112. Zykel

[634] Wie wehte draußen – als sie in die festliche Welt kamen – das kühle Himmelsblau herab statt der Erdenlüfte! Wie glänzte die Welt und der Tag – und die Zukunft! Wie schäumte im Lebenskelche der Liebestrank, für jeden der drei Menschen aus zwei berauschenden Mitteln gemacht, glänzend über! –[634]

Sie folgten dem Wege nach dem Gipfel des Epomeo, aber in ausweichender Freiheit und in einem Wechsel der Natur, der nirgends weiter auf der Erde so ist. Sie begegneten Tälern mit Lorbeern und Kirschen, mit Rosen und Primeln zugleich. – Es kamen kühle Schluchten, mit reifen Orangen und Äpfeln ausgefüllt, neben heißen Felsen von Aloe und Granaten, und an die Gipfel des Kirsch- und Apfelbaums rührten oben die Wein- und Orangenblüten. – In den blühenden Klüften schlugen sichere Nachtigallen, und aus den Ritzen schossen giftlose Schlangenköpfe ans Licht – Zuweilen kam ein Kloster in einem Zitronenwäldchen, zuweilen ein weißes Haus am Weingarten, bald eine kühle Grotte, bald ein Kohlgarten neben rotem Klee, bald eine kleine Aue voll weißer Rosenblumen und Narzissen, und überall ein Mensch, der singend, tanzend und anredend vorüberging. – Wechselnd deckten Höhen und Gärten das Land und das Wasser auf und zu, und lange schimmerte oft das weite ferne Meer und seine Wolken-Küste wie ein zweiter Himmel durch die grünen Zweige nach. –

Sie kamen dem Hause des Einsiedlers auf dem Gipfel immer näher, auf bunten goldnen Schwungfedern des Lebens sich wiegend. Sie sagten einander zuweilen ein freudiges Wort, aber nicht um sich mitzuteilen, sondern weil das Herz nicht anders konnte und ein Wort nichts war als ein freudiger Seufzer. Sie standen endlich auf dem Erden-Thron und blickten wie von der Sonne herunter. Rings um sie war das Meer gelagert, ins Blau des Horizonts verschmolzen – von Kapua her zog in der Tiefe der weiße Apennin um den Vesuv und herüber auf der langen Küste Sorrentos fort – und vom Pausilipp an verfolgten die Länder das Meer bis über Mola und Terracina – auf der geöffneten Welt-Fläche erschien alles, die Vorgebürge, die gelben Krater-Ränder auf den Küsten und die Inseln rings umher, die der verhüllte fürchterliche Gott unter dem Meere aus seinem Feuerreich an die Sonne getrieben – und das holde Ischia, mit seinen kleinen Städten an den Ufern und mit seinen kleinen Gärten und Kratern, stand wie ein grünendes Schiff im großen Meer und ruhte auf zahllosen Wogen.

Da verschwanden drunten die Größen der Erde, nur die Erde[635] allein war groß, und die Sonne mit ihrem Himmel wars. »O wie sind wir glücklich!« sagte Albano. Ja, ihr waret glücklich dort, wer wird es nach euch sein? – Sich auf dem Baum des Lebens wiegend, auf welchen schon sein Kindes-Auge so früh und sehnsüchtig geblickt, sagt' er alles, was ihn erhob und ergriff: »Daran erkenn' ich die Allgewaltige, zornig und flammend steigt sie aus dem Meersboden herauf, pflanzt ein brennendes Land, und dann teilt sie wieder lächelnd an ihre Kinder Blumen aus; so sei der Mensch, Vulkan – dann Blume.« – »Was sind dagegen« (sagte Julienne) »alle Winterlustbarkeiten des deutschen Wonnemonds! Ist das nicht eine kleinere Schweiz, nur in einem größern Genfersee?« – Die Gräfin, durch ihr Spanien einheimischer in solchen Reizen, hielt sich meistens still. »Der Mensch« (sagte sie »ist die Oreade und Hamadryade oder sonst eine Gottheit und beseelet Wald und Tal, und den Menschen selber beseelet wieder ein Mensch.«

