Vierzehntes Kapitel

[392] Verabschiedung eines Liebhabers – Fantaisie – das Kind mit dem Strauße – das Eden der Nacht und der Engel am Tor des Paradieses


Weder das tiefere Himmelblau, das am Sonnabend so dunkel und einfärbig war als sonst im Winter oder in der Nacht – noch die Vorstellung, heute der trauernden Seele unter die Augen zu kommen, die er aus ihrem Paradiese von dem Sodoms-Apfel der Schlange (Rosa) weggetrieben hatte – noch Kränklichkeit – noch Bilder seines häuslichen Lebens allein: sondern diese Halbtöne[392] und Molltöne insgesamt setzten in unserem Firmian ein schmelzendes Maestoso zusammen, das zu seinem nachmittägigen Besuch seinen Blicken und Phantasien ebensoviel Weichheit mitgab, als er draußen in den weiblichen anzutreffen erwartete.

Er traf das Gegenteil an: in und um Natalien war jene höhere, kalte, stille Heiterkeit, deren Gleichnis auf den höchsten Bergen ist, unter denen das Gewölke und der Sturm liegt, und um welche eine dünnere, kühlere Luft, aber auch ein dunkleres Blau und eine bleichere Sonne ruhen.

Ich tadl' es nicht, wenn ihr jetzo der Leser aufmerksam unter dem Bericht zuhören will, den sie von ihrem Bruch mit Everard erstatten muß; aber der Bericht könnte um einen preußischen Taler – so klein ist erster – herumgeschrieben werden, wenn ich ihn nicht mit meinem vermehrte und ergänzte, den ich aus Rosas eigner Feder abziehe in meine. Der Venner hat nämlich fünf Jahre darauf einen sehr guten Roman – wenn dem Lobe der Allgem. deutschen Bibliothek zu glauben ist – geschrieben, worein er das ganze Schisma zwischen ihm und ihr, die Trennung von Leib und Seele, künstlich einmauerte: wenigstens will man es aus mehren Winken Nataliens schließen. Das ist also meine Vauclusens Quelle. Ein geistiger Hämling wie Rosa kann nichts erzeugen, als was er erlebt, und seine poetischen Fötus sind nur seine Adoptiv-Kinder der Wirklichkeit.

Es ging kürzlich so: kaum waren Firmian und Heinrich das vorigemal unter die Bäume hinaus: so holte der Venner seine Rache nach und fragte Natalien empfindlich, wie sie solche bürgerliche oder verarmte Besuche erdulden könne. Natalie, schon durch die Eiligkeit und Kälte des entflohenen Paars ins Feuer gesetzt, ließ dieses gegen den gelbseidenen Katecheten in Flammen schlagen. Sie versetzte: »eine solche Frage beleidigt fast« – und tat noch ihre hinzu (denn zum Verstellen oder Auskundschaften war sie zu warm und zu stolz): »Sie haben ja selber oft Herrn Siebenkäs besucht.« – »Eigentlich (sagte der Eitle) nur seine Frau; er war bloß Vorwand.« – »So?« sagte sie, und dehnte die Silbe so lang aus wie ihren zornigen Blick. Meyern, erstaunt über diese allem vorigen Briefwechsel widersprechende Behandlung, die er[393] den Zwillingduzbrüdern aufrechnete, und dem jetzo seine körperliche Schönheit, sein Reichtum und ihre Dürftigkeit und Abhängigkeit von Blaise und sein Ehemanns-Näherrecht den größten Mut einflößte, dieser kühne Leue machte sich aus dem nichts, was sich kein anderer erdreistet hätte, aus der erzürnten Aphrodite nämlich, um sie mit seinen Ernennungen zu Cicisbeaten und überhaupt mit seiner Perspektive in hundert für ihn offne Gynäzeen und Witwensitze zu demütigen – er sagte ihr, sag' ich, geradezu: »Es ist so leicht, falsche Göttinnen anzubeten und ihre Kirchentüren zu öffnen, daß ich froh bin, durch Ihre babylonische Gefangenschaft zur wahren weiblichen Gottheit auf immer zurückgeführet worden zu sein.«

Ihr ganzes zerquetschtes Herz stöhnte: »Alles, ach alles ist wahr – er ist nicht rechtschaffen – und ich bin nun so unglücklich!« Aber sie schwieg äußerlich und ging erzürnt an den Fenstern herum. Ihr Geist, der auf der weiblichen Ritterbank saß, den es immer nach ungemeinen, heroischen, opfernden Taten gelüstete, und an dem eine Vorliebe zum gesuchten Großen das einzige Kleinliche war, schlug jetzo, da der Venner auf einmal seine Prahlerei durch einen plötzlichen Übersprung in einen leichten scherzenden Ton vergüten wollte und ihr einen Spaziergang in den schönen Park als einen bessern Ort zum Versöhnen vorschlug122 ein Ton, der auch bei dem kleinen Kriege mit Mädchen mehr richtet und schlichtet als ein feierlicher – ihr edler Geist schlug nun seine reinen weißen Flügel auf und entfloh auf immer aus dem schmutzigen Herzen dieses gebognen, silberschuppigen Hechtes, und sie trat nahe an ihn und sagte ihm glühend, aber ohne einen nassen Blick: »Hr. v. Meyern! nun ists entschieden. Wir sind auf ewig getrennt. Wir haben uns nie gekannt, und ich kenne Sie nicht mehr. Morgen wechseln wir unsere Briefe aus.« Er hätte sich im Besitze dieser starken Seele durch einen feierlichern Ton um mehre Tage, vielleicht Wochen behauptet.

