Sapho an Amor

[251] Sohn Cytherens, kleiner Weltbezwinger!

Welch ein Schmerz durchtobte deinen Finger

Von dem Stich der Honigträgerin!

O empfind ihn noch, wie Schlangenbisse

Und dann denke, was ich leiden müsse,

Da ich wund von deinem Pfeile bin!


Nicht im Finger, nicht in weichen Backen,

Oder in dem hartgenervten Nacken,

Nein im Herzen fühl ich deinen Schuß!

Ach du hast den Pfeil mit Gift bestrichen,

Tausend Pfeile fühl ich in den Stichen,

Welche machen, daß ich seufzen muß!
[252]

Habe Mitleid! Nimm itzt deinen Köcher,

Göttern ziemet ja das Amt der Rächer

Und dein Bogen ist zur Rache stark!

Eile, räche mich! ach! Amor eile

Nicht allein die Spitze von dem Pfeile,

Gluth in mir verzehret Blut und Mark!


Jener Phaon mit den feuervollen

Schwarzen Augen, die mich tödten wollen

Und mit einem Munde rosenweich,

Findet Wollust in der Kunst zu quälen.

Zwölf betrübte Tage muß ich zählen

Jeder ist den Erndte-Tagen gleich.


O du kennst die Thäler, wo er gehet,

Dort, wo deiner Mutter Bildniß stehet

In dem Palmen-Hayn, da wandelt er!

Such ihn unter dickbelaubten Eichen,

Und will er zu Rosenhecken weichen,

Flattre um ihn, wie ein Vogel her,
[253]

Hurtig ist er, gleich den jungen Rehen!

Aber bleibt er an dem Wasser stehen,

Wo der weiche Klee am Ufer grünt;

Dann erinnre dich, was ich gelitten,

Spann den Bogen, faß ihn in der Mitten,

Triff die Stelle, die den Pfeil verdient!


In sein Herz, noch kälter als die Schollen,

Die dem Blick der Sonne trotzen wollen,

Amor, in sein Herze ziele du.

Dann wird ihm die tiefe Wunde schmerzen,

Und er eilt mit halb zerschmolznem Herzen

Reue fühlend meinen Armen zu.[254]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 251-255.
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