Neunzehntes Kapitel

[473] Das Gespenst – Heimziehen der Gewitter im August oder letzter Zank –

Kleider der Kinder Israel


Einmal abends gegen 11 Uhr geschah unter dem Dachstuhl ein Schlag, als wenn einige Zentner Alpen hineinfielen. Lenette ging mit Sophien hinauf, um zu sehen, ob es der Teufel oder nur eine Katze sei. Mit mehlichten und ausgedehnten, winterlichen Gesichtern kamen die Frauen wieder – »ach daß sich Gott erbarme«, sagte die fremde, »der Hr. Armenadvokat liegt droben, wie eine Leiche, auf dem Gurtbette.« Der lebendige, dem mans erzählte, saß in seiner Stube; er sagte, es sei nicht wahr, er würde doch auch vom Knalle gehöret haben. Aus dieser Taubheit errieten nun alle Weiber, was es bedeute, nämlich seinen Tod. Der Schuster Fecht, der heute durch die Thronfolge regierender Nachtwächter war, wollte zeigen, wo ihm das Herz säße, und versah sich bloß mit dem Wächterspieß – das war sein ganzer Artilleriepark –, steckte aber ungesehen noch ein Gesangbuch, schwarzgebunden, als eine heilige Schar zu sich, falls etwan doch der – Teufel droben läge. Er betete unterweges viel vom Abendsegen, der eigentlich heute von ihm als Wächter-Archont, da ohnehin sein Stundengesang ein ausgedehnter, in Gassen abgeteilter Abendsegen ist, nicht gefodert werden konnte. Er wollte mutig gegen das Gurtbette vorschreiten, als er leider auch das weißgepülverte Gesicht vor sich sah und hinter dem Bette einen Höllenhund mit Feueraugen, der die Leiche grimmig zu bewachen schien. Er stand sogleich verglaset, wie zu einer Leichenwache aus Alabaster gehauen, in Angstschweiß hartgesotten, da und hielt seinen Raufer hin, das Stoßgewehr. Er sah voraus, wenn er sich umwendete, um über die Treppe hinabzuspringen, so werde ihn das Ding von hinten umklaftern und ihn satteln und hinabreiten. Glücklicherweise tropfte eine Stimme unten wie ein Kordial- und Couragewasser ins Herz, und er legte seinen Sauspieß an, willens, das Ding tot zu stechen oder doch den Kubikinhalt zu visieren mit dem Visierstab. Aber[473] als jetzt das eingeschneiete Ding langsam in die Höhe wuchs; – so wurd' es ihm auf seinem Kopfe, als hab' er eine feste Pechmütze auf und jemand schraub' ihm die Kappe samt den inliegenden Haaren je länger, je mehr ab – und den Aalstachel konnt' er mit zwei Händen nicht mehr halten (unten am Schaft hielt er ihn), weil der Speer so schwer wurde, als hinge sich der älteste Schuhknecht daran. Er streckte das Stichgewehr und flog kühn von der obersten, dreimal gestrichnen Oktave der Treppe wehend herunter zur Kontrabaßtaste oder – stufe. Er schwur drunten vor dem Hausherren und vor allen Mietleuten, er wolle sein Nachtwächteramt ohne Spieß versehen, der Geist halte solchen in der Haft; ja es schüttelte ihn Frost, wenn er nur mit den Augen dem Armenadvokaten lange in den Zügen des Gesichts herumging. Firmian war der einzige, der sich erbot, das Rapier zu holen. Als er hinaufkam, traf er an, was er vermutet hatte – seinen Freund Leibgeber, der sich mit einer alten erschütterten Perücke eingepudert hatte, um bei den Leuten allmählich Siebenkäsens Kunst-Tod einzuleiten. Sie umarmten einander leise, und Heinrich sagte, morgen komm' er die Treppe herauf und ordentlich an.