Sie sperrte, ohne ihn weiter anzusehen, ein Kästchen auf und[394] schlichtete Briefe zusammen. Er sagte 100 Dinge, um ihr zu schmeicheln und zu gefallen: sie antwortete nicht einmal. Sein Inneres geiferte, weil er alles den beiden Advokaten schuld gab. Endlich wollt' er die Taubstumme in seiner zornigsten Ungeduld zugleich demütigen und bekehren, indem er sagte: »Ich weiß nur nicht recht, was Ihr Herr Onkel in Kuhschnappel dazu sagen wird; er scheint mir auf meine Gesinnungen gegen Sie einen viel größern Wert zu legen als Sie hier; ja er hält unser Verhältnis für Ihr Glück so notwendig als ich für meines.«

Diese Bürde fiel zu hart auf einen vom Schicksal ohnehin tief zerritzten Rücken. Natalie schloß eilig das Kästchen zu und setzte sich und stützte ihr taumelndes Haupt auf den bebenden Arm und vergoß glühende Tränen, die die Hand umsonst bedeckte. Denn der Vorwurf der Armut fähret aus einem sonst geliebten Munde wie glühendes Eisen ins Herz und trocknet es mit Flammen aus. Rosa, dessen gelöschte Rachsucht der durstigen Liebe wich, und der in selbsüchtiger Rührung hoffte, sie sei auch in einer über ein zertrenntes Band, dieser warf sich vor sie auf die Knie und sagte: »Es sei alles vergessen! Worüber entzweien wir uns denn? Ihre köstlichen Tränen löschen alles aus, und ich mische die meinigen reichlich darein.«

»Oh!« sagte sie sehr stolz und stand auf und ließ ihn knien, »ich weine über gar nichts, was Sie angeht. Ich bin arm, aber ich bleibe arm. Mein Herr, nach dem niedrigen Vorwurfe, den Sie mir gemacht haben, können Sie unmöglich dableiben und mich weinen sehen, sondern Sie müssen fortgehen.« –

Er zog demnach ab, und zwar – wenn man als billiger Mann seine Rückfracht von Körben aller Art und von Maulkörben dazu nachwiegt – wirklich aufgerichtet und aufgeweckt genug. Besonders sticht seine Heiterkeit (wenn ich ihn loben soll) dadurch hervor, daß er sie an einem Nachmittage behalten und mit heimgenommen, wo er mit zwei seiner feinsten und längsten Hebel nicht das Kleinste in Nataliens Herz und Herzohren zu bewegen vermocht. Der eine Hebel war der alte, bei Lenetten angesetzte, in den Spiral- und Schneckenlinien kleiner Annäherungen und Gefälligkeiten und Anspielungen sich wie ein Korkzieher[395] einzuschrauben; aber Natalie war nicht weich und locker genug für ein solches Eindringen. Von dem andern Hebel hätte man etwas erwarten sollen – der aber noch weniger angegriffen und hatte solcher darin bestanden, daß er wie ein alter Krieger seine Narben aufdeckte, um sie zu Wunden zu verjüngen; er entblößte nämlich sein leidendes, von so mancher Fehlliebe verwundetes und durchbohrtes Herz, das wie ein durchlöcherter Taler als Votivgeld an mancher Heiligen gehangen; seine Seele warf sich in allerlei Hoftrauer der Schmerzen, in ganze und halbe, hoffend, im Trauerschwarz wie eine Witib zauberischer zu glänzen. Aber die Freundin eines Leibgebers konnten nur männliche Schmerzen erweichen, weibische hingegen nur verhärten.

Indes ließ er, wie schon angedeutet, die Braut Natalie zwar ohne alle Rührung über ihr Selberopfern, doch auch ohne sonderlichen Ingrimm über ihr Weigern sitzen – zum Henker fahre sie, dacht' er bloß, und er könne sich kaum selig genug preisen, daß er so leicht der unabsehlich-langen Verdrüßlichkeit entgangen, ein dergleichen Wesen jahraus jahrein ausstehen und verehren zu müssen in einer verdammt langen Ehe; – hingegen über alle Maßen entzündete sich seine Leber gegen Leibgeber und vollends gegen Siebenkäs – den er für den eigentlichen Ehescheider hielt –, und er setzte in der Gallenblase einige Steine an und in den Augen einiges Gallen-Gelb, alles in bezug auf den Advokaten, der ihm nicht genug zu hassen war.

Wir kehren zum Samstag zurück. Natalie verdankte ihre Heiterkeit und Kälte zwar ihrer Herzens-Stärke, doch auch etwas den beiden Pferden und beiden Kränzeljungfern oder Rosen-Mädchen, womit Rosa auf die Eremitage gefahren war. Die weibliche Eifersucht wird immer einige Tage älter als die weibliche Liebe; auch weiß ich keinen Vorzug, keine Schwäche, keine Sünde, keine Tugend, keine Weiblichkeit, keine Männlichkeit in einem Mädchen, die nicht dessen Eifersucht mehr entflammen als entkräften hälfe.

