früher oder später begehrt. Daher steigen oft Minister hinauf und schneiden sich einen solchen Diebs-Daumen für ihre Taschen ab.

Sebastian wird von der Freude wie von Habakuks Engel beim Schopfe erfaßt und durch den Garten geführt und mit seiner Novelle an den ersten besten getrieben – an den Kaplan, welcher mit einem närrischen Gesicht beschwor, es wären nur Finten von Viktor; aber der verhaltene Jubel sprengte ihm fast die zugebundene Ader auf. Viktor hatte keine Zeit, zu widerlegen; sondern eilte mit einer solchen Botschaft an das rechte Herz, in das sie gehörte[572] – ans mütterliche. Die Mutter konnte ihren Mund zu nichts als einem seligen Lächeln öffnen, in das die Augen ihre Freudentropfen gossen. In der Natur ist keine Freude so erhaben rührend als die Freude einer Mutter über das Glück eines Kindes. Aber der Sohn, in dessen heutiger Seele dieser Sonnenblick des Schicksals nötig war, wurde in der Überraschung nicht sogleich gefunden.

Der Lord sprach unterdessen mit Klotilden wie mit seiner Tochter und gab ihr einen Brief von ihrer Mutter und die Nachricht seiner nahen Abreise. Sein von Achtung geleitetes und von Feinheit verschönertes männliches Wohlwollen veredelte ihre Aufmerksamkeit auf seine Mienen, und als sie aus dem warmen leisen Gespräch mit glänzenden Augen ging, war ihre hohe Gestalt, die sich sonst ein wenig bückte, von einer Begeisterung zum erhabnen Wuchse aufgerichtet, und sie stand unendlich schön in dem Tempel der Natur, wie eine Priesterin dieses Tempels. – Der Lord entfernte sich von ihr. – Sie fand Flamin am Tulpen- K, und die Göttin des Glücks erschien ihm in der holdesten menschgewordnen Gestalt, um ihm ihr Geschenk zu liefern. Freilich setzte ihn hier die Zeitung und die Zeitungträgerin in gleiches Entzücken.

Die Freude hatte den ganzen Bienen-Garten in einem Schwarmsack zum Chaos zusammengerüttelt. Die schäumende Weingärung mußte sich erst zum hellen stillen Entzücken abarbeiten. Der Lord ging der mit so vielen Ripienstimmen besetzten Dankbarkeit aus dem Wege und an seinen Wagen, als ihn die Mutter mit ihrer stummen Herzensfülle erreichte; aber sie konnte nichts aus der froh beschwerten Brust auf die Lippen heben als die demütigen Worte: »heute sei sein Geburttag, und sein Sohn wiss' es nicht und habe auch mit einer Entzückung überrascht werden sollen.« Er wollte ihr mit einem dankbaren Lächeln entfliehen und sagte, daß er zum Fürsten zurückzueilen habe, der vielleicht auf eben diesen Tag eine so gütige Rücksicht genommen wie sie; allein Sebastian holte mit dem gefundnen Freund ihn an der Gartenschwelle ein, und der eilende Lord verspätete sich noch durch eine schnelle Umarmung seines Sohnes. Erst als er weg war, faßte die Mutter, die ihre Liebe zu entladen suchte, Viktors Hand zärtlich[573] an und vergaß die Abrede und fragte: »O Teuerster! warum haben Sie ihm denn nicht Glück gewünscht zu seinem Geburttage? Denn ich konnte ja nicht.« Jetzo verstand und fühlte er erst die schnelle Umarmung des Vaters und breitete die Arme nach ihm aus und wollte sie erwidern.

