Auf Palemons Flügel

[197] (Den 20ten des Heumonats 1761.)


Wo war ich, als mit tausend Zungen

Die Göttin Harmonie im Flügel mir gesungen!

Mein Ohr vernahm, mein Herz zerschmolz.

Ihr Musen! mit Apollens ganzer Stärke,

Thut eure Schwester Wunderwerke

In diesem ausgehöhlten Holz!


Ihr singt mit unbelebtem Thone

Von Helden in dem Streit, vom König auf dem Throne,

Von Freundschaft, Liebe, Kuß und Wein.

Das Ohr, der Witz bewundern eure Scherze;

Sie aber nimmt des Menschen Herze,

Die ganze Seele nimmt sie ein
[198]

Jetzt thönt sie langsam; sanfte Trauer

Dringt schmeichelnd in die Brust, und mich ergreift ein Schauer,

Ein Gram, der Wollust bey sich führt.

Jetzt hebt sie sich. O! welch ein himmlisch Feuer

Empfind ich! So hat Orpheus Leyer

Mit zauberischer Kraft gerührt.


Welch eine Majestät! Wie prächtig

Ist ihr Geräusch! So wie entfernter Donner mächtig,

Und dennoch uns nicht furchtbar rollt.

Nun singt sie lieblich, wie ihr Nachtigallen

Wenn ihr durch hohen Thon gefallen,

Durch Seufzer uns entzücken wollt!


O Thonkunst! schwesterliche Schöne

Der Muse! welch ein Gott gab in die Erden-Söhne

Dich zu erfinden, den Verstand?

Nein dich hat nicht der Menschen Witz gebohren,

Du bist (für Weise, nicht für Thoren:)

Von dem Olymp herabgesandt!
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Und du, fein ausgehöhlte Ceder,

Du Flügel! zaubere, wann nah an dir ein Spröder

Und ein zu stolzes Mädchen, stehn.

Dann sollst du die verschmähte Liebe rächen.

Der Jüngling soll durch Seufzer sprechen,

Das Mädchen fort zu weinen gehn!

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 197-200.
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