Nicht nur Siebenkäs, sogar Leibgeber war diesen Nachmittag, um gleichsam ihre nackte, von ihrem warmen Gefieder entblößte, frierende Seele mit seinem Atem zu erwärmen, ernsthaft[396] und warm, anstatt daß er sonst seine Prämien und Rügen in Ironien umkleidete. Vielleicht macht' ihn auch ihr schmeichelhafter Gehorsam zahmer. Firmian hatte außer diesen Gründen noch die wärmern, daß morgen die Britin kam und diese Gartenlust verdarb oder verbot – daß er, mit den Stichwunden einer verlornen Liebe vertrauter, ein unendliches Mitleiden mit ihren hatte und gern den Verlust ihres Herzblutes mit dem seinigen erleichtert oder ersetzet hätte – und daß er, in nackten, unscheinbaren Zimmern aufgewachsen, für die glänzenden, vollen um ihn eine Empfindung hatte, die er natürlicherweise auf die Mietbewohnerin und Klausnerin derselben übertrug.

Gerade die Dienerin, die uns in dieser Woche schon einmal in die Hände gelaufen ist, kam herein mit Augen voll Tränen und stammelte: sie gehe zum hl. Beichtstuhle, und wenn sie ihr etwas zuleide getan hätte etc. – »Mir?« sagte Natalie mit liebenden Augen. »Aber im Namen Ihrer Herrschaft (der Britin) kann ich Ihr vergeben«, und ging mit ihr hinaus und küßte sie, wie ein Genius, ungesehen. – Wie schön steht einer Seele, die sich vorher kraftvoll gegen den Unterdrücker aufrichtete, das Vergeben an und das Herabneigen und Niederbücken zu einem Bedrängten! –

Leibgeber nahm einen Band von »Tristram« aus der Bibliothek der Engländerin und legte sich damit hinaus unter den nächsten Baum; er wollte seinem Freunde das Anismarzipan und Honiggewirke eines solchen verplauderten Nachmittags, das für ihn schon Hausmannkost war, ungeteilt zuwenden. Auch hatt' ihn, wenn er heute eine Miene zum Scherzen machte, Nataliens Auge bittend angeblickt: »Tu es nur heute nicht – zähl ihm die Blatternarben meines innern Menschen nicht vor – schone mich dasmal!« – Und endlich – und darauf wars hauptsächlich abgesehen sollte es sein Firmian leichter haben, der empfindlichen, nunmehr auf Achtel-Sold gesetzten Natalie den Vorschlag, seine lachende Erbin, seine apanagierte Witwe zu werden, hinter dreifachen Leichenschleiern mit verzognen Buchstaben zu zeigen.

Das war für Siebenkäs eine Schanzarbeit – eine Reise über die Alpen – eine um die Welt – eine in die Höhle zu Antiparos – und eine Erfindung der Meerlänge – – er dachte gar nicht daran, nur[397] Anstalten dazu zu machen; ja er hatte auch schon früher Leibgebern gesagt: wäre sein Sterben bloß ein wahres, so spräche niemand lieber als er mit ihr davon; nur mit dem Aussprechen eines scheinbaren könn' er sie unmöglich betrüben, sie müsse sich auf Geratewohl und unbedingt zur Witwenschaft verstehen; »und ist denn mein Sterben so etwas ganz und gar Unmögliches?« fragte er. »Ja!« hatte Leibgeber gesagt, »wo bliebe unser spaßhaftes? und die Donna muß alles aushalten.« Er sprang, wie es scheint, etwas härter und kälter mit Weiberherzen um als Siebenkäs, für welchen, als einsiedlerischen Kenner seltener weiblicher Kraftseelen, freilich eine solche wunde und warme kaum genug zu schonen war; indes will ich zwischen beiden Freunden nicht richten.

Er stellte sich, als Heinrich mit Yorick hinaus war, vor ein Freskobild, das diesen Yorick neben der armen flötenden Maria und ihrer Ziege malte – denn die Gemächer der Großen sind Bilderbibeln und ein Orbis pictus, sie sitzen, speisen und gehen auf Gemälde-Ausstellungen, und es ist ihnen desto unangenehmer, daß sie zwei der größten schon grundierten Räume nicht können ausmalen lassen, den Himmel und das Meer. – Natalie war kaum neben ihn nachgetreten, so rief sie: »Was ist heute daran zu sehen? Weg davon!« Sie war ebenso freimütig und unbefangen gegen ihn, als er es nicht zu sein vermochte. Sie zeigte ihre schöne, warme Seele bloß in etwas, worin sich die Menschen unwissend am meisten entweder entschleiern oder entlarven – in ihrer Art zu loben: der erleuchtete Triumphbogen, den sie über den Kopf der wiederkehrenden Britin führte, hob ihre Seele selber empor, und sie stand als Siegerin im Lorbeerkranz und in der schimmernden Orden-Kette der Tugend auf der Ehrenpforte. Ihr Lob war das Echo und Doppelchor des fremden Werts; sie war so ernst und so warm! – O es steht tausendmal schöner, Mädchen, wenn ihr für euere Gespielinnen Braut- und Lorbeerkränze schlingt und legt, als wenn ihr ihnen Strohkränze und Halseisen dreht und krümmt! –

