Viertes Kapitel
über Einfachheit und Klassischsein

[353] Keine Begriffe werden willkürlicher verbraucht als die von Einfachheit und von Klassizität. Da klassisch überall jedes Höchste in seiner Art bedeutet, jeden noch so tiefen Stern, der hinter und vor uns durch die Mittaglinie geht, folglich das Höchste jedes Stofs – wie es denn klassische Forst-, Bienen- und Wörter-Bücher gibt –: so muß das Höchste dieser Höhen, gleichsam der Stern, der durch Mittaglinie und Scheitelpunkt zugleich durch geht, jenes sein, das Stoff und Form zugleich zu einem Höchsten verschmelzt; und dies ist nur der Fall der poetischen Genialität.

Keine Philosophie heißet klassisch, weil der Weg zur Wahrheit – der Stoff – unendlich ist. Ein sonst vielseitiger Kunstrichter ließ darwider drucken: »Nicht der Grad des ästhetischen Werts macht ein Werk klassisch, sondern der höchste Grad der ästhetischen Kultur, nämlich Vollendung der poetischen Sprache, reinste Natürlichkeit der Bilder, Ebenmaß der Gedanken, ohne Nachteil der Kraft und Wärme.« Als bezeugende Beispiele ruft er Homer, Pindar, Sophokles, Petrarch, Ariosto, Cervantes, Klopstock, Goethe auf. Ich frage aber: was heißt denn überhaupt ein ästhetischer Wert, entblößt von allen den vorgezählten Merkmalen ästhetischer Bildung, von poetischer Sprache, von natürlichen Bildern, von Kraft und Wärme und Maß? Kann sich denn der ästhetische Wert, d.h. der geniale, gleichsam als Seele anders darstellen als in den ebengedachten ästhetischen Merkmalen, die er als die Körperteile sich anbildet? Ich wende nicht einmal die Erschleichungen durch die unbestimmte höchstgrade- reinste Natürlichkeit, Vollendung der Sprache ein, indem sie alles voraus setzen, was eben erst zu setzen ist. Darauf fährt der Kunstrichter fort: »Der Begriff des Klassischen gehört unter die stetigen Begriffe.[353] Ein Kunstwerk ist entweder schlechthin klassisch oder gar nicht, aber nicht mehr oder weniger« – dasselbe gilt auch für genial ganz und gar, und klassisch und genial verlieren sich ineinander, weil beide als solche kein Mehr und Minder kennen. Aber in diesem Sinne, worin Klassischsein einem Allstichspiele gleicht, worin nur der gewinnt, der gar keinen Stich verliert, ist kein einziger unter den vom Kunstrichter genannten Klassikern klassisch; kaum Sophokles ausgenommen: denn auch an ihm haben Longin (them. 33) und Aristophanes (obwohl nur von weitem in den Fröschen) auszusetzen. Über die kleinen Verfinsterungen aller dieser Himmelkörper haben wir ja die alten und neuen Tabellen in Händen. Wenn nun alle Klassiker nur durch die Mehrheit glänzender Teile sich über die Gemeinen und doch Tadelfreien erheben: so fragt sich, ob diese Mehrheit in sogenannten sprach-klassischen oder ob in genialen Teilen bestehe. In den letzten durchdringt sich, wie gesagt, von selber Stoff und Form, Seel' und Leib erschaffen sich gegenseitig, aber die ersten würden nur eine negative, ja bloße grammatische Musterhaftigkeit geben, und so wäre denn, mit Longin zu reden, ein Ion aus Chios klassischer als Sophokles, und Adelungs Geschichte der Menschheit klassischer als die Herdersche, und Goethe hätte vor Merkels Köpfchen den Hut abzunehmen. Kurz das Klassische kann nicht in der Minderzahl der Flecken, sondern in der Mehrzahl der Strahlen bestehen. Auch nach dem vorigen Kunstrichter kann nichts klassisch sein, was höher zu treiben ist – daher keine Philosophie klassisch zu nennen, weil der Weg zur Wahrheit, der Stoff, unendlich ist –; aber daher ist dann jede noch lebende Sprache nur für die Gegenwart klassisch, weil sie Blüten abwirft und nachtreibt. Jede alte tote war auch so lange keine klassische, als sie fort- und nachwuchs; nur ihr Tod gab ihr feste Verklärung.