Der Einsiedler erschien und sagte, ihr heraufgesandtes Mahl sei längst angekommen; er lobte seine Höhe mit: »Oft« (sagt' er und machte Julienne lachen) »raucht mein Berg wie der Vesuv, und Badgäste sehen herauf und fürchten etwas, es ist aber, weil ich mein Brot hier oben backe.« – Sie lagerten sich im schattigen Freien. Man mußte immer wieder auf die liebliche verkleinerte Insel hinabsehen, die mit ihren in Gärten gesäeten Gärten, mit ihren mit Herbsten durchflochtenen Frühlingen so ganz und nahe lag, ein großer Familiengarten, wo die Menschen alle beisammen wohnen, weil nicht Länder sich mit Ländern verwirren, und die Bienen und die Lerchen fliegen nicht weit über den Garten des Meeres hinaus. Gleich offnen stillen Blumen waren die drei Seelen nebeneinander, duftend fliegt der Blumenstaub hin und her, neue Blumen zu erzeugen. Linda versank ganz in ihr großes tiefes Herz; der Liebe ungewohnt, wollte sie sie darin anschauen und genießen, indes kein Wort Albanos ihr entfloh, denn es gehörte zur Liebe im Herzen. Von Milde übergossen und sinnend war sie da, mit dem großen Auge halb unter dem niedergehenden Augenlid – nach ihrer Sitte immer lange schweigend wie lange sprechend. Wie der Diamant ebenso glänzt wie der Tautropfe,[636] nur aber mit fester Kraft und auch ohne Sonne: war ihr Herz dem weichsten in jeder weiblichen Milde und Reine gleich und übertraf es nur an Stärke. Entzückt sah Julienne es an, wenn sie etwa – nach einem kindlichen Vergessen Albanos, weil ihr Rede-Strom sie von einer Welt in die andere gerissen – plötzlich und mit unbefangener Freude mit ihrer feingeformten Hand zu des Jünglings seiner zurückkehrte, dem ihr Händedruck nichts Kleineres war als eine zärtere Umarmung.

Sie nahmen den nähern Rückweg gegen Albanos Wohnung herab, die immer in ihrem Reben-Geniste zu ihnen heraufsah. Man war noch so kurz beieinander – am Morgen reisete Albano. Er sollte von Portici aus schreiben, ein Bote den Brief holen »und er bringt mir auch einen«, sagt' er; – »gewiß nicht!« sagte Linda. Albano bat. »Sie wird sich schon ändern und schreiben«, sagte Julienne. Sie verneinte. Allmählich liefen Schattenfurchen neben den schwarzen Lavaströmen den Berg hinab, und in den Pappeln fingen Nachtigallen schon ihre melodische Dämmerung an. Sie kamen Albanos Hause nahe; Dian lief entzückt der Prinzessin entgegen. Albano bat ihn, ohne beide gefragt zu haben, eine Barke zu schaffen, damit man den Abend genieße. Gerade zu gewaltsamen Anträgen der Freude sagen die Mädchen am liebsten das Ja. Dian war sogleich mit einer zur Hand; mit seiner Freude hing er schnell an jeder fremden.

Sie stiegen alle ein und fuhren unter die Sonnenblumen, die jeder Sonnenstrahl auf die Wellen-Beete immer dichter pflanzte. Albano vergaß – im jetzigen Feuer, gewohnt an die Sitten des warmen Landes, wo der Liebende vor der Mutter spricht und sie von ihm mit der Tochter, wo die Liebe keinen Schleier trägt, nur der Haß und das Gesicht, und wo die Myrte in jedem Sinne die Einfassung der Felder ist – sich einen Augenblick vor Dian und nahm Lindas Hand; schnell entriß sie ihm sie, der Mädchen-Sitte treu, die den Arm verschenkt und den Finger und Fingerhut verweigert. Aber sie sah ihn sanft an, wenn sie abgeschlagen.