Sie machte ihm ihre Vorliebe für gedruckte und ungedruckte Britinnen und Briten bekannt, ob sie gleich erst vorigen Winter[398] den ersten Engländer in ihrem Leben gesehen, »wenn nicht«, sagte sie lächelnd, »unser Freund draußen der erste war«. Leibgeber schaute sich draußen auf seiner grünen Gras-Matratze um und sah durch geöffnete Fenster beide freundlich zu ihm herunterblicken; und in sechs Augen floß der Schimmer der Liebe. Wie sanft drückte eine einzige Sekunde drei verschwisterte Seelen aneinander! –

Da die Kammerjungfer aus der Beichte in ihren weißglänzenden Kleidern wiederkam, welche statt leichter Schmetterlingflügel dicke Flügeldecken waren und woran noch einiges mattbunte Bändergeflügel flatterte: sah Firmian diese geputzte Bußfertige ein wenig an und nahm das schwarzgoldene Gesangbuch, das sie in der Eile hingelegt; er schnallte es auf und fand eine ganze seidene Musterkarte darin – ferner Pfauengefieder. Natalie, die ihm eine satirische Reflexion über ihr Geschlecht ansah, trieb sie sogleich ab: »Ihr Geschlecht hält so viel auf Ornate als unseres; das beweisen die Kurhabite, die Krönungkleider in Frankfurt und alle Amtkleidungen und Monturen. – Und der Pfau ist ja der Vogel der alten Ritter und Dichter; und wenn sie auf seine Federn schwören oder sich damit bekränzen durften: so können wir doch einige aufstecken, oder Lieder damit bezeichnen, wenn auch nicht belohnen.« – Dem Armenadvokaten entwischte zuweilen eine unhöfliche Verwunderung über ihr Wissen. Er blätterte unter den Festliedern und stieß auf umgoldete Marienbilder und auf ein ausgestochnes Bild, das zwei bunte Kleckse, die zwei Verliebte vorstellen sollten, samt einem dritten phosphoreszierenden Herzen vorzeigte, das der männliche Klecks dem weiblichen mit den Worten anbot: »Hast du meine Liebe noch nicht 'kennt? Schau nur, wie hier mein Herze brennt.« Firmian liebte Familien- und Gesellschafts-Miniaturstücke, wenn sie elend waren wie hier. Natalie sah und las es und nahm eilig das Buch und schnappte das Gesperre zu und fragte ihn erst dann: »Sie haben doch nichts darwider?«

Der Mut gegen Weiber wird nicht angeboren, sondern erworben: Firmian war mit wenigen in Verkehr gestanden, daher hielt seine Furcht einen weiblichen, besonders einen vornehmen[399] Körper – denn bei Herren, nicht bei Damen, ist es leicht und recht, sich über den Stand hinweg zu setzen – für eine hl. Bundeslade, an die kein Finger stoßen darf, und jeden Weiberfuß für einen, auf welchem eine spanische Königin steht, und jeden Weiber-Finger für eine Franklinische Spitze, aus der elektrisches Feuer spritzt. Wäre sie in ihn verliebt gewesen, so könnt' ich sie mit einer elektrisierten Person vergleichen, die alle Vexier-Schmerzen und Funken, die sie gibt, selber verspürt. Indessen war nichts natürlicher, als daß seine Scheu mit der Zeit abnahm, und daß er sich zuletzt, wenn sie gerade sich nicht umsah, kein Bedenken machte, die Bandschleife ihres Kopfes dreist zwischen die Finger zu nehmen, ohne daß sie es merkte. Kleine Vorschulen zu diesem Wagstück mochten es sein, daß er vorher die besten Dinge, die oft durch ihre Hände gegangen waren, in seine zu fassen versuchte; sogar die englische Schere, ein abgeschraubtes Nähkissen und einen Bleistift-Halter.

Auf dasselbe wollt' er sich auch bei einer wächsernen Weintraube einlassen, von der er glaubte, sie bestehe, wie eine auf Butterbüchsen, aus Stein. Er faßte sie daher in seine Faust wie in eine Kelter auf und pletschte zwei oder drei Beeren entzwei. Er reichte Bittschriften und Gnadenmittel und Indulgenzen ein, als ob er den Porzellan-Turm in Nanking hätte fallen und zerspringen lassen. Sie sagte lächelnd: »Es ist nichts verloren. Unter den Freuden gibts solcher Beeren noch genug, die eine schöne reife Hülle haben und ohne allen berauschenden Most sind und ebenso leicht entzwei gehen.«

Er fürchtete sich, daß dieser erhabne vielfarbige Regenbogen seiner Freude zusammenbreche in einen Abendtau und heruntersinke mit der Sonne draußen; und er erschrak, da er Leibgebern auf dem blühenden Rasen nicht mehr lesen sah. Die Erde draußen verklärte sich zu einem Sonnenlande – jeder Baum war eine festere, reichere Freudenblume – das Tal schien wie ein zusammengerücktes Weltgebäude zu klingen von der tiefen brausenden Sphärenmusik. Gleichwohl hatt' er nicht den Mut, dieser Venus zu einem Durchgang durch die Sonne, d.h. durch die übersonnte Fantaisie den Arm zu reichen; das Schicksal des[400] Venners und die Nachlese umherirrender Garten-Gäste machte ihn blöde und stumm.

