An den jungen Lenz

[322] Du junger Frühling kommst herab

Vom Schöpfer, um ganz neues Leben

Geschöpfen seiner Hand zu geben.

Das Blumen-Volk verläßt sein Grab,

Und mit empor gehobnem Haupte

Beschämt es den, der keinen Gott

Und für sich selbst Vernichtung glaubte.

Der Vogel wiederspricht des Wiedersprechers Spott.

Die Saat mit Millionen Zungen

Aus schwarzer Erd herauf gedrungen

Bestätiget, was er gesungen!

Der Linde Blätter lispeln nach;

Die Elbe rauscht und murmelnd spricht der Bach:[323]

»Es ist ein Gott, der laue Winde schickte,

»Den Schnee zerschmolz, das Eis zerbrach,

»Mit jungem Grün das Ufer schmückte

»Und diese Sonne scheinen läßt!

Nach sanft gefallnem Frühlingsregen

Quackt der erweckte Frosch sein Fest,

Und Fische scherzen ihr entgegen!

Der Hirt heißt seine Heerde leben!

Sie weidet jugendliches Graß,

Blöckt ihre Freuden laut, und hört ohn Unterlaß

Sich Thal und Hügel Antwort geben!

Die Honigträgerin verläßt ihr kleines Haus

Und saugt den Veilchen, wenn sie duften,

Die Süßigkeit des kleinen Kelches aus.

Die Schwalbe kommt aus Sumpf, wie aus verschloßnen Grüften

Einst unsre Leiber neu hervor,

Sie baut ihr Haus von Stroh und fetter Erde,[324]

Und schwitzert froh dem Menschen vor,

Daß er auch wieder leben werde!


Hoch in der Wolken lauschend Ohr

Singt mit nie heisch gewordner Kehle

Das aufgeschwungne Lerchenchor.


O daß der Jäger sie verfehle!

O daß der Habicht, ihr Tyrann,

Der Räuber in dem Vogelreiche,

Nicht eine hasche! daß die Lerch ihm klug entweiche,

Wie vor dem Laster weicht, ein Christ, ein weiser Mann!

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 322-325.
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