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[310] Im Lande, wo Horaz Gesänge
Umher erschallen ließ, wo unter grüne Gänge
Zu jeder Jahreszeit der Jüngling hoffend geht,
Der mit dem Mädchen sich versteht:
In Welschland war ein Hirtenknabe,
Der niemals las, und niemals schrieb,
Und von der Kindheit an, bey stillen Schaafen blieb,
Ganz unbekannt mit der in ihm verborgnen Gabe.
Einst stand er hingelehnt an seinem Hirtenstabe,
Da kam ein Pächter, las ihm seinen Tasso vor;
Der Schäfer stand, war lauter Ohr,[311]
Und ließ das Heldenlied sich in die Seele dringen,
Und fing den nächsten Tag den Schäfern auf der Flur
Ein neues Lied an vorzusingen.
Er sang die Schönheit der Natur,
Sang den Citronenwald, fruchtbare Feigenbäume,
Den Weinstock und ein blühend Thal.
Er zählte Sylben, und fand Reime,
Ohn daß ein Lehrer ihm die Wahl
Des schönen Ausdrucks wieß. Die Zärtlichkeit befahl
In ihm oft den Gesang. Er dichtete sich Träume,
Und bracht sie in das Lied, das er der Hirtin sang,
So rührend, daß er sie zu seiner Liebe zwang.
Mit jedem Tag ward ein Gesang
Dem Schäfervolk bekannt. Oft prieß er in dem Liede
Etruriens Glückseligkeit;
Denn eben zu derselben Zeit
War weit umher ein tiefer Friede![312]
Der Ruf von diesem Sänger flog
Bis an des Herzogs Hof. Bewunderung beweg
Den Fürsten, daß er schnell befohlen,
Den schäfrischen Ovid in den Pallast zu holen.
Er kam in seiner Hirtentracht,
Und, wie man sagt, hat er in zweymal dreißig Tagen
Zwey hundert Lieder ihm gemacht.
Doch länger konnt er nicht ertragen
Des Hofes Schmeicheley, die Falschheit unter Pracht
Verdeckt, und schön verhüllt, wie Gift in bunter Schlange.
Der Hirt, zu redlich, kam und trat
Vor seinen Herzog mit Gesange,
Worin er um Erlaubniß bat,
Auf seine stille Trift sich wieder zu begeben.
Herr Herzog! sang er, gieb du mir
Nur so viel Brodt, daß ich mit Laura könne leben,
Die ganze Welt hab ich in ihr.[313]
Der Herzog war ein römischer August;
Mit einer Meyerey belehnt er seinen Hirten;
Der sang, sich seines Glücks bewußt,
Noch dreyßig volle Jahr, und starb an Laurens Brust,
Sein graues Haupt bekränzt mit frischgebrochnen Myrten.
Wie glücklich, wenn ich einst bekränzt, und mit Gesang,
Aus meiner Freunde Arm, geh meinen letzten Gang!
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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