Darüber traf auch der alte Pfarrer aus dem Garten ein und sagte wie närrisch: »Ich wollt', er wäre Regierungrat«; aber die Frau sagte, ohne darauf zu antworten, mit überfließender Stimme und Liebe zu ihm: »So ein Wiegenfest hast du noch nicht erlebt wie heute, Peter!« Agathe sah sie fragend und zurechtweisend an. »Fahre nur damit heraus«- sagte sie und umfing die zwei Kinder und zog beide in die väterliche Umarmung hinein – »und wünscht eurem guten Vater lange Tage und noch drei beglückte Kinder.« –

Der Vater konnte nichts sagen und streckte die Hand nach der Mutter entgegen, um die Gruppe des liebenden Edens zu ründen. Viktors sympathetisches Blut häufte sich in sein Herz, um es in Liebe aufzulösen, und er dachte das stille Gebet: »Reiße nie diese verschlungnen Arme, du Allgütiger, durch ein Unglück auseinander!« – Aber Flamin zog sich bald aus der Verkettung und sagte zu Viktor mit dem dankbarsten Händedruck: »Du weißt nicht, wie unrecht ich dir immer tue.« Der Kaplan dachte, er werde allen seine Rührung verstecken, wenn er sage: »Ich wollt', ich hätt' euch nicht betrogen. – Ich habe zur Ader gelassen, es ist aber dumm – hätt' ichs nur gewußt! – hätt' ichs nur nicht! – Wahrlich, da sehts selber!« – Und als diese Maske nicht hinreichte, seine ganze gerührte Seele zu bedecken, rief er der armen vergessenen Apollonia, die an der Haustür den erwachten Bastian schwenkte, überlaut zu, herzukommen. Allein diese Arme, deren bloß entfernte freudige Teilnahme an der allgemeinen Annäherung unsern Viktor im Innersten rührte, zögerte scheu, bis die Mutter kam und sie schadlos hielt durch alles, was den Müttern nie vergolten wird. Aber erst als die Pfarrerin ihr Kind in ihren Armen und an ihren Lippen hatte, fühlte sie, daß die gefangnen Flammen ihrer Gefühle ihre Öffnung fanden und ihr Herz seine Erleichterung. –

O! daß der Mensch gerade zu der Zeit die schönste Liebe empfängt,[574] wo er sie noch nicht versteht – O, daß er erst spät im Lebensjahre, wenn er seufzend einer fremden Eltern- und Kinderliebe zusieht, hoffend zu sich sagt: »Ach meine haben mich gewiß auch so geliebt« – ach daß alsdann der Busen, zu dem du mit dem Danke für ein halbes Leben, für tausend verkannte Sorgen, für eine unaussprechliche, nie wiederkehrende Liebe eilen willst, schon zerdrückt liegt unter einem alten Grabe und das warme Herz verloren hat, das dich so lange geliebt! ...

In der häuslichen Glückseligkeit sind die windstillen, zwischen vier engen Wänden vorgetriebnen bequemen Freuden nur der zufälligste Bestandteil: ihr Nerven- und Lebensgeist sind die lodernden Feuerquellen der Liebe, die aus den verwandten Herzen ineinander springen. –

Die unwillkürliche Überraschung hatte die willkürlichen vereitelt. Aber die Freudenflut hatte alle Personen zusammengeströmt; und sie blieben noch in der vertraulichen Nähe, als jene wieder verlaufen war. Man setzte sich zum Gastmahl im Gartenhaus. Selten sind Schmäuse so wie dieser durch zwei außerordentliche Vorzüge gewürzt, durch Mangel an Essen und Mangel an Platz. Nichts reizt den Appetit so sehr als die Besorgnis, er finde nicht satt. Es war von Sebastian ausgesonnen, daß für jeden Gast nur das Leibgericht besorgt wurde – für den Pfarrer farcierte Krebse und Erdäpfelkäse – für Flamin Schinken – für den Helden das Gemüse vom guten Heinrich. – Jeder wollte jetzo das Leibgericht des andern, und jeder subhastierte seines. Sogar die Damen, die sonst wie die Fische essen und nicht essen, bissen an. Der zweite berauschende Bestandteil, den sie in ihren Freudenbecher geworfen hatten, war der Tisch samt Gartenstube, wovon jener die Kost, diese die Kostgänger nicht faßte. Sebastian hatte sich samt Agathen an ein Filialtischchen, das man außen ans Fenster des Speisesaales gestoßen, begeben, bloß um draußen mehr hineinzulärmen und zu klagen als zu essen. Dieser Mutwille war im Grunde die verdeckte Bescheidenheit, welche befürchtete, drinnen auf Kosten der andern Gäste, des Lords wegen, gefeiert zu werden. Sein eignes Alleinsein – vielleicht in einem schmerzlichen Sinn – malte ihm die blöde Appel vor, die als Herd-Vestalin erst von zurückgehenden[575] Speisen den Rückzoll aß, bloß um zu versuchen, wie es andern geschmeckt. Er konnte den Gedanken dieser Abtrennung nicht länger erdulden, sondern nahm Wein und das Beste vom Nachtisch und trug es ihr in ihr Küchen-Winterquartier hinein. Da er dabei auf seinem Gesicht statt seiner Munterkeit gegen Mädchen, von der sie eine zu demütige Auslegung hätte machen können, den größten höflichen Ernst ausspannte: so war er so glücklich, einer von der Natur selber zusammengedrückten Seele – die hier in keinem andern Blumentopf ihre Wurzeln herumtreibt als in einem Kochtopf, und deren Konzertsaal in der Küche, und deren Sphärenmusik im Bratenwender ist – einen goldnen Abend gegeben zu haben und ein gelüftetes Herz und eine frohe lange Erinnerung. Kein Boshafter werfe einer solchen guten Schneckenseele seine Faust in den Weg und lache dazu, wie sie sich hinüberquält – und der Aufgerichtete bücke sich gern und hebe sie sanft über ihre Steinchen weg....