Sie kamen auf ihrer Fahrt von Osten nach Norden wieder vor dem Felsen mit den Häusern und vor den Gassen der Ufer-Vorstadt vorüber. Alles war froh und freundlich – alles sang, was[637] nicht schwatzte – die Dächer waren mit Webstühlen seidner Bänder besetzt, und die Weberinnen sprachen und sangen zusammen von Dach zu Dach. Julienne konnte kaum das Auge von diesem südlichen Vereine ablassen. Sie zogen weiter ins Meer, und die Sonne ging ihm näher zu. Die Wellen und die Lüfte spielten miteinander, jene wehend, diese wogend – Himmel und Meer wurden zu einem Blau gewölbt, und in ihrer Mitte schwebte, frei wie ein Geist im All, das leichte Schiff der Liebe. – Der Umkreis der Welt wurde ein goldner geschwollner Ährenkranz voll glühender Küsten und Inseln – Gondeln flogen singend ins Weite und hatten schon Fackeln für die Nacht bereit – zuweilen zog hinter ihnen ein fliegender Fisch seinen Bogen in der Luft, und Dian sang ihnen ihre bekannten vorübergleitenden Lieder nach. – Dort segelten stolz und langsam große Schiffe her, mit rotem und blauem Helmbusch gleich dem Himmel flatternd, und als Sieger dem Hafen zu. – Überall war Lebens-Most ausgegossen und arbeitete brausend – So spielte eine göttliche Welt um den Menschen! »O hier an dieser großen Stelle,« (sagte Albano) »wo alles Platz hat, die Paradiese und die schwarzen Orkus-Ufer aus Lava – und das weiche Meer – und Vesuvs graues Gorgonenhaupt – und die spielenden Menschen – und die Blüten und alles – hier, wo man glühen muß wie eine Lava – dürfte man da nicht sich gleich der heißen Lava umher in die Wellen begraben in seiner Glut, wenn man wüßte, es könne etwas vergehen von dieser Stunde, nur etwas vom Andenken davon, oder ein Pulsschlag für ein Herz? – Wäre das nicht besser?« – »Vielleicht«, sagte Linda. – Julienne wurde durch die weiche Freude vor das ferne Krankenbette ihres Bruders gezogen und sagte lächelnd: »Kann man es nicht wie die schöne Sonne drüben machen und unter die Wellen gehen und doch wiederkommen? – Schauet doch ihrem Untergange recht zu, nirgends ist er auf der Erde so.«

Die Sonne stand schon, zu einem großen Goldschild gewachsen, vom Himmel gehalten, über den Ponzischen Inseln und vergoldete das Blau derselben – die weiße Krone aus Felsen-Stacheln, Kapri, lag in Glut, und von Sorrentos bis Gaetas Küsten war den Welt-Mauern dämmerndes Gold angeflogen – die Erde[638] rollte mit ihrer Achse wie mit einer Spielwelle nahe an der Sonne und schlug aus ihr Strahlen und Töne – seitwärts lagerte sich versteckt der Riesen-Bote der Nacht auf das Meer, der unendliche Schatte des Epomeo.

Jetzt berührte die Sonne ihr Meer, und ein goldner Blitz zitterte durch den nassen Äther umher – und sie wiegte sich auf tausend feurigen Wellen-Flügeln – und sie zuckte und hing liebesbrünstig, liebeglühend an dem Meere, und das Meer sog brennend alle ihre Glut – Da warf es, als sie vergehen wollte, die Decke eines unendlichen Glanzes über die erblassende Göttin – – Dann wurd' es still auf der Welt – eine bewegliche Abendröte überfloß mit Rosen-Öl alle Wogen – die heiligen Untergangs-Inseln standen verklärt – die fernsten Küsten traten heran und zeigten ihr Rot der Entzückung – auf allen Höhen hingen Rosenkränze – der Epomeo glühte bis zum Äther hinauf, und auf dem ewigen Wolkenbaum, der aus dem hohlen Vesuv aufwächset, verglomm im Gipfel der letzte dünne Glanz.