Drunten bemerkte Firmian bloß, es sei oben nichts zu sehen als eine alte Perücke – da sei der Spieß des schnellfüßigen Spießers, und er zähle hier zwei furchtsame Häsinnen und einen Hasen. Aber der ganze Konventikel wußte nun wohl, was er zu denken habe – man müßte keinen Verstand im Kopfe haben, wenn man noch einen Kreuzer für Siebenkäsens Leben geben wollte, und die Geisterseher und – seherinnen dankten Gott herzlich für den Todesschrecken als Pfandstück des eignen weiteren Lebens. Lenette hatte die ganze Nacht nicht das Herz, sich aufzusetzen im Gitterbette, aus Angst, sie sehe – ihren Mann, wie er leibt und lebt.

Am Morgen stieg Heinrich mit seinem Hunde die Treppe herauf, in bestäubten Stiefeln. Dem Armenadvokaten war, als müsse dessen Hut und Achsel voll Blüten aus dem Baireuther Eden liegen – er war ihm eine Gartenstatue aus dem verlornen Garten. Für Lenetten war eben darum diese Palme aus Firmians ostindischen Besitzungen in Baireuth – vom Saufinder wollen wir nicht[474] einmal sprechen – nichts als eine Stechpalme; und nie konnte sie weniger als jetzo Geschmack einem solchen Stachelbeerstrauche, einem solchen Distelkopf – der so schön war, als käm' er eben aus Hamiltons Pinsel141 – abgewinnen. Allerdings – ich will es geradezu sagen – begegnete er aus inniger Liebe gegen seinen Firmian Lenetten, die ebensoviel Schuld als Recht hatte, ein wenig zu kahl und zu kalt. Wir hassen nie eine Frau herzlicher, als wenn sie unsern Liebling quält, so wie umgekehrt eine Frau dem Plagegeist ihrer Schoßjüngerin am meisten gram wird.

Der Auftritt, den ich sogleich zu geben habe, läßt mich am stärksten fühlen, welche Kluft zwischen dem Romanschreiber, der über das Verdrüßliche wegsetzen und alles sich und dem Helden und den Lesern verzuckern kann, und zwischen dem bloßen Geschichtschreiber wie ich, der alles durchaus rein historisch, unbekümmert um Verzuckern und um Versalzen, auftragen muß, immer bleiben wird. Wenn ich daher früher den folgenden Auftritt ganz unterschlagen habe: so ist dies wohl ein Fehler, aber kein Wunder in den Jahren, wo ich lieber bezauberte als belehrte und mehr schön malen wollte als treu zeichnen.

Lenetten war nämlich schon vor geraumer Zeit der ganze Leibgeber nicht recht zum Ausstehen, weil er, der weder Titel noch Ansehen hatte, mit ihrem Manne, einem längst eingebürgerten Kuhschnappler Armenadvokaten und Gelehrten, öffentlich so gemein und bekannt tat und ebensogut als ihr von ihm verführter Mann ohne Zopf ging, so daß viele mit den Fingern auf beide wiesen und sagten: »Ei, seht das Paar oder par nobile fratrum!« Diese Reden und noch schlimmere konnte Lenette aus den echtesten historischen Quellen schöpfen. Freilich heutigentages gehört fast so viel Mut dazu, sich einen Zopf anzuhängen, als damals, sich seinen abzuschneiden. Ein Domherr hat in unsern Zeiten nicht nötig, wie in den vorigen, sich einen Zopf und dadurch den angenehmen Gesellschafter zu machen, und er braucht ihn also nicht erst zweimal jährlich, wie einen Pfauenschweif, abzuwerfen, um seine tausend Gulden Einkünfte gesetzmäßig zu verdienen, indem er im Chore zur Vesper erscheint mit rundem Haar; er[475] trägts schon am Spieltische wie am Chorpulte. In den wenigen Ländern, wo etwa der Zopf noch herrscht, ist er mehr Dienst-Pendel und Staats-Perpendikel, und langes Haar, das schon die fränkischen Könige als Kron-Abzeichen (Kron-Insignie) haben mußten, ist bei Soldaten, sobald es nicht wie bei jenen fliegend und ungebunden getragen wird, sondern fest geschnürt und gefangen vom Zopfband, ein ebenso schönes Zeichen des Dienens. Die Friesen taten längst ihren Schwur mit Anfassen des Zopfes, und hieß solcher der Bödel-Eid142 – so setzt denn in manchen Ländern der Soldaten- oder Fahneneid einen Zopf voraus; und wenn bei den alten Deutschen schon ein auf der Stange getragener Zopf eine Gemeinde vorstellte143, wie natürlich muß eine Kompanie, ein Regiment, wovon jeder einzelne Soldat den seinigen hinten trägt, nicht gleichsam einen Kompaniezopf der vaterländischen Vereinigung bilden und deutsches Wesen zeigen!