Klotilden anlangend, so gings vor dem Essen recht gut; aber nachher recht schlecht. Ich rede von Sebastian, der nach der beim Lord eingelegten Bittschrift froher und leichter war und mit Klotilden wahrhaftig so freimütig sprach, als wäre sie eine – Braut. Denn er hatt' es schon im Hannöverischen gesagt: »es gebe kein langweiligeres und heiligeres Ding als eine Braut, besonders eines Freundes seine; lieber woll' er an die mürben Pandekten in Florenz oder an einen Wiener heiligen Leib im Glasschrank streifen und tippen als an sie.« – Überhaupt wars schwer, sich in Klotilde zu verlieben; ich weiß, der Leser hätt' es nicht getan, sondern sich kalt wieder fortgemacht. »Ihre griechische Nase unter der fast männlich breiten Stirne«, hätt' er gesagt, »– diese Schwester-Nase aller Madonnen und dieses seltne Grenzwildpret auf deutschen Gesichtern –, ihre stillen, aber hellen Augen, die außer sich nichts suchen, dieser britische Ernst, diese harmonische denkende Seele erheben sie über die Rechte der Liebe. – Wenn diese majestätische Gestalt auch lieben wollte: wer hätte den Mut, ihr seine darauf zu bieten, und wer wäre so eigennützig, um das Geschenk eines ganzen Himmels einzustecken, oder so stolz, um sein Herz als Dampfkugel in ihres zu schießen und damit diese stille[576] sinnende Heiterkeit zu benebeln?« – Der Leser lieset sich selber gern. –

Aber nach dem Essen gings anders. Unter Viktors Gehirnhäuten hatte irgendein Poltergeist im innern Schriftkasten alle Lettern seiner Ideen so untereinander geworfen, daß er bisher lustig, aber unzufrieden war – er hatte versucht, Agathens Haare auf- und abzulocken, ihre Doppelschleifen in ungleiche und eben darum wieder in gleiche Hälften zu zerren – aber es hatt' ihm nicht wie sonst gefallen – die heutigen Zwischenspiele der häuslichen Liebe hatten seine ganze scherzende Seele aus den Fugen gezogen, und es war ihm, als wenn er, entfernt von der jetzigen Freude, wenigstens auf einige Minuten froher sein würde in irgendeiner stillen Ecke, und besonders sehnt' er sich, die Sonne untergehen zu sehen. – –

Dazu kam noch mehr: der Anblick von Klotildens wärmerer Liebe gegen Agathe – der Anblick seines Freundes, der durch seine schweigende Zärtlichkeit, durch seine mildere Stimme, durch eine an heftigen Menschen so unwiderstehliche Ergebenheit jedem Herzen befahl: liebe mich! – und endlich der Anblick der Nacht...

