Zehnter Zettelkasten

[151] Der Thomas- und Geburtstag


Der Autor ist eine Art Bienenwirt für den Leser-Schwarm, dem zu Gefallen er die Flora, die er für ihn hält, in verschiedene Zeiten verteilt und die Aufblüte mancher Blumen hier beschleunigt, dort verschiebt, damit es in allen Kapiteln blühe. –[151]

Die Göttin der Liebe und der Engel des Friedens führten das Ehepaar auf Steigen, die über volle Auen liefen, durch den Frühling und auf Fußpfaden, die in hohen Kornfeldern verborgen waren, durch den Sommer – und der Herbst streuete ihnen, als sie auf den Winter losgingen, seine marmorierten Blätter unter. Und so kamen sie an vor der niedrigen dunkeln Pforte des Winters, voll Leben, voll Liebe, zuversichtlich, zufrieden, gesund und rot.

Am Thomastag hatte Thiennette wie der Winter ihren Geburtstag. Wir wollen gerade, wenn in der nahen Kirche das Singen aufhört, um 9 1/4 in das Pfarrhaus durch die Fenster gucken. – – Es ist nichts darin außer die alte Mutter, die den ganzen Tag, weil sie der Sohn außer Arbeit und zur Ruhe gesetzt, herumschleicht und bohnt und bügelt und scheuert und wischt; – jedes gelockte Stuhlbein und jeder Messingnagel des in Wachstuch gekleideten Tisches gleißet; – alles hängt, wie bei allen Eheleuten ohne Kinder, am rechten Platze, Bürste und Fliegenklatsche und Kalender; – die Sessel sind von der Stuben-Polizei in ihre verjährten Winkel verteilt; – ein mit dem Diadem oder der Schärpe eines himmelblauen Bandes umwickelter Flachsrocken steht am Ritterbette, weil heute am halben Feiertage gesponnen werden kann; – die bänderbreiten Papierabschnitzel, worauf Predigtdispositionen kommen, liegen weiß neben den zugeschnittenen Predigten selber, nämlich neben den Oktav-Heften dazu, denn der Pfarrer und sein Arbeitstisch sind der Kälte wegen aus der Studier- in die Wohnstube heruntergezogen; – seine große Muff-Wamme hängt neben dem reinen Bräutigamsschlafrock – was wir in der Stube vermissen, ist bloß er und sie. Denn er predigte sie heute in die bloße Aposteltagskirche hinein, damit ihre Mutter ohne Zeugen – außer die paar tausend Leser, die mit mir ins Fenster sehen – die Proviantbäckerei und den ganzen Küchenwagen des Geburtsfestes beschicken und das beste Tischzeug und Eingemachte ungesehen auftragen könnte.

Der Seelensorger hielt es für keine Sünde, die Kirchleute so lange zu ermahnen und aufzurichten und zu bedrohen, bis er dachte, die Suppe dampfe über die Teller. Dann führte er die[152] Neugeborne nach Hause und stellte sie plötzlich vor den Altar mit Speisopfer, vor einen süßen Buchdruckerstock aus Brottorte, worauf ihr Name mit echter Mönchsschrift aus Gaumbuchstaben von Mandeln eingebacken war. Im Hintergrunde der Zeit und der Stube verberg' ich gleichwohl noch zwei – Flaschen Pontak. – Wie schnell werden am Strahle der Freuden deine Wangen reif, Thiennette, als dein Eheherr feierlich sagte: »Es ist heute dein Geburtstag, und der Herr segne dich und behüte dich und lasse sein Angesicht über dich leuchten und schenke dir zur Freude deiner Schwiegermutter und deines Mannes insbesondere ein glückliches fröhliches Kindbette, Amen!« – Und da Thiennette sah, daß die alte Frau alles dieses selber gekocht und aufgetragen hatte: so fiel sie ihr um den Hals, als wenn es ihre Mutter gewesen wäre.