Und warum wollen wir es überhaupt vergessen, daß der Titel klassisch zuerst im Zeitalter der Barbarei durch den Gegensatz von kenntnisloser Roheit eine viel stärkere Bedeutung angenommen, als wir jetzo im Zeitalter der Bildung, das nur Hohes mit Höherem vergleicht, fortgebrauchen können? Vielleicht wären – so kühn der Gedanke ist – ein Klopstock, ein Herder, ein[354] Schiller rück- oder nachwärts selber den Griechen klassisch; und der Ort wäre leider für alle dazu schon da, nämlich die zweite Welt, auf welcher das Kleeblatt schon blüht. – Die Alten kannten wohl begeisterte Dichter, aber keine Muster-Dichter; daher war nicht einmal das Wort »Geschmack« – welches sonst in dem Klassischsein König ist – in ihrer Sprache vorhanden; und nur in den bildenden Künsten, in den für alle Augen unveränderlichen, erkannten sie einen Polyklets-Kanon an.221

Das Höchste der Form oder Darstellung als einer klassischen kann noch auf zweierlei Weise falsch genommen werden: man verwechselt die Darstellung entweder mit grammatischer Regelmäßigkeit oder mit rhetorischer. Das gemeine (Schreib- und Lese-) Volk, unempfänglich für die poetische Vollkommenheit und Darstellung, will gern die grammatische – durch den Sprung von Werken in toten Sprachen, wo jedes Wort entscheidet und befiehlt, auf Werke in lebendigen – zum Ordensterne des Klassischen machen. Dann wäre aber niemand klassisch als einige Sprach- und Schulmeister, kein einziger Genius; die meisten Franzosen sind dann klassisch, wenige Männer wie Rousseau und Montaigne ausgenommen, und jeder könnte klassisch werden lernen.

Ein Genie an und für sich, kann man sagen, ist nicht grammatisches Musterbild, wenn es nicht zugleich wie Klopstock und Lessing auch Sprachforscher ist; ja sogar hier entscheidet es nicht durch seine Schaffkraft, sondern durch Sprachkunde. Gleichwohl verewigt ein Genius Wörter und Wortfügungen, durch sich und durch Nachahmer; und im ganzen seh' ich nicht ein, warum ich eine Sprach-Abweichung lieber aus der Waldung des wilden Ur-Deutschlands holen will als aus dem englischen Garten eines Genius. Am Ende dankt man doch Gott für die perennierende Monstrose (fortjährige Pflanzenregellose), wie z.B. Denker (wogegen Adelung mit Recht viel hat); hätten wir nur nach Ähnlichkeit von Seher, Hörer, Schmecker noch mehr, z.B. Sinner,[355] Fühler, Taster, Rührer etc. So ist Vossens griechisch-lateinische Trennung des Genitivs vom regierenden Worte ein wahres Geschenk an die Dichtkunst bei schüchterner Anwendung.

Die zweite Verwechslung, nämlich mit rhetorischer Regelmäßigkeit, lässet im literarischen Weltgebäude nur die Monde stehen und tilgt die Sonnen. Shakespeare wäre dann nicht klassisch, aber Addison; Platon nicht, aber Xenophon; Herder stände unter Engel, Goethe unter Manso. Sobald etwas anders klassisch ist als Genialität: so wird – da das Gewöhnliche stets leichter regelrecht auszudrücken ist, schon darum, weil es schon mehrmals ausgedrückt wurde222 – die Schwäche zur Trägerin der Stärke gemacht, der Ring um den Saturn zu dessen fesselndem Zauberkreise und der Mondhof zum Leitstern der Sonne. Wollen wir lieber dem ebenso scharfen als hohen Longin – dessen Erhabenes leider, wie andere Tempel, nur zerbröckelt auf uns gekommen – verständig antworten, wenn er fragt (Thema 33. 34. 35. 36), ob man wohl lieber der fehlerlose Dichter Apollonius, Theokrit, Bakchylides gewesen sein wolle, oder lieber ein Homer und Pindar mit Fehlern? Oder ob wohl lieber ein Redner Hyperides voll lauter untadelhafter Geschicklichkeiten als ein Demosthenes voll Gewitter?