Er war schon längst traurig, als er noch lustig schien. Jetzo brachte die Mutter den kleinen Held des heutigen Vormittags in den lauen Abendhimmel heraus. Sie standen alle außerhalb der Garten-Stiftshütte, im ersten Tempel des andächtigen Menschen. In die Wolken floß das Abend-Blut der versinkenden Sonne, wie ins Meer das Blut seiner in der Tiefe sterbenden Riesen. Das lockere Gewölke langte nicht zu, den Himmel zu decken; es schwamm um den Mond herum und ließ sein bleiches Silber aus den Schlacken blicken.

Das rote Gewölke schminkte den Säugling. Jeder fassete leise seine weichen Hände, die schon aus der Kissen-Knospe und Wickelbänder-Verpuppung brachen. Klotilde – anstatt an den Kleinen körperliche kokette Liebkosungen zu verschwenden, wie manche Mädchen vor oder für Mannspersonen tun – goß einen fortströmenden Blick voll herzlicher Liebe auf den neuen Menschen nieder, band seine schneidenden Hemd-Ärmel auf, verbauete ihm den angeschielten Mond und sagte spielend: »Lächle[577] her und liebe mich, Sebastian!« Sie konnte unmöglich metaphorische Rikoschet-Schüsse in diese Zeile laden; auch wußte der große uneingewickelte Sebastian recht gut, daß sie keinen Doppelsinn vorausgesehen; ja er kannte die Regel, daß man aus der Ängstlichkeit, womit einige gewisse Gedanken aus ihrem Sprechen bannen, die Gegenwart derselben in ihrem Kopfe errate. Gleichwohl hatt' er doch nicht den Mut, zu lächeln wie die andern, oder das von ihr berührte Händchen in seines zu nehmen. Sie kehrte sich zu ihm und sagte: »Aber wie lernt das Kind unsere Sprache, wenn es nicht schon eine kann?«

»Ich hab' es bloß aus Liebe zu den Weltweisen mit Schwabacher drucken lassen.«

»Also muß«, antwortete er, »die pantomimische Sprache gerade so viel bezeichnen wie die Ohrensprache. – Sooft ich einen Taubstummen zum Abendmahl gehen sehe, denk' ich daran, daß aller Unterricht nichts in den Menschen bringe, sondern nur das Dagewesene bezeichne und ordne. – Die Kindesseele ist ihr eigner Zeichenmeister, der Sprachlehrer der Kolorist derselben.« – »Wie,« fuhr sie fort, »wenn dieser schöne Abend einmal wieder vor die Erinnerung dieses Kleinen käme? Warum sieht das sechste Jahr schöner in der Erinnerung aus als das zwölfte, und das dritte noch schöner?« – Eine schöne Frau unterbricht man nicht so leicht wie einen Exdekan; sie durfte also darauf kommen: »Herr Emanuel sagte einmal, man sollte den Kindern in jedem Jahre ihre vergangnen erzählen, damit sie einmal durch alle Jahre durchblicken könnten bis ins zweite neblichte hinein.« Mir ist, als hört' ich die oben gedachte Hofdame leibhaftig sprechen, unter deren dünnen Blonden mehr Philosophie blieb als unter manchem Doktor-Filzhut, wie Quecksilber im Flor beklebt und durch Leder rinnt. Viktor antwortete mit der gewöhnlichen Teilnahme seines guten Herzens: »Emanuel steht nahe am Menschen und kennt ihn – Den umgaukelten Menschen führen zwei Prospektmalerinnen durch das ganze Theater, die Erinnerung und die Hoffnung – in der Gegenwart ist er ängstlich, das Vergnügen wird ihm nur in tausend lilliputische Augenblicke eingeschenkt wie dem Gulliver; wie soll das berauschen oder sättigen? – Wenn wir uns einen vergnügten[578] Tag vorstellen, so drängen wir ihn in einen einzigen freudigen Gedanken; kommen wir hinan, so wird dieser Gedanke unter den ganzen Tag verdünnt.« –

»Daran denk' ich,« versetzte sie, »sooft ich durch Wiesen gehe: in der Ferne stehen Blumen an Blumen – aber in der Nähe sind sie alle durch Gras auseinander gerückt. – Aber am Ende wird doch auch die Erinnerung bloß in der Gegenwart genossen«.... Viktor dachte bloß über die Blumen nach und sagte vertieft: »Und in der Nacht sehen die Blumen selber wie Gras aus« – als es plötzlich zu tropfen anfing.