Rührung besiegt den Appetit. Aber Fixleins Magen war so stark wie sein Herz, und keine Art Bewegung wurde über seine peristaltische Herr. Getränk ist der Gelenksaft der Zunge, wie Essen ihr Hemmschuh. Aber früher, als bis er manches gegessen und gesagt hatte, schenkt' er nicht ein. Dann hob er die Teich-Docke von Kork aus der Bouteille und ließ den geistreichen Weiher ab. Die sieche Mutter eines noch in ihr Leben gehüllten Menschen heftete in der verlegnen Rührung ihre dankbaren Augen bloß auf die alte Frau und konnte kaum zanken, daß er ihrentwegen in die Stadt zum Weinhändler geschickt hätte. Er nahm in jede Hand für jede, die er liebte, ein Glas und reichte es der Mutter und der Frau und sagte: »Auf dein langes, langes Leben, Thiennette! – Und auf Ihr Wohlergehen, Mama! – Und auf eine recht glückliche Geburt unsers Kleinen, wenn mir Gott einen schenkt!« – »Mein Sohn,« sagte die Kunst-Gärtnerin, »aber auf dein langes Leben müssen wir hauptsächlich trinken, weil wir von dir erhalten werden. – Gott mache dich ja alt!« – fügte sie beklommen hinzu, und ihre Augen verrieten ihr Herz.

Ich habe nie von dem schrankenlosen Flattersinne des weiblichen Geschlechtes eine lebhaftere Vorstellung als zur Zeit, wo eine Frau den Engel des Todes unter ihrem Herzen trägt, und doch in den neun Monaten voll Todesanzeigen keinen größern[153] Gedanken hat als den an ihre Gevattern und an das, was bei der Taufe gekocht werden soll. Aber du, Thiennette, hattest edlere Gedanken, obwohl jene auch mit. – Der noch eingehüllte Liebling deines Herzens ruhte vor deinen Augen wie ein kleiner, auf einen Grabstein gebildeter Engel, der mit seiner kleinen Hand immer auf dein Sterbejahr hinzeigte, und jeden Morgen und jeden Abend dachtest du mit einer Gewißheit des Todes, von der ich die Gründe noch nicht weiß, daran, daß die Erde eine dunkle Baumannshöhle ist, wo das Menschenblut wie Tropfstein, indem es tropft, Gestalten aufrichtet, die so flüchtig blinken, und so früh zerfließen! – Und das wars eben, warum deine Tränen unaufhaltsam aus deinen sanften Augen quollen und alle deine ängstlichen Gedanken an dein Kind verrieten; aber du machtest den traurigen Erguß deines Herzens durch die Umarmung wieder gut, worin du mit neuer entzündeter Liebe an deinen Gatten fielest und sagtest: »Es gehe, wie es will, Gottes Wille geschehe, wenn nur du und mein Kind am Leben bleiben – aber ich weiß wohl, daß du mich, Bester, so sehr liebest wie ich dich.«... Lege deine Hand, Mutter, voll Segen auf sie; und du, gutes Schicksal, ziehe deine niemals ab von ihnen! –