Sprachlos wandten sich die Menschen von dem Westen nach dem Ufer um. Die Schiffer fingen wieder an zu sprechen. »Mache,« (bat Linda ihre Freundin leise) »daß dein Bruder sich immer nach Abend wendet.« Sie erfüllte die Bitte, ohne deren Grund sogleich zu erraten. Immer sah Linda in sein schön beglänztes Angesicht. »Bitt ihn wieder,« (sagte sie zum zweitenmal) »es dämmert zu sehr, und meine kranken Augen sehen ohne Licht so übel.« Es geschah nicht; denn sie stiegen sogleich ans Ufer. Die Erde zitterte ihnen, da sie sie betraten, als ein Sangboden der seligen Stunde nach. Albano war in sprachloser Rührung auf das geliebte Angesicht geheftet, das er bald wieder verlassen sollte; »ich schreibe Ihnen«, sagte sie unaufgefodert mit einem so rührenden Widerrufe der vorigen Drohung, daß er sich, wär' er nicht unter fremden Augen gewesen, danktrunken auf ihre Hand, an ihr edles Herz gestürzet hätte. Das Scheiden und das Ende eines harmonischen Tages wurde schwer, worin der Ton jeder einzelnen Minute wieder ein Dreiklang gewesen. Jetzt schied Dian schon. »Nicht einmal die Rosen des Abends« (sagte Julienne) »sind ohne Dornen.« – »Abgebrochen, ist überall das beste; wir wollen nach Hause«,[639] sagte Linda. Albano bat, daß er begleiten dürfe. »Wozu?« sagte Linda. – Leise setzte sie ihrer Augen wegen dabei: »Ich kann Euch kaum mehr sehen – indes kommt nur, ich höre doch.« – »Schöne Veränderliche!« sagte Julienne. »Ich verändere mich,« (sagte sie) »aber kein anderer – nur bis zur Kapelle, Albano, Ihr schiffet morgen früh fort.« – »Nicht einmal, heute noch vielleicht«, sagte er.

Indem sie nun so langsam und immer langsamer den Berg hinangingen und die Nachtigallen schlugen und die Myrtenblüten dufteten und die lauen Lüfte flatterten und oben die ganze zweite Welt wie eine verschleierte Nonne durch die Silber-Gitter der Sternbilder heilig schauete: so überfloß jedes Herz von treuer Liebe, und der Bruder und die Schwester und die Geliebte nahmen wechselnd einander die Hand.

Auf einmal stand Linda an der Stelle der gestrigen Vereinigung und sagte: »Hier soll er gehen, Julienne!« und zog schnell ihre Hand aus seiner und streichelte leicht über seine Locken und seine Wange und dann über sein Auge und fragte: »Wie?« in einen Traum verirrt. »Gleich,« (sagte Julienne) »aber auf den italienischen Winter muß man doch, um nur heimzukommen, gar warten, auf den Mond.« Da fiel der Bruder der zarten Schwester, welche ihm dadurch die längere Gegenwart und der Freundin das Wiedersehen durch die stärkere Beleuchtung zubereiten wollte, an das Herz und rief mit Tränen aus: »O Schwester, wie viel hast du nicht für mich getan, eh' ich etwas tun oder dir danken konnte – du reichst mir ja alles, jedes Glück, die höchste Seligkeit, o wie bist du!« – »Der Mond ist da!« (rief sie) »nun reise glücklich und scheide!«

Wie ein silberner Tag war der Mond auf die Gebürge heraufgetreten, und die verklärte Geliebte sah des Geliebten blühendes Angesicht wieder. Er nahm ihre Hand und sagte: »Lebe wohl, Linda!« – sie sahen sich lange an, die Augen voll Seelen, und sie wurden sich fremder und höher – da drückte er, ohne zu wissen wie, die erhabene Jungfrau, wie ein seliger Geist eine Frühlingssonne, sich an das Herz – und er berührte das Heiligtum ihres Angesichts mit dem seinigen, und wie Morgenröten zweier Welten[640] schmolzen ihre Lippen zusammen. Linda schloß die Augen und küßte zagend, und nur ein einziges Leben und Glück rollte und glühte zwischen zwei Herzen und Lippen. Julienne umschlang leise die Umarmung mit ihrer und begehrte kein anderes Glück. Darauf schieden alle, ohne wieder zu sprechen oder sich umzusehen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 634-641.
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