Sie traten alle feierlich in das Gartenhaus, auf dessen Dache der Regen aufschlug, indes in die offline Fenster der auf- und zugedeckte Mond wie ein Gletscher seine Schneeblitze hineinwarf- der laue Blüten-Atem der ganzen leuchtenden Landschaft hauchte jeden menschlichen Seufzer, jeden schweren Busen heilend an. – In dieser engen Nähe, durch die mit dem Monde abwechselnde Nacht abgeschieden von der Natur, mußte man zur Nachbarschaft, zum alten Klaviere flüchten. Klotildens Stimme konnte die Flöten-Begleitung des äußern Regen-Gelispels sein. Die Pfarrerin bat sie darum, und zwar um ihre Lieblingarie aus Bendas Romeo: »Vielleicht, verlorne Ruh'! vielleicht find' ich dich im Grabe wieder« etc., ein Lied, dessen Töne wie feine auflösende Düfte in das Herz durch tausend Öffnungen dringen und darin beben und immer stärker beben, bis sie es endlich zerzittern und nichts von ihm in der harmonischen Vernichtung übrig lassen als Tränen.

Klotilde willigte ohne zögernde Eitelkeit in das Singen ein. Aber für Sebastian, in welchem alle Töne an nackte zitternde Fühlfäden schlugen, und der sich schon mit den Gesängen der Hirten auf dem Felde traurig machen konnte, war dieses an einem solchen Abend für sein Herz zu viel: während der musikalischen Aufmerksamkeit der andern mußt' er zur Türe hinausgehen...

Aber hier unter dem großen Nachthimmel können unter höhere Tropfen ungesehen seine fallen – Welche Nacht! – Hier schlägt ein Glanz über ihn zusammen, der Nacht und Himmel und Erde aneinanderreiht, die magische Natur drängt sich mit Strömen ein ins Herz und macht es gewaltsam größer. – Oben füllet Luna die[579] wehenden Wolken-Flocken mit flüssigem Silber an, und die getränkte Silberwolle zittert herab, und Glanzperlen rinnen über glattes Laub und stocken in Blüten, und das himmlische Gefilde perlt und glimmt – – Durch dieses Eden, worüber ein doppeltes Schneegestöber von Funken und von Tropfen zwischen einem Staubregen von Blütendüften spielte und wirbelte, und worin Klotildens Töne wie verirrte Engel sinkend und steigend umherflogen, durch dieses Zauber-Gewimmel wankte Viktor geblendet – überströmt – zitternd – und weinend hin und sank müde in die Laube nieder, wo er heute am Herzen seines Vaters gewesen war. Er überdachte das Winterleben dieses guten Vaters unter lauter Fremdlingen des Herzens und dessen bange Feier des heutigen Tages und den kalten leeren Raum in der väterlichen Brust, den sonst die verlorne Gestalt der Geliebten bewohnet hatte – und er sehnte sich schmerzlich an das Herz der unsichtbaren Mutter. Er hob das angelehnte Haupt in den Regen auf, und aus den weiten offnen Augen fielen fremde Tropfen nicht allein. Er glühte durch sein ganzes Ich, und Nachtwolken sollten es kühlen. Seine Fingerspitzen hingen leise ineinander gefaltet nieder. Klotildens Töne tropften bald wie geschmolzene Silberpunkte auf seinen Busen, bald flossen sie wie verirrte Echo aus fernen Hainen in diesen stillen Garten herein. Er nannte nichts – er dachte nichts – er sprach sich nicht los, er klagte sich nicht an – er sah es wie im Traume, wenn bald eine dicke Nacht über den Garten rannte, bald ein Lichtmeer ihr nachschoß.

