44. Zykel

[213] Endlich reisete man in den Garten aus; Pollux blieb ungern und nur auf Lianens Verheißung, ihm heute wieder ein Pferdstück zu zeichnen, als Schutzheiliger der Wiege zurück. Alban sagte zur höchsten Freude der Baumeisterin, die nun alles dem schönen Manne zeigen konnte, er habe noch wenig von Lilar gesehen. Wie reizend gingen vor ihm die befreundeten Gestalten nebeneinander! Chariton, wiewohl eine Frau, doch griechisch-schlank, flatterte als die kleinere Schwester neben der Lilientaille seiner ein wenig längern Liane fort; jene schien, nach der Einteilung der Landschaftsmaler, die Natur in Bewegung zu sein, Liane die Natur in Ruhe. Als er wieder neben Liane trat, an deren linken Hand Helena lief – zur rechten die Mutter –, so fand er ihr weich-niedergehendes Profil unbeschreiblich-rührend und um den Mund Züge, die der Schmerz zeichnet, die Narben wiederkehrender Tage; indes das schöne Mädchen in der Sonnenseite des Vollgesichts wie in ihrem leichten Gespräche eine unbefangene beglückende Heiterkeit entfaltete, die Albano, der noch an keiner Schultüre eines weiblichen Philanthropins angeklopft, mühsam mit ihrer weinenden Dichtkunst ausglich. O wenn die weibliche Träne leicht flieht, so entflattert ja noch leichter das weibliche Lächeln, und dieses ist ja noch öfter als jene nur Schein!

Er suchte aus Sehnsucht des durstigen Herzens das Händchen der Kleinen zu fassen, allein sie hing sich mit beiden auf Lianens Linke; entlief aber gleich und holte drei Irisblumen – wie sie, den[213] Schmetterlingen ähnlich – und teilte der Mutter eine zu und Lianen mit den Worten zwei: »Gib dem auch eine!« Und Liane reichte sie ihm freundlich-anschauend mit jenem heiligen Mädchenblicke, der hell und aufmerksam, aber nicht forschend, kindlich-teilnehmend ohne Geben und Fordern ist. Gleichwohl senkte sie diese heiligen Augen heute mehrmals nieder; aber – das zwang sie dazu – auf Zesaras felsigem, obwohl von der Liebe erweichtem Gesichte ruhte ein physiognomisches Recht des Stärkern, er schien eine scheue Seele mit hundert Augen anzusehen, und seine beiden wahren loderten so warm, obwohl ebenso rein, wie das Sonnenauge im Äther.

Die Irisblumen haben das Sonderbare, daß der eine sie riecht, der andre aber nicht; nur diesen dreieinigen Menschen taten sich die Kelche gleich weit auf, und sie erfreueten sich lange über die Gemeinschaft desselben Genusses. Helena lief voraus und verschwand hinter einem niedrigen Gebüsche; sie erwartete auf einer Kinderbank neben einem Kindertische lächelnd die Erwachsenen. Der gute alte Fürst hatte überall für Kinder niedrige Moosbänke, kleine Gartenstühle, Tischchen und Scherben-Orangerien und dergleichen um die Ruheplätze ihrer Eltern gestellt; denn er trug diese erquickenden offnen Blumen der Menschheit so nah' an seinem Herzen! – »Man wünscht so oft,« (sagte Liane) »in der patriarchalischen Zeit, oder in Arkadien und auf Otaheiti zu leben; die Kinder sind ja – glauben Sie es nicht? – überall dieselben, und man hat eben an ihnen das, was die fernste Zeit und die fernste Gegend nur gewähren mag.« – Er glaubt' es wohl und gern; aber er fragte sich immer: wie wird aus dem toten Meere des Hofes eine so unbefleckte Aphrodite geboren, wie aus dem salzigen Seewasser reiner Tau und Regen steigt? – Unter dem Sprechen zog sie zuweilen ein ungemein holdes – wie soll ichs beziffern – »Hm« nach, das, wiewohl ein Cour-Donatschnitzer, eine unsägliche Gutmütigkeit verriet; ich schreibe es aber nicht dazu her, damit den nächsten Sonntag alle Leserinnen diesen Interpunktionsreiz hören lassen.