Lenette machte nun vor ihrem Manne kein Geheimnis daraus denn ihr stand Stiefel von weitem bei –, daß sie sich im Grund wenig über Leibgeber und sein Betragen und sein Tragen erfreue. »Mein Vater Seliger war doch lange Rats-Kopist«, sagte sie in Leibgebers Gegenwart, »aber er betrug sich immer wie andere Leute in Kleidung und sonst.«

»Als Kopist«, versetzte Siebenkäs, »mußte er freilich immer kopieren, so oder so, mit Federn oder Röcken; mein Vater hingegen spannte Fürsten die Büchsen und schor sich um nichts, und was fiel, das fiel. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen beiden Vätern, Frau!« Sie hatte schon früher bei Gelegenheit den Kopisten gegen den Büchsenspanner gehalten und gemessen und von weitem angedeutet, daß Siebenkäs keinen so vornehmen Vater wie sie und folglich auch nicht die vornehme éducation gehabt, wodurch man Manieren bekommt und überhaupt lernt wie man sich trägt. Dieser lächerliche Herabblick auf seinen Stammbaum verdroß ihn immer so, daß er oft über sich selber lachte. Indes fiel ihm der kleine Seitenschlag auf Leibgeber weniger auf als ihre ungewöhnliche körperliche Zurückziehung von[476] ihm; sie war nicht zu bewegen, seine Hände anzufassen, und gar ein Kuß von ihm, sagte sie, wäre ihr Tod. Mit allem peinlichen Eindringen und Fragen über den Grund holte er keine andere Antwort aus ihr heraus als die: sie woll' es sagen, wenn er fort sei. Aber dann war er selber leider auch fort und im Sarge, d.h. auf dem Wege nach Vaduz.

Auch diese ungewöhnliche Hartnäckigkeit eines starren Haubenkopfes wurde von ihm noch leidlich ertragen in einer Zeit, wo sich das eine Auge am Freunde wärmte, und das andere am Grabe kühlte.

Endlich kam noch etwas dazu, und niemand erzählt es gewiß treuer als ich; daher man mir glauben sollte. Es war abends, ehe Leibgeber in seinen Gasthof (ich glaube zur Eidechse) zurückging, als die tiefschwarze Halbscheibe eines Gewitters sich stumm über den ganzen Westen der Sonne wölbte und immer weiter herüberbog auf die bange Welt, da war es, daß beide Freunde über die Herrlichkeit eines Gewitters, über das Beilager des Himmels mit der Erde, des Höchsten mit dem Tiefsten, über die Himmelfahrt des Himmels nach der Erde, wie Leibgeber sagte, sprachen, und daß Siebenkäs bemerkte, wie eigentlich nur die Phantasie hier das Gewitter vorstelle oder ausbilde, und wie nur sie allein das Höchste mit dem Niedrigsten verknüpfe. Ich wollte, er hätte dem Rate von Campe und Kolbe gefolgt und statt des fremden Wortes Phantasie das einheimische Einbildungkraft gebraucht; denn die Puristin und Sprachfegerin Lenette fing an zuzuhören, sobald er nur das Wort ausgesprochen. Sie, die in der Brust nichts hatte als Eifersucht und im Kopfe nichts als die Fantaisie, hatte alles auf die Baireuther Fantaisie bezogen, was nur der menschlichen Phantasie von beiden Männern nachgerühmt wurde, z.B. wie sie (die markgräfliche Fantaisie nämlich, dachte Lenette) selig mache durch die Schönheit ihrer hohen Geschöpfe – wie nur im Genusse ihrer Schönheiten ein Kuhschnappel zu ertragen sei – (freilich, weil man an seine Natalie denkt, dachte sie) – wie sie das kahle Leben mit ihren Blumen überkleide – (mit ein paar seidnen Vergißmeinnicht, sagte Lenette zu sich) – und wie sie (die markgräfliche Fantaisie) nicht[477] nur die Pillen des Lebens, auch die Nüsse, ja den Paris-Apfel der Schönheit selber versilbere.