Aber ihm war, als wollte seine Brust aufspringen, als wär' er selig, wenn er jetzt geliebte Menschen umschlingen und an ihnen im seligen Wahnsinn seinen Busen und sein Herz zerquetschen könnte. Ihm war, als wär' er überselig, wenn er jetzo vor irgendeinem Wesen, vor einem bloßen Gedankenschatten hingießen könnte all sein Blut, sein Leben, sein Wesen. Ihm war, als müßt' er in Klotildens Töne schreien und die Arme um Felsen drücken, um nur das peinliche Sehnen zu betäuben. – –

Er hörte die Blätter tropfen und hielt es noch für Regen. Aber der Himmels-Staubbach hatte sich versprungen, und bloß Lunens Lichtfall übersprengte noch die Gegend. Der Himmel war tief[580] blau. Agathe hatt' ihn unter dem Regen gesucht, und jetzt erst gefunden. Er wachte auf, ging folgsam und schweigend mit ihr hinaus und begegnete lauter ausgeheiterten Himmels-Gesichtern – da zuckten alle seine Nerven, und er mußte sich mit einer stummen Verbeugung schmerzhaft-freundlich entfernen. Jeder hatte andere Gedanken darüber. Aber die Pfarrerin sagte der Gesellschaft, er höre die Musik gern von ferne, nur mache sie ihn allemal zu melancholisch.

Ach in seinem Zimmer umfing ein glücklicher tröstender Gedanke seine Seele. Klotildens Grablied und alles befestigte die Gestalt des erhabnen Emanuels vor sein Auge – diese schien zu sagen: »In einem Jahre bin ich schon unter der Erde, komme nur zu mir, Armer, ich will dich so lange lieben, bis ich sterbe!« Ohne ein Licht zu begehren, schrieb er mit strömenden Augen, denen ohnehin keines geholfen hätte, dieses Blatt an Emanuel:


»Emanuel!

Sage nicht zu mir: ich kenne dich nicht! – Warum kann der Mensch auf dem schmalen Sonnenstäubchen Erde, auf dem er warm wird, und während der schnellen Augenblicke, die er am Pulse abzählt, zwischen dem Blitze des Lebens und dem Schlage des Todes, noch einen Unterschied machen unter Bekannten und Unbekannten? Warum fallen die kleinen Wesen, die einerlei Wunden haben, und von denen die Zeit das nämliche Maß zum Sarge nimmt, nicht einander ohne Zögern mit dem Seufzer in die Arme: ›Ach wohl sind wir einander ähnlich und bekannt‹? – Warum müssen erst die Fleischstatuen, worein unsre Geister eingekettet sind, zusammenrücken und einander betasten, damit die darin vermummten Wesen sich einander denken und lieben? – Und doch ists so menschlich und wahr: was nimmt uns denn der Tod anders als Fleischstatuen – als das geliebte Angesicht unsern Augen – als die teuere Stimme unsern Ohren und die warme Brust der unsrigen? ... Ach Emanuel! sei für mich kein Toter! Nimm mich an! Gib mir dein Herz! Ich will es lieben! – Ich bin nicht sehr glücklich, mein Emanuel! – Da mein großer Lehrer Dahore – dieser glänzende[581] Schwan des Himmels, der, vom zerknickten Flügelgelenk ans Leben befestigt, sehnend zu andern Schwänen aufsah, wenn sie nach den wärmern Zonen des zweiten Lebens zogen – aufhörte an mich zu schreiben: so tat ers mit den Worten: ›Suche mein Ebenbild! Deine Brust wird so lange bluten, bis du mit einer andern die Narben bedeckst, und die Erde wird dich immer stärker schütteln, wenn du allein stehst – und nur um den Einsamen schleichen Gespenster.‹ – – Emanuel, bist du nicht ruhig und sanft und nachsichtig? – Sehnet sich deine Seele nicht, alle Menschen zu lieben, und ist ihr nicht ein einziges Herz zu enge, in das sie mit ihrer Liebe wie eine Biene in eine eingeschlafene Tulpe eingeschlossen ist? – Hast du nicht satt das Repetierwerk unseres Freuden- und Trauergeläutes, die Familienähnlichkeit aller Abende und Zeiten? – Schauest du nicht von dieser dahingerissenen Erde hinaus auf deinen langen Weg über dir, damit dich nicht ekle und schwindle, wie man eben deswegen aus dem Wagen auf die Straße sieht? – Glaubst du nicht an Menschen, um welche die Bergluft einer höhern Stellung geht, und die oben auf ihrem Berge mitten in einem stillen Himmel stehen und herunterschauen in die Donner und Regenbogen an der Erde? – Glaubst du nicht an Gott und suchst seine Gedanken auf in den Lineamenten der Natur und seine ewige Liebe in deiner Brust? – -Wenn du das alles bist und denkst, so bist du mein; denn du bist besser als ich, und meine Seele will sich heben an einem höhern Freund. Baum des höhern Lebens, ich umfasse dich, ich umstricke dich mit tausend Kräften und Zweigen, damit ich aufsteige aus dem zertretenen Kot um mich! – Ach von einem großen Menschen könnte ich geheilt, gestillet, erquickt, erhoben werden – ich Armer, nur an Wünschen reich – zerrüttet vom Kriege zwischen meinen Träumen und meinen Sinnen – wund hin- und hergeschlagen zwischen Systemen, Tränen und Narrheiten – anekelnd die Erde, die ich mir nicht ersetzen kann, lachend über die weinerliche Komödie bloß aus Jammer, und der widersprechendste, betrübteste und lustigste Schatten unter den Schatten in der weiten Nacht.... O! schöne, gute Seele, liebe mich!