Plötzlich klopfte Heinrich mit seinem achatenen Stockknopf ans Fenster und schrie: »'nüber zum Essen! Der Stockknopf ist die Wiener Laterne123. Wir kommen doch heute vor Mitternacht nicht heim.« (Er hatte nämlich in dem Gasthöfchen daneben für sich und ihn ein Abendessen sieden lassen.) – Auf einmal rief er nach: »Da fragt eben ein schönes Kind nach dir!« – Siebenkäs eilte heraus, und dasselbe liebliche kleine Mädchen, dem er nach dem großen Festabende in der Eremitage auf dem begeisterten Flügellaufe durch das Dorf Johannis seine Blumen in die Hände gedrückt, stand mit einem Kränzchen da und fragte: »Wo ist denn Seine Frau, die mich vorgestern aus dem Wasser herausgezogen? ich soll ihr ein paar schöne Blumen verehren von meinem Herrn Paten; und nächstens kommt meine Mutter bald und bedankt sich recht schön; sie liegt aber noch im Bette, denn sie ist gar zu krank.« –

Natalie, die es oben gehört, kam herunter und sagte errötend: »Liebe Kleine, war ichs denn nicht? – Gib mir nur dein Sträußchen her.« – Die Kleine küßte, sie erkennend, ihr die Hand, dann ihren Rocksaum und endlich den Mund; und wollte die Kußrunde wieder anfangen, als Natalie den Strauß aufblätterte und unter seinen lebendigen Vergißmeinnicht und weißen und roten Rosen auch drei seidne Nachbilder derselben antraf. Auf Nataliens Frage der Befremdung, woher sie die teuere Blumen habe, antwortete die Kleine: »wenn Sie mir aber vorher ein paar Kreuzer schenkt«; und setzte, da sie solche bekommen, hinzu: »von meinem Hrn. Paten, der ist gar sehr vornehm«, und lief die Gesträuche hinunter.

Allen war der Strauß ein wahres türkisches Selam- oder Blumenrätsel. Des Kindes schnelle Trauung Nataliens mit Siebenkäs erklärte Leibgeber an sich leicht aus dem Umstande, daß der Advokat auf dem Wasserbecken-Ufer neben ihr gestanden und ihr die helfende Hand gereicht, und daß die Leute aus Irrtum über die körperliche Ähnlichkeit dafür gehalten, anstatt Leibgeber[401] sei niemand mit ihr so oft bisher spazieren gegangen als der Advokat.

Allein Siebenkäs dachte mehr an den Maschinenmeister Rosa, der die Flickszene seines Lebens gern in jedes weibliche Spiel einflickte, und die Ähnlichkeit der welschen Blumen mit denen, die der Venner einmal in Kuhschnappel für Lenetten ausgelöset, war ihm auffallend; aber wie hätt' er die frohe Zeit und selber die Freude über die Votiv-Blumen des geretteten Kindes mit seinem Erraten trüben können? – Natalie bestand freundlich auf Teilung der Blumen-Erbschaft, da jedes etwas getan und sie beide wenigstens die Retterin gerettet. Sich behielt sie die weiße Seiden-Rose vor; Leibgebern trug sie die rote an – der sie aber ausschlug und dafür eine vernünftige natürliche verlangte und solche sofort in den Mund steckte – und dem Advokaten reichte sie das seidne Vergißmeinnicht und noch ein paar lebendige duftende dazu, gleichsam als Seelen der Kunstblumen. Er empfing sie mit Seligkeit und sagte, die weichen lebendigen würden nie für ihn verwelken. Darauf nahm Natalie nur einen kurzen Zwischen-Abschied von beiden; aber Firmian konnte seinem Freunde nicht genug danken für alle seine Anstalten zum Verlängern einer Gnadenzeit, die mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde sein altes abgelebtes Leben einfaßte.

Kein König in Spanien kann, obgleich die Reichsgesetze für ihn Schüsseln füllen und auftragen, so wenig aus nicht mehr als sechsen nehmen, als Firmian aus einer genoß. Trinken aber mocht' er – wie uns glaubwürdige Geschichtschreiber melden etwas, und Wein ohnehin, und in der Eile dazu; denn für Leibgeber konnt' er überhaupt heute nicht selig genug sein, weil eben letzter, an und für sich sonst nicht leicht von Herzen und Gefühlen ergriffen, eine desto unaussprechlichere Freude darüber empfand, daß sein lieber Firmian endlich einmal einen höchsten Glück- und Pol- und Ruhstern am Himmel über sich bekommen, welcher ihm nun die Blütezeit seiner so dünngesäeten Blumen lind erwärme und bestrahle.

Durch seinen eiligen Doppel-Genuß gewann er der Sonne den Vorsprung ab und kam wieder vor das sonnenrote Schloß, dessen[402] Fenster der prächtige Abend in Feuer vergoldete. Natalie stand außen auf dem Balkon wie eine überglänzte Seele, die der Sonne nachfliegen will, und hing mit ihren großen Augen an der leuchtenden, erschütterten Welt-Rotunda voll Kirchengesang und an der Sonne, die wie ein Engel aus diesem Tempel niederflog, und am erleuchteten heiligen Grabe der Nacht, in das die Erde sinken wollte. –

Noch unter dem Gitter des Balkons, auf den ihn Natalie winkte, gab ihm Heinrich seinen Stock: »Heb ihn auf – ich habe andere Sachen zu tragen – willst du mich haben, so pfeif!« – Der gute Heinrich trug physisch und moralisch hinter einer zottigen Bären-Brust das schönste Menschen-Herz.