Himmel, welche Doppelsinnigkeiten von allen Ecken! Denn wie trefflich hätte Siebenkäs den Irrtum der Verwechslung der Phantasie mit Fantaisie widerlegen können, wenn er bloß gezeigt hätte, daß von der dichterischen wenig in der markgräflichen zu finden sei und daß die Natur schöne romantische Täler und Berge gedichtet, welche der französische Geschmack mit seinen rhetorischen Blumen- und Periodenbauten und Antithesen behangen und ausstaffiert, und daß Leibgebers Wort von der Phantasie, die den Paris-Apfel versilbere, in einem andern Sinne auf Fantaisie passe, von deren Äpfeln der Natur man erst das gallische Weihnachtsilber abzuschaben habe, eh' man sie anbeißt.

Kaum war Leibgeber zum Hause hinaus und nach seiner Gewohnheit unter das Gewitter hinein, das er gern im Freien genoß: so brach Lenettens Gewitter noch vor dem himmlischen aus. »So hab ichs doch mit meinen eignen Ohren vernommen«, fing sie an, »wie dieser Atheist und Störenfried dich in Baireuth in der Phantasie verkuppelt; und dem soll eine Frau eine Hand geben oder mit einem Finger berühren?« – Sie ließ noch einige Donner nachrollen; aber es ist meine Pflicht gegen die arme, durch vielerlei Gemisch zu einem Gärbottich umgesetzte Frau, ihr nicht alle Aufbrausungen nachzuzählen. Inzwischen brauseten nun auch die Säuern des Mannes auf; denn seinen Freund vor ihm zu schelten – gleichviel, aus welchem Mißverständnis, und er fragte gar nicht über dasselbe, da keines sie entschuldigen konnte – blieb ihm eine Sünde gegen den Heiligen Geist seiner Freundschaft; – und er donnerte demnach tüchtig zurück. Es kommt als Entschuldigung dem Manne zustatten freilich der Frau auch –, daß die Gewitterluft die feurigen Kohlen auf seinem Haupte noch mehr in Flammen blies und daß er demnach wie toll in der Stube auf- und abfuhr und geradezu den Vorsatz, Lenetten vor seinem Sterben alles nachzusehen, in die Luft sprengte; denn er wollte und durfte nicht leiden, daß dem letzten Freunde seines Lebens und Sterbens von der Erbin seines Namens unrecht begegnet wurde in Worten oder Werken. Von den[478] vulkanischen Ausbrüchen des Advokaten, die ich ihm zuliebe gleichfalls alle verschweige, geb' ich einen Begriff, wenn ich berichte, daß er, mit dem Gewitter jetzt um die Wette donnernd, ausrief: »einem solchen Manne!« – und eine Ohrfeige mit den Worten: »du bist auch ein Weiberkopf!« einem Haubenkopf erteilte, der schon einen kühnen Hut mit Federn aufhatte. – Da der Kopf Lenettens Favoritsultanin unter den andern Köpfen war und oft von ihr gestreichelt wurde: so war nach einem solchen Schlage billig nichts weiter zu erwarten als ein so heftiges Auftoben, als wär' er ihr selber wider fahren (wie Siebenkäs gleicherweise für seinen Freund aufgebrauset); aber es kam nichts als ein mildes volles Weinen. »O Gott, hörst du das schreckliche Gewitter nicht?« sagte sie bloß. »Donner hin, Donner her!« versetzte Siebenkäs, welcher – einmal über seinen bisherigen philosophischen Ruhegipfel hinausgerollt – nun nach geistigen und physischen Fallgesetzen die Gewalt des Sturzes wachsen ließ bis zum Versinken, »das Wetter sollte nur allem kuhschnappelschen Gesindel heute auf den Kopf fahren, das meinen Heinrich anschwärzt.« – Da das Gewitter noch heftiger wurde, sprach sie noch sanfter und sagte: »Jesus, welcher Schlag! – Sei doch bußfertig! Wenn er dich nun in deinen Sünden träfe!« – »Mein Heinrich geht draußen«, sagt' er; »o wenn ihn der Blitz nur jetzt erschlüge und mich gleich mit durch einen Strahl: so wär' ich alles elenden Sterbens entübrigt; und wir blieben beieinander!« –