Ich stehe zwar voll Rührung und voll Glückwünsche neben dem Kusse zweier Freundinnen und neben der Umarmung von zwei tugendhaften Liebenden, und aus dem Feuer ihrer Altäre fliegen Funken in mich; aber was ist diese Erwärmung gegen die sympathetische Erhebung, wenn ich zwei Menschen, gebückt unter einerlei Bürden, verknüpft zu einerlei Pflichten, angefeuert von derselben Sorge für einerlei kleine Lieblinge, einander in einer schönen Stunde an die überwallenden Herzen fallen sehe! Und wenn es vollends zwei Menschen tun, die schon die Trauerschleppe des Lebens, nämlich das Alter, tragen, deren Haare und Wangen schon ohne Farbe, deren Augen ohne Feuer sind und deren Angesicht tausend Dornen zu Bildern der Leiden ausgestochen haben, wenn diese sich umfangen mit so müden alten Armen und so nahe am Abhange ihrer Gräber, und wenn sie sagen oder denken: »Es ist an uns alles abgestorben, aber doch unsere Liebe nicht – o wir haben lange miteinander gelebt und[154] gelitten, nun wollen wir auch zugleich dem Tode die Hände geben und uns miteinander wegführen lassen«; – – so rufet alles in uns aus: o Liebe, dein Funke ist über der Zeit, er glimmt weder an der Freude noch an der Rosenwange, er erlischt nicht, weder unter tausend Tränen noch unter dem Schnee des Alters noch unter der Asche deines – Geliebten. Er erlischt nie; und du Allgütiger, wenn es keine ewige Liebe gäbe, so gäb' es ja gar keine!...

Dem Pfarrer ward es leichter als mir, sich einen Übergang vom Herzen zum Magen zu bahnen. Er trug jetzt Thiennetten, deren Stimme sich sogleich erheiterte – indes ihr Auge einmal ums andere zu glänzen anfing –, sein Vorhaben vor, das Frostwetter zu benützen und so viel ins Haus einzuschlachten, als sie haben: »Das Schwein kann kaum mehr aufstehen«, sagt' er und bestimmte den Entschluß der Weiber, ferner den Metzger und den Tag und die Zahl der Schlachtschüsseln: er besprach alles mit einer Pünktlichkeit, mit der die Kriegsinnung (welche den Trokar der überfüllten Menschheit, nämlich das Marsschwert ansetzt) einen Tag vorher zu Werke geht, ehe sie eine Provinz ins Hatz- und Schlachthaus treibt.

Darauf fing er an, ganz froh über Winters-Anfang, der heute um acht Uhr zweiundzwanzig Minuten morgens eingetreten war, zu tun und zu reden, »weil es doch wieder«, sagt' er, »stark aufs Frühjahr losgehe, und man morgen nicht so viel Licht verbrennen dürfe als heute.« Die Mutter fiel ihn zwar mit dem Gewehr ihrer fünf Sinne an; aber er hielt ihr die astronomischen Tabellen entgegen und bewies, die Zunahme des Tages sei ebenso unleugbar als unmerkbar. Letzlich fragte er wie die meisten Amt- und Eheleute nichts darnach, ob ihn seine Weiber fasseten oder nicht, und benachrichtigte sie in juristisch-theologischer Einkleidung: »heute nachmittags schieb' ers nicht mehr auf, sondern halte beim hochpreislichen Konsistorium, welches jus circa sacra habe, um einen neuen Knopf für den Kirchturm an, um so mehr, da er bis auf das Frühjahr eine reichliche milde Beisteuer von der Parochie herausgebettelt zu haben verhoffe.« – »Wenn uns Gott den Frühling erleben lässet« (setzte er äußerst fröhlich hinzu)[155] »und du glücklich niederkommst: so könnt' ich alles so disponieren, daß der Knopf gerade aufgesetzet würde, wenn du deinen Kirchgang hieltest, Alte!«

Darauf rückte er den Stuhl leicht vom Schenk- und Nachtisch an den Arbeitstisch und versaß den halben Nachmittag an der Supplik um den Turmknauf. Da er noch ein wenig Zeit bis zur Dämmerung hatte, so setzte er das Arbeitszeug an sein neues gelehrtes Opus an. Es stand nämlich bei Hukelum im Schnee draußen ein Zehntel von einem alten Raubschloß, das er im Herbste alle Tage wie ein revenant besucht hatte, um es auszuklaftern, ichnographisch zu silhouettieren, jeden Fensterstab und jeden restierenden Anwurf desselben genau zu Papier zu bringen. Er glaubte, er hoffe nicht zu viel, wenn er dadurch – und durch einige Zeichnungen der weniger steil- als waagrechten Mauern – seinem »Architektonischen Briefwechsel zweier Freunde über das Hukelumische Raubschloß« jene letzte Hand und Reife zu erteilen meine, die Rezensenten zufriedenstellet. Denn er hatte gegen die kritischen Reichsgerichte der Rezensenten nichts von derjenigen Verachtung, die einige Schriftsteller wirklich besitzen – oder nur affektieren wie z.B. ich. Aus dem umgefallenen Raub-Louvre wuchsen für ihn mehr Freudenblumen als sonst vielleicht aus dem aufrechtstehenden für den Eigner.