Glücklicher Firmian, ungeachtet deiner Bedrängnisse! Wenn du jetzo durch die Glastüre auf den eisernen Fußboden hinaustrittst: so sieht dich die Sonne an und sinkt noch einmal, und die Erde deckt ihr großes Auge, wie das einer sterbenden Göttin, zu! – Dann rauchen die Berge um dich wie Altäre – aus den Wäldern rufen die Chöre – die Schleier des Tages, die Schatten, flattern um die entzündeten, durchsichtigen Gipfel auf und liegen über den bunten Schmucknadeln aus Blumen, und das Glanzgold der Abendröte wirft ein Mattgold nach Osten und fället mit Rosenfarben an die schwebende Brust der erschütterten Lerche, der erhöhten Abendglocke der Natur! – Glücklicher Mensch! wenn ein herrlicher Geist von weitem über die Erde und ihren Frühling fliegt, und wenn unter ihm sich tausend schöne Abende in einen brennenden zusammenziehen: so ist er nur elysisch wie der, der um dich verglimmt.

Als die Flammen der Fenster verfalbten, und der Mond noch schwer hinter der Erde emporstieg: gingen beide stumm und voll ins helldunkle Zimmer hinab. Firmian öffnete das Fortepiano und wiederholte auf den Tönen seinen Abend, die zitternden Saiten wurden die feurigen Zungen seiner gedrängten Brust; die Blumenasche seiner Jugend wurde aufgeweht, und unter ihr grünten wieder einige junge Minuten nach. Aber da die Töne Nataliens gehaltenes geschwollenes Herz, dessen Stiche nur verquollen, nicht genesen waren, mit warmem Lebenbalsam überflossen:[403] so ging es sanft und wie zerteilet auseinander, und alle seine schweren Tränen, die darin geglühet hatten, flossen daraus ohne Maß, und es wurde schwach, aber leicht. Firmian, der es sah, daß sie noch einmal durch das Opfertor ins Opfermesser gehe, endigte die Opfermusik und suchte sie von diesem Altar wegzuführen. – Da lag der Mond plötzlich mit seinem ersten Streif, wie mit einem Schwanenflügel, auf der wächsernen Traube. Er bat sie, in den stillen, nebligen Nachsommer des Tages, in den Mondabend, hinauszugehen: sie gab ihm den Arm, ohne ja zu sagen.

Welche flimmernde Welt! Durch Zweige und durch Quellen und über Berge und über Wälder flossen blitzend die zerschmolzenen Silberadern, die der Mond aus den Nachtschlacken ausgeschieden hatte, sein Silberblick flog über die zersprungene Woge und über das rege, glatte Apfelblatt und legte sich fest um weiße Marmorsäulen an und um gleißende Birkenstämme! Sie standen still, eh' sie in das magische Tal wie in eine mit Nacht und Licht spielende Zauberhöhle stiegen, worin alle Lebenquellen, die am Tage Düfte und Stimmen und Lieder und durchsichtige Flügel und gefiederte emporgeworfen hatten, zusammengefallen einen tiefen, stillen Golf anfüllten; sie schaueten nach dem Sophienberg, dessen Gipfel die Last der Zeit breit drückte, und auf dem, statt der Alpenspitze, der Koloß eines Nebels aufstand; sie blickten über die blaßgrüne, unter den fernern, stillern Sonnen schlummernde Welt und an den Silberstaub der Sterne, der vor dem heraufrollenden Mond weit weg in ferne Tiefen versprang – und dann sahen sie sich voll frommer Freundschaft an, wie nur zwei unschuldige, frohe, erstgeschaffene Engel es vor Freude können, und Firmian sagte: »Sind Sie so glücklich wie ich?« – Sie antwortete, indem sie unwillkürlich nicht seine Hand, sondern seinen Arm drückte: »Nein, das bin ich nicht – denn auf eine solche Nacht müßte kein Tag kommen, sondern etwas viel Schöneres, etwas viel Reicheres, was das durstige Herz befriedigt und das blutende verschließt.« – »Und was ist das?« fragt' er. »Der Tod!« sagte sie leise. Sie hob ihre strömenden Augen auf zu ihm und wiederholte: »Edler Freund, nicht wahr, für mich der Tod?« – »Nein«, sagte Firmian, »höchstens für mich.« Sie setzte[404] schnell dazu, um den zerstörenden Augenblick zu unterbrechen: »Wollen wir hinunter an die Stelle, wo wir uns zum erstenmale sahen, und wo ich zwei Tage zu früh schon Ihre Freundin war und es war doch nicht zu früh – wollen wir?«