Horion.«[582]


Den Kopf auf die Hand gestützt, ließ er so lange seine Tränen, ohne zu denken und ohne zu sehen, rinnen, bis die Natur ein Ende machte. Dann trat er ans Klavier und sang unter dessen Begleitung die heftigsten Stellen seines Briefes ab; was ihn stark bewegte, trieb ihn allezeit zum Singen an, besonders der Affekt der Sehnsucht. Was kann es uns verschlagen, daß es Prose war?

Bei der letzten Zeile seines Briefgesanges ging langsam die Türe auf: »Du bists?« sagte eine Stimme. »Ach komm herein, Flamin!« antwortete er. »Ich wollte nur sehen, ob du zurück wärest«, sagte Flamin und ging. –

– Ich denke, es ist nötig, daß ich wenigstens folgendes dazwischenwerfe; – daß nämlich Viktor zu viel Phantasie, Laune und Besonnenheit besaß, um nicht, wenn diese drei Saiten zugleich erschüttert wurden, lauter Dissonanzen anzugeben, die bei mehr harmonischen Intervallen dieser Kräfte14 weggeblieben wären daß er daher mehr Neigung zu Schwärmereien und zu Schwärmern hatte als Ansatz dazu – daß seine negativ-elektrische Philosophie mit seinem positiv-elektrischen Enthusiasmus immer um das Gleichgewicht zu kämpfen hatte – und daß aus dem Aufbrausen beider Spiritus nichts wurde als Humor – daß er alle Freuden-Nelken auf dem nämlichen Beete haben wollte, obgleich eine die Farbe der andern verfälschte (z.B. Feinheit und Enthusiasmus, Erhebung über die Welt und Ton der Welt) – daß daraus außer der Laune und höchsten Toleranz auch ein unbewegliches schweres Gefühl der Nichtigkeit unserer vorüberstreichenden und mit einer solchen Kontrarietät der Farben entworfnen innern Zustände werden mußte – und daß er, den der Schlimme für doppelseitig und der Gutmütige für veränderlich hält, nichts zum Schmücken und Ründen seines in so viel Holz versteckten neuen Adams oder Palladiums bedürfe als die Sense der Zeit – Zeit also.[583]

14

Gerade der Besitz ungleichartiger Kräfte in gleichem Grade macht inkonsequent und widersprechend, Menschen mit einer vorherrschenden Kraft handeln gleicher nur nach ihr. In Despotien ist mehr Ruhe als in Republiken; am heißen Äquator ist ein gleicherer Barometerstand als in den Zonen mit vier Jahrzeiten.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 566-584.
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