An Herrn Gleim.

Bey Besteigung des Spiegelberges ohnweit Halberstadt

[203] (Zu Halberstadt den 26ten des Herbstmonaths 1761.)


Gieb mir die Hand! bald ist der Berg erstiegen;

Uns stürzt der Wagen, wenn er höher fährt

Komm Freund! Das grössere Vergnügen

Ist kleiner Mühe werth!


Wir schreiten fort. Die Diestel muß sich beugen.

So bringt ein Weiser, edel im Entschluß

Die Schwierigkeiten, die sich zeigen

Großmüthig unterm Fuß.


Mir klopft das Herz, bald hörst du seine Schläge

Ich athme schwer. Freund, ob ich zaudern will

Fragst du? – Steht denn auf ihrem Wege,

Die Tugend jemahls still?
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Nun stehn wir oben. Siehe doch, mein lieber!

Das öde Thal ist noch nicht ohne Reiz;

Dem kleinen Goldbach1 gegenüber

Sucht sich der Heerde Geiz


Am Fuß des Berges noch die magern Halmen

Des Grases, das im Frühlings Ueberfluß

Dort grünte. O, der singe Psalmen

Der Brod nicht suchen muß!


Doch wenig Brod bey Freunden deines gleichen

Bey innrer Ruh, ist lieblicher dem Gaum

Als Tafeln unzufriedner Reichen,

Als ihrer Freunde Traum.


Sieh doch, ein Völckchen Hühner! ruhig lagen

Im hohen welkgewordnen Grase sie.

Flieht nicht vor uns, wir Dichter jagen

Den frommen Vogel nie,
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Der ohne Lippe mit dem Schnabel küssen

Die Gattin kann, von gleichgeschaffner Art.

Gott, den die Hügel hören müssen

Hat alles Fleisch gepaart.


Auch dich erschuf sein Wille nicht zum Feinde

Der Mädchen, aber keines bindet dich;

Du liebest zärtlich deine Freunde,

Als Freundin liebe mich!

Fußnoten

1 Der Goldbach fließt nah am Spiegelberge.


Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 203-206.
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