Er gehorchte ihr; aber seine Seele schwamm noch im vorigen Gedanken, und indem sie einem langen, gesenkten Kiesweg nachsanken, den die Schatten des Laubenganges betropften, und über dessen weißes, nur von Schatten wie Steinen geflecktes Bette das Licht des Mondes hinüberrieselte, so sagt' er: »Ja, in dieser Stunde, wo der Tod und der Himmel ihre Brüder schicken124, da darf schon eine Seele wie Ihre an das Sterben denken. Ich aber noch mehr; denn ich bin noch froher. O! die Freude sieht am liebsten bei ihrem Gastmahl den Tod; denn er selber ist eine und das letzte Entzücken der Erde. Nur das Volk kann den himmelhohen Zug der Menschen in das ferne Land der Frühlinge mit den Larven- und Leichenerscheinungen unten auf der Erde verwechseln, ganz so wie es das Rufen der Eulen, wenn sie in wärmere Länder ziehen, für Gespenster-Toben hält. – Und doch, gute, gute Natalie! kann ich bei Ihnen nicht denken und ertragen, was Sie genannt. – Nein, eine so reiche Seele muß schon in einem frühern Frühling ganz aufblühen als in dem hinter dem Leben; o Gott, sie muß!« – Beide kamen eben an einer vom breiten Wasserfalle des Mondlichts überkleideten Felsenwand herunter, an die sich ein Rosen-Gegitter andrückte. – Natalie brach einen grün- und weichdornigen Zweig mit zwei anfangenden Rosenknöspchen und sagte: »ihr brecht niemals auf«, steckte sie an ihr Herz, sah ihn sonderbar an und sagte: »Ganz jung stechen sie noch wenig.«

Unten an der hl. Stätte ihrer ersten Erscheinung, am steinernen Wasserbecken, suchten beide noch Worte für ihr Herz: da stieg jemand aus dem trocknen Becken heraus. Niemand konnte anders lächeln als gerührt, da es ihr Leibgeber war, der hier versteckt mit einer Weinflasche neben abgebildeten Wassergöttern gelauert hatte, bis sie kamen. Es war in seinem verstörten Auge etwas gewesen, das für diese Frühlingnacht aus solchem, wie eine Libation unseres Freudenkelches, gefallen war. »Dieser Platz[405] und Hafen euerer ersten Landung hier«, sagt' er, »muß sehr verständig eingeweihet werden. Auch Sie müssen anstoßen. – Beim Himmel! von seinem blauen Gewölbe hanget heute mehr Kostbares herunter, daß mans ergreifen kann, als von irgendeinem Grünen.« Sie nahmen drei Gläser und stießen an und sagten (mehre unter ihnen, glaub' ich, mit erstickter Stimme): »Es lebe die Freundschaft! – – es grüne der Ort, wo sie anfing! es blühe jede Stelle, wo sie wuchs – und wenn alles abblüht und alles abfällt, so dauere sie doch noch fort!« Natalie mußte die Augen abwenden. Heinrich legte die Hand auf seinen achatenen Stockknopf; aber bloß (weil die seines Freundes, der ihn noch hatte, schon vorher darauf lag), bloß um diese recht herzlich und ungestüm zu drücken, und sagte: »Gib her; du sollst heute gar keine Wolken in der Hand haben.« Auf dem Achat hatte nämlich die unterirdische Natur Wolkenstreifen eingeätzt. Diese verschämte Hülle über den heißen Zeichen der Freundschaft würde jedes Herz, nicht bloß Nataliens weiches, mit gerührter Wonne umgekehret haben. »Sie bleiben nicht bei uns?« sagte sie schwach, als er fort wollte. »Ich gehe hinauf zum Wirte«, sagt' er, »und wenn ich droben eine Querpfeife oder ein Waldhorn ausfinde: so stell' ich mich heraus und musiziere über das Tal herein und blase den Frühling an.« –

Als er verschwand, war seinem Freund, als verschwände seine Jugendzeit. Auf einmal sah er hoch über den taumelnden Maikäfern und verwehten Nachtschmetterlingen und ihren pfeilschnellen Jägern, den Fledermäusen, im Himmel ein breites, einem zerstückten Wölkchen ähnliches Gefolge von Zugvögeln durch das Blaue schweben, die zu unserem Frühling wiederkamen. Hier stürzten sich alle Erinnerungen an seine Stube im Marktflecken, an sein Abendblatt und an die Stunde, wo ers unter einer ähnlichen Wiederkunft früherer Zugvögel mit dem Glauben geschlossen hatte, sein Leben bald zu schließen, diese Erinnerungen stürzten mit allen ihren Tränen an sein geöffnetes Herz – und brachten ihm den Glauben seines Todes wieder – und diesen wollt' er seiner Freundin geben. Die breite Nacht lag vor ihm, wie eine große Leiche auf der Welt; aber vor dem Wehen aus Morgen zuckten ihre Schattenglieder unter den beschienenen[406] Zweigen – und vor der Sonne richtet sie sich auf als ein verschlingender Nebel, als ein umgreifendes Gewölke, und die Menschen sagen: es ist der Tag. In Firmians Seele standen zwei überflorte Gedanken, wie Schreck-Larven, und stritten miteinander; der eine sagte: er stirbt am Schlage, und er sieht sie ohnehin nicht mehr – und der andere sagte: er stellet sich gestorben, und dann darf er sie nicht mehr sehen. – Er ergriff, von Vergangenheit und Gegenwart erdrückt, Nataliens Hand und sagte: »Sie dürfen mir heute die höchste Rührung vergeben – ich sehe Sie nie mehr wieder, Sie waren die edelste Ihres Geschlechts, die ich gefunden, aber wir begegnen uns nie mehr – Bald müssen Sie hören, daß ich gestorben bin oder mein Name verschwunden ist, auf welche Art es auch sei; aber mein Herz bleibt noch für Sie, für dich.... O daß ich doch die Gegenwart mit ihrer Gebirgkette von Totenhügeln hinter mir hätte und – die Zukunft jetzo vor mir mit allen ihren offnen Grabhöhlen, und daß ich heute so an der letzten Höhle stände und dich noch ansähe und dann selig hinunterstürzte.«