So trotzig und Leben und Religion verachtend hatte die Frau ihn noch nie gesehen, und sie mußte daher jede Minute gewärtig sein, daß der Blitz in das Merbitzersche Haus herabschieße und ihn und sie erlege, um ein Exempel zu geben.

Jetzo deckte ein so heller Blitz den ganzen Himmel auf, und ein so brechender Donner fuhr ihm nach, daß sie ihm die Hand hinreichte und sagte: »Ich will gern alles tun, was du begehrst – sei nur um Gottes willen wieder gottesfurchtig – ich will ja Herrn Leibgeber auch die Hand geben und den Kuß, er mag sie abgewaschen haben oder nicht, wenn ihn der Hund abgeleckt – und ich will nicht hinhören, wenn ihr auch noch so stark die versilbernde und blühende Phantasie der Baireuther herausstreicht.« –[479]

Himmel! wie tief ihm der Blitz jetzt in zwei Irrgänge Lenettens hineinleuchtete und ihm ihre unschuldige Verwechslung der Phantasie mit Fantaisie, wovon ich schon gesprochen, sehen ließ und dann seine eigne Verwechslung ihres Ekels mit ihrem Hasse. Letztes war nämlich so: Da ihr weibliches Reinlichhalten und ihr Putzen sich leichter den Katzen anschloß als den Hunden, welche beides und die Katzen selber nicht achten: so war ihr Leibgebers Hand, wenn gerade des Saufinders Zunge darauf gewesen, eine Esaus-Hand voll Chiragra und ein Daumenschrauben für die ihrige – der Ekel litt kein Berühren –, und Heinrichs Mund vollends war, und wäre der Hund vor zehn Tagen daran mit seinem gesprungen, das größte Schreckbild, welches nur der Abscheu für ihre Lippen hinstellen konnte; – sogar die Zeit galt ihr für keine Lippenpomade144.