Es ist meines Wissens noch eine unbekannte Anekdote, daß alles dieses niemand zu verantworten hat als Büsching. Fixlein stöberte unlängst in dem Kirchenbriefgewölbe ein Handschreiben auf, worin der Geograph sich Spezialberichte vom Dorfe ausbat. Büsching erwischte freilich nichts – daher mangelt wirklich das ganze Hukelum noch seiner Erdbeschreibung –; aber dieser verpestete Brief steckte Fixleins Herz mit dem anhaltenden Frühlingsfieber der Ruhmsucht an, so daß sein pulsierendes Herz nur mit dem Lukaszettel einer Rezension zu stillen und zu halten war. Mit der Schriftstellerei ists wie mit der Liebe: man kann beide jahrzehentelang zugleich begehren und entraten; ist aber einmal der erste Funke von ihnen in dein Pulverlager gefallen: dann brennts fort bis ans Ende.

Bloß Winters-Anfang wegen mußte heute eine besonders warme[156] Stube gemacht werden, die er wie große Müffe und Bärenmützen mehr liebte, als man dachte. Die Dämmerung, dieses schöne Chiaroscuro des Tages, diesen farbigen Vorgrund der Nacht, dehnte er so lang wie möglich aus, um darin auf Weihnachten zu – studieren; und doch konnt' es seine Frau ohne Bedenken wagen, ihm gerade, wenn er mit dem umgehangenen Säetuch voll göttlichen Worts-Samen die Stube auf- und abging, einen Löffel voll Bieressig vorzuhalten, damit er ihn dem Gaumen anprobierte, ob er abzugießen sei von der Essigmutter. Ließ er denn nicht sogar, ob er gleich Rögner lieber speiste, allemal einen Milchner aus der Heringstonne ziehen, nur der geliebten Frau wegen? –

Jetzt kam Licht; und da gerade der Winter seine Glasmalerei auf den Scheiben anfing, seine Eis-Blumenstücke und seinen Schnee-Baumschlag: so sah der Pfarrer, es sei Zeit, etwas Kaltes zu lesen, was er seine kalte Küche nennte, nämlich die Beschreibung eines entsetzlich-frostigen Landes. Dasmal wars die Wintergeschichte der vier russischen Matrosen auf Nova Zembla. Ich meines Orts hefte im Sommer, wenn der wühlende Zephyr Blütenglocken aufbläht, die Landkarten und Aufrisse von Welsch- und Morgenland noch als neue Landschaften an die, worin ich sitze. Und doch nahm er heute noch die Stadtchronik von Flachsenfingen zur Hand, um mitten unter den Schüssen, Pestilenzen, Hungersnöten, Kometen mit langen Schärpen und dem Rauschen aller Höllenflüsse des dreißigjährigen Kriegs mit einem Ohre nach der Gesindestube hinzuhören, wo man den Krautsalat für seinen Entenbraten zerschneidet.

Gute Nacht, Alter! ich bin matt. Der gute Himmel schicke dir im Frühjahr 1794, wenn die Erde ihre Menschen wie kostbare 30 Nachtraupen auf Blättern und Blumen herumträgt, den neuen Turmknopf und einen dicken wohlgestalteten – Buben dazu![157]

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 4, München 1959–1963, S. 151-158.
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