»Das nämliche« (versetzte Albano, aber gutmeinend) »gilt von den Tieren; der Schwan dort ist wie der im Paradiese.« Sie nahm[214] es ebenso auf, wie ers meinte; aber die Ursache war der fromme Vater, Spener, ihr Lehrer; denn auf Albans Frage über Lilars Fülle an schönen sanften Tieren antwortete sie: »Der alte Herr liebte diese Wesen ordentlich zärtlich, und sie konnten ihn oft bis zu Tränen bringen. Der fromme Vater denkt auch so; er sagt, da sie alles auf Gottes Geheiß tun durch den Instinkt, so sei ihm, wenn er die elterliche Sorge für ihre Jungen sehe, so, als tue der Allgütige alles selber.« Sie stiegen jetzt eine halbbelaubte Brücke über einen langen, von Pappeln umflatterten Wasserspiegel hinauf, worin Lianens Ebenbild, nämlich ein Schwan, auf den Wasserringen schlief, den gebognen Hals schön auf den Rücken geschlungen, den Kopf auf dem Flügel, und leise mehr von den Lüften gedreht als von den Wellen. »So ruht die unschuldige Seele!« sagte Albano und dachte wohl an Liane, aber ohne Mut zum Bekenntnis. »Und so erwacht sie!« setzte bewegt Liane dazu, als diese weiße vergrößerte Taube den Kopf langsam von dem Flügel aufhob; denn sie dachte an das heutige Erwachen ihrer Mutter.

Chariton wandte sich, wie ganz aus hüpfenden Punkten zusammengesetzt, immer fragend an Liane: »Wollen wir dahin? Oder dorthinein? oder hier hinaus? – Wäre nur mein Herr da! der kennt alles!« – Sie hätte ihn gern um jede Quelle und Blume herumgeführt; und blickte dem Jünglinge so liebend wie der Freundin ins Gesicht. – Liane sagte ihr auf dem Kreuzwege an der Brücke: »sie glaube, das Flötental dort mit der leuchtenden Goldkugel sei vielleicht am schönsten, besonders für einen Freund der Musik; auch werde man sie da suchen, wenn man ihrer Mutter die Harfe bringe.« Sie hatte ihr mit dieser zurückzukommen versprochen. Sie mied alle Steige nach Süden, wo der Tartarus hinter seinem hohen Vorhange drohte.

Liane sprach jetzt über den Wettstreit der Malerei und Musik und über Herders reizenden offiziellen Bericht von diesem Streite; sie, wiewohl eine Zeichnerin, ergab sich, dem weiblichen und lyrischen Herzen gemäß, ganz den Tönen, und Albano, obwohl ein guter Klavierist, mehr den Farben. »Diese herrliche Landschaft« (sagte Albano) »ist ja ein Gemälde und jede menschliche[215] schöne Gestalt.« – »Wär' ich blind,« (sagte Chariton naiv) »so säh' ich ja meine schöne Liane nicht.« – Sie versetzte: »Mein Lehrer, der Kunstrat Fraischdörfer, setzte auch die Malerei über die Musik hinauf. Mir ist aber bei ihr, als hört' ich eine laute Vergangenheit oder eine laute Zukunft. Die Musik hat etwas Heiliges, sie kann nichts als das Gute67 malen, verschieden von andern Künsten.« – Wahrlich sie war selber eine moralische Kirchenmusik, die Engelstimme in der Orgel; der reine Albano fühlte neben ihr die Notwendigkeit und das Dasein einer noch zärtern Reinheit; und ihm schien, als könne ein Mann diese Seele, deren Verstand fast nur ein feineres Fühlen war, verletzen, ohne es selber zu wissen, wie Fenstergläser von reiner Durchsichtigkeit oft zerstoßen werden, weil sie unsichtbar erscheinen. Er drehte sich, weil er immer um einen Schritt voraus war, mechanisch um, und nicht nur das blühende Lilar, sondern auch Lianens volle Gestalt leuchtete ihm auf einmal und neugestaltet in die Seele. – – Nicht sie an sein Herz zu drücken, war jetzt sein Sehnen, sondern dieses Wesen, das so oft gelitten, aus jeder Flamme zu reißen, für sie mit dem Schwerte auf ihren Feind zu stürzen, sie durch die tiefen kalten Höllenflüsse des Lebens mächtig zu tragen – – das hätte sein Leben erleuchtet.

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Dieser Satz, daß die reine Musik ohne Text nichts Unmoralisches darzustellen vermöge, verdient von mir mehr untersucht und ausgeführt zu werden.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 213-216.
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