Aber diesesmal brachten die entdeckten Irrtümer nicht Frieden wie sonst, sondern das erneuerte Gebot der Trennung. Zwar traten ihm Tränen in die Augen, und er reichte ihr die Hand und sagte: »Vergib zum letztenmal! Im August ziehen ohnehin die Gewitter heim«; aber er konnte keinen Kuß der Versöhnung anbieten oder annehmen. Unwiderruflich sprach sein neuester Abfall von den wärmsten Entschlüssen der Duldung die Weite ihrer innern Trennung aus. Was hilft Einsehen der Irrungen bei dem Bestehen ihrer Quellen? Was hälf' es, dem Meere ein paar Flüsse abschneiden, wenn ihm die Wolken und die Wogen bleiben? Die Realinjurie gegen den Haubenkopf schmerzte in seiner Brust am meisten nach; er wurde für ihn ein Gorgonenkopf, der immer drohte und rächte.[480] Er suchte nun seinen Freund, wie mit neuer Liebe – weil er für ihn geduldet –, so mit neuem Eifer auf, um den Sterbeplan mit ihm abzureden. »An welcher gefährlichen Krankheit«, fing Heinrich die medizinische Beratschlagung an, »gedenkst du am liebsten deinen Geist aufzugeben? Wir haben die besten, tödlichsten Zufälle vor uns. Verlangst du eine Luftröhrenentzündung – oder eine Darmentzündung – oder ein entzündetes Zäpfchen – oder ist dir mehr mit Hirnwut gedient oder mit Steckkatarrh – oder ist dir Bräune, Kolik und der Teufel und seine Großmutter lieber? Auch haben wir die nötigsten Miasmen und ansteckenden Materien bei der Hand, die wir brauchen – und wenn wir den August, den Erntemonat der Schnitter und Ärzte, als Giftpulver dazu mischen: so überstehest du es nicht.« – Er versetzte: »Du hast wie der Meister-Bettler145 alle Schäden feil, Blindheit und Lähmung und alles. Ich für meine Person bin ein Freund von dem Schlagfluß, diesem volti subito, dieser Extrapost und Jagdtaufe des Todes – ich habe aller prozessualischen Weitläuftigkeiten satt.« – Leibgeber merkte an: »Der ist wohl das Summarissimum des Todes – inzwischen müssen wir, nach den besten Pathologien, die ich kenne, uns zu einem dreifachen Schlagfluß entschließen. Wir können uns hier nicht nach der Natur, sondern nach dem medizinischen Grundgesetz richten, daß der Tod allezeit einen Tertiawechsel vorausschicke, ehe sie einen dort akzeptieren und honorieren, oder einen dreimaligen Hammer-Schlag des Versteigerns. Ich weiß, die Ärzte lassen nicht mit sich reden: nimm den dreifachen Schlag!« – Aber Siebenkäs sagte komischheftig: »Beim Henker! wenn mich der Schlagfluß zweimal recht trifft: was kann ein Arzt mehr fodern? – Nur kann ich vor drei oder vier Tagen nicht erkranken, ich muß auf einen wohlfeilern Sarg-Baumeister warten.« Die Sarg-Baute hausieret bekanntlich unter den Tischlern herum, wie ein Reiheschank. Man muß nun einem solchen Schiffzimmermann der letzten Arche zahlen, was er fodert, weil der Nachlaß eines Verstorbnen der Leichen-Regie,[481] den Akzisoffizianten des Todes, wie der Palast eines verstorbnen Doge und Papstes, zum Plündern stets muß preisgegeben wer den.

»Diese Galgenfrist«, versetzte Leibgeber, »kann noch einen andern Nutzen haben. Sieh hier habe ich mir eine alte Haus-Postille um halbes Sündengeld erhandelt, weil nirgends so eindringliche Leichenpredigten gehalten als in diesem Werke, und zwar in dessen hölzernem Deckel, worin ein lebendiger Prediger wie in einer Kanzel eingepfarrt sitzt.« – Es saß nämlich im Deckel der Käfer, den man die Totenuhr, auch den Holzbohrer, Trotzkopf nennt, weil er angerührt den Schein eines Scheintoten unter allen Martern fortsetzt, und weil seine Schläge, die nur ein Türklopfen für das geliebte Weibchen sind, für Anklopfen des wahren Todes genommen werden; daher sonst ein Hausgerät, worin er schlug, als bedeutendes Kauf- und Erbstück gegolten. – Leibgeber erzählte ihm weiter: da ihm nichts in der Welt so verhaßt sei als ein Mensch, der aus Todes-Furcht Gott und den Teufel durch schnelle Bekehrung zu überlisten suche: so stecke er gern bei solchen höllenscheuen Sündern die Postille auf einige Tage unvermerkt unter die Möbeln, um sie durch die Leichenpredigten recht zu quälen, die der Käfer voraushalte, ob er gleich dabei seinerseits, so gut wie mancher Pfarrer, gerade nur an Weltliches denkt. »Könnt' ich aber nicht füglich die Postille mit dem Leichenprediger so unter deine Bücher schieben, daß deine Frau ihn hörte und dann an das Sterben dächte, nämlich an deines, und sich immer mehr daran gewöhnte?«