Ebenso irrt man über die sogenannte Einfachheit (Simplizität). Denn die wahre wohnt nicht in den Teilen, sondern organisch im Ganzen als Seele, welche die widerstrebenden Teile223 zu einem Leben zusammenhält. In diesem Sinne sind der große, seine große Materie geistig bändigende Shakespeare und der bilderreiche Wilde und Morgenländer so einfach als Sophokles. Die scheinbare Einfachheit besteht in der Ähnlichkeit toter Teile, die kein Geist organisiert; in der zerstückten Harmonie und Melodie eines Farbenklaviers,[356] das niemals ein Gemälde wird; in der Abwesenheit kecker Bilder und in »bremischen Belustigungen des Verstandes und Witzes«. In der Kälte ist es leicht, nicht zu warm zu sein; so wie die Sonne gerade in den härtesten Wintern fleckenlos erschien. Ja die scheinbare Einheit solcher geschmackvollen und geistlosen Werke mögen die Holzbücher im kasselschen Naturalienkabinette erreichen: das Buch ist vom Holze, z.B. des Lorbeerbaumes, darin sind dessen Blüten, die Rinde, der Same und die Blätter, kurz dem Gewächse fehlt nichts als das – Leben; so aber ists ein Buch. Die Geschmack-Leute glauben viel bedacht zu haben, sobald sie die Pferde, die sie vor Apollos Wagen oft zugleich an die Vorder- und an die Hinterräder spannen, nur von einer Farbe ausgewählt. Himmel, schirret, was ihr wollt, an, Pferde, Drachen, Tauben; nur aber an die Deichsel, und nur lenke der Musengott! Man organisiere aber einmal einen Band Sinngedichte! Denn die gallische Poesie ist bloß ein längeres Epigramm; ja sogar ihre vorige Revolution-Beredsamkeit war eine Spitzen-Manschette von Droh-, Prahl- und Lob-Pointes. Dennoch wirkt es, ein Bonmot ist dem Gallier ein Stichwort zur Rolle, der wahre Logos, die wahre Logik; witzige Einfälle unterstützen kriegerische und umgekehrt, und das Bonmot als Parisien oder Galanteriedegen wird leicht ein längeres Gewehr....

Hier fiel plötzlich einer meiner Zuhörer (er wollte ein Persifleur oder Auspfeifer sein) mit den Worten ein, er falle dergleichen Einfälle weder an, noch weniger ihnen zu mit Beifall – es seien der Vorfälle, Unfälle und Fälle so viele, daß er keinen Fall mathematisch zu setzen wage; nur aber zu bedenken bitte, wo man denn sei, nämlich in Reichels Garten in Leipzig in Sachsen, und daß am linken Pleiße-Ufer ein französischer fester Platz liege, nämlich der la place de répos, um von der harmonie, der ressource und den Präadamiten der émigrés, den Kolonisten, gar nicht zu sprechen. Auch einige sächsische Buchhändler stimmten ihm bei. – Vorleser erwiderte aber sehr gesetzt, er hoffe, jetzo sei in Deutschland eine bessere Zeit, als unter der Revolution gewesen, angebrochen, und es sei wohl nun in keinem deutschen Staate mehr verboten (wie etwa sonst), von Frankreich das Beste zu[357] sagen; die Sturmzeit, wo wir Deutsche vergeblich an der gallischen Freiheit Teil zu nehmen wünschten, sei vorüber.

– Indes, meine Herren, fuhr ich fort, ist es hier der Ort und Tag, sämtliche Zeitungen und Journale wacker anzugreifen in dem

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Eben les' ich, was meine Behauptungen über die Schönheit der bildenden Künste (im 1ten und 5ten Programm) bestätigt, daß nämlich Blumenbach die Verhältnisse eines Mannes aus der Schönheit-Insel Nukahiwa ganz den Verhältnissen des Apollo von Belvedere gleich gefunden. Langsdorfs Reisen um die Welt. I. B.

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Vielleicht darum auch, weil man Mäßigkeit nirgends so aufmerksam beobachtet als in Armenhäusern, Wüsten und Schiffen. Für den französischen Geschmack gilt, was Rackenitz von den französischen Gärten sagt daß sie in dürftigen magern Gegenden gar nicht zu verwerfen sind. Ein mäßiges Mittagessen, sagte Alexander, ist das beste Zugemüse des Abendessens, d.h. frühere Armut ist die würze der spätern.

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Oft entstehen doch in organischen Werken Mißgeburten, aber durch übrig gebliebene Glieder nach Bonnets Meinung; man wende dies auf viele Verfasser an, z.B. auf den uns allen wohl bekannten.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 353-358.
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