Natalie antwortete nichts. Auf einmal stockte ihr Gang, ihr Arm zuckte, ihr Atem quälte sich, sie hielt an und sagte mit zitternder Stimme und mit einem ganz bleichen Angesicht: »Bleiben Sie auf dieser Stelle – lassen Sie mich nur eine Minute lang auf die Rasenbank dort allein sitzen – ach! ich bin so hastig!« – Er sah sie wegzittern. Sie sank, wie unter Lasten, auf eine lichte Rasenbank, sie heftete ihre Augen geblendet an den Mond, um welchen der blaue Himmel eine Nacht wurde, und die Erde ein Rauch; ihre Arme lagen erstarrt in ihrem Schoß, bloß ein Schmerz, einem Lächeln ähnlich, zuckte um den Mund, und in dem Auge war keine Träne. Aber vor ihrem Freund lag jetzo das Leben wie ein aus- und ineinanderrinnendes Schattenreich, voll dumpfer, hereingesenkter Bergwerkgänge, voll Nebel wie Berggeister, und mit einer einzigen, aber so engen, so fernen, oben hereinleuchtenden Öffnung hinaus in den Himmel, in die freie Luft, in den Frühling, in den hellen Tag. Seine Freundin ruhte dort in dem weißen kristallenen Schimmer, wie ein Engel auf dem Grabe eines Säuglings Plötzlich ergriffen die hereinfallenden Töne Heinrichs, gleichsam das Glockenspiel eines Gewitterstürmers, die zwei betäubten[407] Seelen wie vor einem Gewitter, und in den heißen Quellen der Melodie ging das hingerissene Herz auseinander.... Nun nickte Natalie mit dem Haupte, als wenn sie eine Entschließung bejahte; sie stand auf und trat wie eine Verklärte aus der grünen überblühten Gruft – und öffnete die Arme und ging ihm entgegen. Eine Träne nach der andern floß über ihr errötendes Angesicht; aber ihr Herz war noch sprachlos – sie konnte, erliegend unter der großen Welt in ihrer Seele, nicht weiter wanken, und er flog ihr entgegen – sie hielt, heißer weinend, ihn von sich, um erst zu sprechen – aber nach den Worten: »erster und letzter Freund, zum ersten und letzten Male« mußte sie atemlos verstummen, und sie sank, von Schmerzen schwer, in seine Arme, an seinen Mund, an seine Brust. »Nein, nein«, stammelte sie, »o Gott, gib mir nur die Sprache – Firmian, mein Firmian, nimm hin, nimm hin meine Freude, alle meine Erdenfreuden, was ich nur habe. Aber niemals, bei Gott, nie sieh mich mehr wieder auf der Erde; aber (sagte sie leise) das beschwöre mir jetzt!« – Sie riß ihr Haupt zurück, und die Töne gingen wie redende Schmerzen zwischen ihnen hin und her, und sie starrete ihn an, und das bleiche, zerknirschte Angesicht ihres Freundes zerrüttete ihr wundes Herz, und sie wiederholte die Bitte mit brechendem Auge: »Schwöre nur!« – Er stammelte: »Du edle herrliche Seele, ja ich schwöre dirs, ich will dich nicht mehr sehen.« – Sie sank stumm und starr, wie vom Tode berührt, auf sein Herz mit gebücktem Haupte nieder, und er sagte noch einmal wie sterbend: »Ich will dich nicht mehr sehen.« Dann hob sie leuchtend wie ein Engel das erschöpfte Angesicht auf zu ihm und sagte: »Nun ists vorbei! – nimm dir noch den Todes-Kuß und sage nichts mehr zu mir.« Er nahm ihn, und sie entwand sich sanft; aber im Umwenden reichte sie ihm rückwärts noch die grüne Rosenknospe mit weichen Dornen und sagte: »Denk an heute.« – Sie ging entschlossen, obwohl zitternd, fort und verlor sich bald in den dunkelgrünen, von wenigen Strahlen durchschnittenen Gängen, ohne sich mehr umzuwenden.

– Und das Ende dieser Nacht wird sich jede Seele, die geliebt, ohne meine Worte malen.[408]

122

Da Mädchen den Eiteln am ersten durchschauen: so erriet sie, daß er sie an einem solchen Tage nur als seine Paradewache, als seine Ehrenpforte zum Prahlen gebrauchen und in der besuchten Fantaisie vorführen wollte.

123

Uns ist allen schon aus den Zeitungen bekannt, daß durch die Wiener »Gala-Redouten« eine Papier-Laterne mit der Aufschrift wandert: »es ist aufgetragen«, welches man das Wiener Laternisieren nennen kann.

124

Der Tod den Schlaf, der Himmel den Traum.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 392-409.
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