»Nein, nein«, rief Firmian, »sie soll mir nicht so viel vorausleiden, sie hat genug vorausgelitten.« – »Meinetwegen«, versetzte Heinrich, »denn sonst reimte sich mein Käfer wohl mit dir, da der Trotzkopf oder ptinus pertinax sich ebensogut totzustellen weiß als du wirst.«

Übrigens freuete er sich, daß alles so schön ineinander häkle, und daß er gerade vor einem Jahre auf die Glasperücke Blaisens gestiegen und oben injuriert oder geschimpft, ohne sich selber den geringsten Schaden zu tun. Injurien nämlich verjähren in einem Jahre, es müßten denn kritische sein, deren Regiment nicht länger[482] dauert als das des Rektors in Ragusa, 1 Monat, d.h. solange das Zeitungblatt im Lesezirkel umläuft. Ein Buch selber hingegen, das die Diktatorwürde in der gelehrten Republik bekleidet, darf eben seines großen Einflusses wegen nicht länger regieren als ein römischer Diktator, 6 Monate, d.h. von der Geburtmesse bis zur Seelen- oder Totenmesse, und ist, gleich Büchermachern, entweder im Frühling tot oder im Herbst.

Sie kamen zurück in eine neugekleidete und neugestellte Stube. Lenette tat, was sie konnte, um die Risse ihrer Haushaltung wie Risse des Porzellans mit Blumen zu übermalen, und sie legte immer Partituren auf, worin gerade die abgesprungne Saite eines Möbels nicht anzuschlagen war. Firmian opferte diesesmal ihrer Bemühung, überall spanische Wände um die Steppen und Brachäcker ihrer Armut herumzuführen, gern mehr lustige Einfälle auf, als er sonst, oder als Heinrich jetzo tat. Alle Weiber, sogar die ohne Geist, sind über Dinge, die sie näher angehen, die feinsten Zeichendeuterinnen und prophetischen Hellseherinnen. Lenette beweiset es. Abends war Stiefel da, man disputierte, und dieser ließ es frei merken, daß er mit Salvian und mit mehren guten Theologen146 glaube, daß die Kinder Israel, deren Kleider 40 Jahre in der Wüste kein Loch bekamen, des Anzugs wegen immer in einem Wuchse blieben, ausgenommen Kinder, an denen der Rock, den man ihnen aus dem abgelegten Kleidernachlaß der Verstorbenen zugeschnitten, zugleich mit dem Körper in die Höhe und Breite wuchs; »auf diese Weise«, setzte er hinzu, »werden alle Schwierigkeiten des großen Wunders leicht durch kleine Nebenwunder aufgelöset.« – Leibgeber sagte mit einem funkelnden Auge: »Das glaubt' ich schon im Mutterleibe. Im ganzen israelitischen Heerzug konnt' es kein Loch geben, außer was man von Ägypten mitgebracht, und das wurde nicht größer. Ja gesetzt, einer riß sich in der Trauerzeit ein Loch in die Backe und in den Rock: so nähten sich beide Löcher selber miteinander wieder[483] zu. Jammer und schade ists, daß diese Armee die erste und die letzte blieb, bei der die Montur eine hübsche Art von Über-Körper war, der mit der Seele wuchs, um die er lief – und wo allmählich der polnische Rock zu einem Kur-Habit erstarkte, aus einem microvestis zu einem macrovestis heranwuchs. Ich seh' es, in der Wüste war Essen eine Tuchfabrik, Manna die englische Wolle und der Magen der Webstuhl. Ein Israelit, der sich gehörig mästete, lieferte damals das nötigste Landes- und Wüstenprodukt. Ich würde, wär' ich damals auf einem Werbplatz gestanden, nur den Rock des Rekruten unten an das Rekrutenmaß gehangen haben. Wie ists aber in unsrer Wüste, die nicht ins Gelobte Land, sondern nach Ägypten führt? – Bei den Regimentern wachsen das ganze Jahr die Gemeinen, aber kein Rock; ja die Monturen sind nur für dürre Jahre und dürre Leute gefertigt, in nassen ringeln sie sich zusammen als gute Feuchtigkeitmesser, und der Schweiß stiehlt mehr Tuch als der Kompanieschneider und selbst der Lieferant. Der Chef, der etwan auf eine Periphrase und einen Streckteich der Montierstücke gerechnet hätte, weil er außer den Israeliten auch an den Kleidermotten und Schnecken ein Beispiel sähe, die sich nicht nach der Decke, sondern nach denen sich die Decke strecket, ein solcher Chef würde, weil die Regimenter dann fast in einem Zustand wie die alten Athleten föchten, des Henkers dar über werden, und die Regimenter des Teufels.«

Diesen unschuldigen Sermon, der nur Stiefels exegetischen Wahnsinn beschießen sollte, glaubte Lenette auf ihren Kleiderschrank gerichtet. Diese Deutsche war wie der Deutsche, der hinter jeder Rakete und Pulverschlange der Laune einen besondern satirischen Kernschuß sucht. Siebenkäs bat ihn daher, seiner armen Frau, auf deren Herz jetzt ohnehin so viele scharf-gezähnte Schmerzen abgeschleudert würden, die unvermeidliche, unüberwindliche Unwissenheit ihrer Exegese nachzusehen oder lieber gar zu ersparen. –

Es ging endlich ein Kuhschnappler Bader mit Tod ab, der dem teuern Tischler unter den Hobel fiel. »Nun hab' ich«, sagte Firmian lateinisch, »mit dem Schlagfluß keine Minute zu passen;[484] wer steht mir dafür, daß mir kein Mensch vorstirbt und den wohlfeilen Tischler wegfängt?« – Daher wurde auf den nächsten Abend das Erkranken anberaumt.

141

Der sich durch gemalte Disteln, wie Swift durch andere, auszeichnete.

142

Dreyers Miszellen. S. 105.

143

Westenrieders Kalender von 1791.

144

Nichts ist unvernünftiger, unbezwinglicher und unerklärlicher als der Ekel, dieser widersinnige Bund des Willens mit der Magenhaut. Cicero sagt: der Schamhafte bringt nicht gern den Namen der Schamhaftigkeit dieses transzendenten Ekels – auf die Zunge, und so geht der Ekle mit dem Ekel um, besonders da körperliche und moralische Reinheit Nachbarinnen sind, wie der reinliche und keusche Swift an sich zeigt. Sogar der körperliche Ekel, dessen Stoff mehr ein phantastischer als physischer ist, nimmt mehr das sittliche Gefühl in Anspruch, als man denkt. Gehe mit einem Magen, der Unverdautes oder Brechwein bei sich hat, über die Gasse: so wirst du an zwanzig Herzen und Gesichtern und, wenn du nach Hause kommst, an noch mehren Büchern ein innigeres sittliches und ästhetisches Mißfallen empfinden als sonst.

145

Ein Bettler in England der eine Bude voll Krücken, Augenpflaster, falscher Beine etc. besitzt, die jeder haben muß, der lahm, blind, hinkend sein will. Brit. Annal., I. B.

146

Bibliothèque ancienne et mod. T. IV. p. 59. 60. Solche Rezensionen, wie Le Clerc in dieser und in der Bibliothèque choisie verfertigte, sind zum Glück abgekommen, da sie sich von Büchern in nichts unterscheiden als in der Kürze und Fülle.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 473-485.
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